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IV. Das Konzept der Wettbewerbsfreiheit
1. Grundzüge des Konzeptes
Die Thesen Kantzenbachs zum funktionsfähigen Wettbewerb lösten in Deutschland
eine heftige wettbewerbspolitische Kontroverse aus. Hauptkritiker war Erich Hoppmann, der für ein Konzept der Wettbewerbsfreiheit eintrat. Er griff insbesondere
Kantzenbachs Ansatz an, demzufolge Wettbewerbsfreiheit kein Ziel an sich,
sondern lediglich ein Mittel zur Erreichung ökonomischer Zielfunktionen
darstellt204. Dem Konzept der Wettbewerbsfreiheit zufolge ist Wettbewerbsfreiheit
hingegen einer der zwei Zielkomplexe, deren Erfüllung durch Wettbewerbspolitik
angestrebt wird. Als weiterer Zielkomplex wird „ökonomische Vorteilhaftigkeit“
angesehen205.
Das systemtheoretische Konzept der Wettbewerbsfreiheit, auch als Neuklassik
bezeichnet206, hat seine Wurzeln bei Adam Smith. Es wurde durch die
Österreichische Schule des Wettbewerbs (Ludwig von Mises; Friedrich A. von
Hayek) begründet und in Deutschland vor allem durch Hoppmann weiterentwickelt.
Dem Konzept liegt die Auffassung zugrunde, dass es sich bei Marktprozessen um
komplexe Vorgänge handelt, die sich nicht auf einfache Gesetze reduzieren lassen.
Deshalb wird die Normativierung „optimaler Marktstrukturen“ (wie z.B. durch
Kantzenbach hinsichtlich des weiten Oligopols) abgelehnt. Aufgrund der
Komplexität des Marktes lassen sich zudem keine konkreten Voraussagen über das
Ergebnis einzelner wettbewerblicher Vorgänge treffen. Lediglich allgemeine
„Muster-Voraussagen“ über die Eigenschaften des Wettbewerbssystems bzw. über
typische Prozesse und Ergebnisse sind möglich207. Eine derartige Muster-
Voraussage ist z.B., dass Wettbewerb zu wechselseitigen individuellen Vorteilen
und zu ökonomischer Vorteilhaftigkeit führt208.
Die Unmöglichkeit, konkrete Einzelvoraussagen zu treffen, ergibt sich auch
daraus, dass Wettbewerb, im Sinne v. Hayeks, ein Entdeckungsverfahren darstellt. V.
Hayek versteht Wettbewerb als eine spontane Ordnung209 sowie als ein Verfahren
zur Entdeckung von Tatsachen, „die ohne sein Bestehen entweder unbekannt
204 Vgl. dazu Mestmäcker, Europäisches Wettbewerbsrecht (1. Aufl.), S. 175;
Kantzenbach/Kallfass, in: Cox/Jens/Markert (Hrsg.), Handbuch, 103, 110.
205 Hoppmann, in: Schneider (Hrsg.), Wettbewerbspolitik, 9, 14 f.; Clapham, in:
Cox/Jens/Markert (Hrsg.), Handbuch, 129, 132.
206 – nicht zu verwechseln mit der neoklassischen Preistheorie, die etwa den Thesen der
Chicago-Schule zugrunde liegt (s.o. 1. Kap. B. II. 1.); vgl. Clapham, in: Cox/Jens/Markert
(Hrsg.), Handbuch, 129, 136 –
207 Vgl. Hoppmann, in: ders./Mestmäcker, Normenzwecke und Systemfunktionen, 5, 7; v.
Hayek, Die Theorie komplexer Phänomene, S. 25-29, insbesondere S. 27; Clapham, in:
Cox/Jens/Markert (Hrsg.), Handbuch, 129, 131 f., 145 f. Fn. 6; I. Schmidt,
Wettbewerbspolitik, S. 14, 25.
208 Möschel, Wettbewerbsbeschränkungen, Rn 67.
209 Vgl. dazu die grundsätzlichen Überlegungen bei v. Hayek, ORDO Bd. 14, 3 ff.
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bleiben oder doch zumindest nicht genutzt werden würden“210. Für ihn ist
Wettbewerb nur deshalb wichtig, da seine Ergebnisse unvoraussagbar sind211.
Das zentrale Anliegen der Wettbewerbspolitik zur Sicherung des derart
verstandenen Wettbewerbs ist, Wettbewerbsfreiheit zu ermöglichen. Der
Zielkomplex der Wettbewerbsfreiheit beinhaltet dabei sowohl Handlungsfreiheit als
auch Entschließungsfreiheit der Wirtschaftssubjekte. Im Vertikalverhältnis, das
Hoppmann als „Austauschprozess“ bezeichnet, ist die Freiheit der jeweiligen
Marktgegenseite zu schützen, unter mehreren Alternativen wählen und Güter
substituieren zu können212. Im Horizontalverhältnis (dem „Parallelprozess“) besteht
die Wettbewerbsfreiheit einerseits in der Freiheit zur Initiative und zum Vorstoß in
technisches und ökonomisches Neuland durch Pionierunternehmen, andererseits in
der Freiheit zur Verfolgung und Imitation durch andere Akteure213. Die derart
verstandene Wettbewerbsfreiheit wird durch einen indirekten Ansatz gesichert,
indem negativ definiert wird, wann eine unangemessene, verbotene
Wettbewerbsbeschränkung vorliegt214.
Den zweiten großen Zielkomplex der Wettbewerbspolitik neben der
Wettbewerbsfreiheit stellt die ökonomische Vorteilhaftigkeit dar. Diese ist ein
Sammelbegriff, der Wachstum, technischen Fortschritt, Allokationseffizienz und
andere Elemente beinhaltet215. Zwischen den Zielkomplexen Wettbewerbsfreiheit
und ökonomische Vorteilhaftigkeit können keine Konflikte auftreten. Denn
Wettbewerbsfreiheit ermöglicht (sofern die Akteure mit „Wettbewerbsgeist“
handeln) Marktvorgänge, die jedem Marktteilnehmer individuelle ökonomische
Vorteile bringen (so genannte Non-Dilemma-These)216.
In wettbewerbspolitischer Hinsicht treten die Anhänger des Konzepts der Wettbewerbsfreiheit dafür ein, unangemessene künstliche Wettbewerbsbeschränkungen zu
verhindern217. Als kartellrechtliche Normen werden allgemein-abstrakte, universal
anwendbare per-se-Verbote postuliert. Diskretionäre Entscheidungsspielräume für
Behörden, wie sie z.B. bei einer Rule of Reason218 bestünden, werden abgelehnt219.
210 v. Hayek, Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, S. 3.
211 v. Hayek, Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, S. 3.
212 Hoppmann, in: Schneider (Hrsg.), Wettbewerbspolitik, 9,40; Clapham, in: Cox/Jens/Markert
(Hrsg.), Handbuch, 129, 132 f.; s. auch Kaminski, Handelsblatt vom 04.06.2004, S. k05.
213 Clapham, in: Cox/Jens/Markert (Hrsg.), Handbuch, 129, 133; Hoppmann, in: Schneider
(Hrsg.), Wettbewerbspolitik, 9, 41 f.
214 Hoppmann ,in: Schneider (Hrsg.), Wettbewerbspolitik, 9, 31; I. Schmidt, Wettbewerbspolitik,
S. 17; Clapham, in: Cox/Jens/Markert (Hrsg.), Handbuch, 129, 137.
215 Vgl. Clapham, in: Cox/Jens/Markert (Hrsg.), Handbuch, 129, 134.
216 Schmidtchen, ORDO Bd. 39, 111, 112; Hoppmann, in: Schneider (Hrsg.),
Wettbewerbspolitik, 9, 21; Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 108, 110; Clapham, in:
Cox/Jens/Markert (Hrsg.), Handbuch, 129, 136; Mestmäcker, Europäisches Wettbewerbsrecht
(1. Aufl.), S. 175.
217 I. Schmidt, Wettbewerbspolitik, S. 16; Clapham, in: Cox/Jens/Markert (Hrsg.), Handbuch,
129, 138.
218 Bei Anwendung einer Rule of Reason hat die Kartellbehörde wettbewerbsschädliche und
wettbewerbsfördernde Wirkungen einer Absprache gegeneinander abzuwägen; s. hierzu
ausführlich u. 4. Kap. C. I.
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Dabei sollen nicht nur private, sondern auch staatlich verursachte willkürliche Wettbewerbsbeschränkungen verhindert werden; das Konzept der Wettbewerbsfreiheit ist
folglich Ausdruck der Rule of Law220.
2. Die Bewertung vertikalen Unternehmensverhaltens
Wie bereits dargelegt, hat Wettbewerbsfreiheit auch eine vertikale Dimension, den
„Austauschprozess“, hinsichtlich dessen die Freiheit der jeweiligen Marktgegenseite
zur Substitution eines Gutes geschützt werden muss221. Vertikalvereinbarungen können unangemessene künstliche Beschränkungen des Wettbewerbs im
Austauschprozess darstellen bzw. zu ebensolchen führen. Sie werden in diesen Fällen im Konzept der Wettbewerbsfreiheit negativ bewertet.
Um zu ermitteln, ob im Vertikalverhältnis bzw. Austauschprozess eine Wettbewerbsbeschränkung vorliegt, werden die Substituierbarkeiten geprüft, d.h. es wird
beispielsweise getestet, inwieweit Produkte auf einem Markt austauschbar sind. Bei
mangelhafter Substituierbarkeit von Gütern ist der Wettbewerb auf dem
betreffenden Markt beschränkt222.
Künstliche, unerlaubte Wettbewerbsbeschränkungen sind z.B. vertikale Ausschließlichkeitsbindungen, die Dritten einen wesentlichen Marktanteil verschlie-
ßen223. Skeptisch beurteilt werden auch Vertriebsverträge, die faktisch zu einer vertikalen Integration von Unternehmen führen, sofern derartige Vertriebsbindungen auf
einem Markt gehäuft vorkommen. Denn dieser Umstand hat zur Folge, dass der freie
Wettbewerb als polyzentrisches System auf dem betreffenden Markt beeinträchtigt
ist224.
In einer frühen Monographie hat Hoppmann zudem die vertikale Preisbindung
kritisch beurteilt. Insbesondere in Verbindung mit Alleinvertriebsverträgen führe die
vertikale Preisbindung zu Kostenüberhöhungen im Handel und hemme den technisch-organisatorischen Fortschritt; die wirtschaftliche Entwicklung des Handels
werde verlangsamt225.
219 Vgl. Hoppmann, in: ders./Mestmäcker, Normenzwecke und Systemfunktionen, 5, 14; s. auch
v. Hayek, Die Verfassung der Freiheit, S. 274 f.
220 Schmidtchen, ORDO Bd. 39, 111, 113.
221 Hoppmann, in: Schneider (Hrsg.), Wettbewerbspolitik, 9, 40.
222 Clapham, in: Cox/Jens/Markert (Hrsg.), Handbuch, 129, 140.
223 I. Schmidt, Wettbewerbspolitik, S. 16.
224 Vgl. Kirchhoff, Vertikale Vertriebsverträge, S. 344.
225 Hoppmann, Vertikale Preisbindung und Handel, S. 61, 63 f.
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V. Die Freiburger Schule des Ordoliberalismus
1. Vorbemerkung
Ebenso wie das Konzept der Wettbewerbsfreiheit knüpft auch die ordoliberalistische
Wettbewerbstheorie an den klassischen Liberalismus (Adam Smith u.a.) an. Hinzu
kommt, dass die wettbewerbstheoretischen Leitbilder des Konzeptes der
Wettbewerbsfreiheit und des Ordoliberalismus einen Entwicklungsprozess widerspiegeln, in welchem es zu Überschneidungen kam. Sie lassen sich daher nicht
scharf voneinander trennen226. Die ordoliberalistische Wettbewerbstheorie ist aus
diesem Grunde zunächst darzustellen und anschließend gemeinsam mit dem
Konzept der Wettbewerbsfreiheit zu würdigen (s.u. 5.).
2. Grundzüge des Konzeptes
Die Freiburger Schule des Ordoliberalismus geht auf Franz Böhm und Walter Eucken zurück227. Sie stellt den Schutz der wirtschaftlichen Freiheit in den Mittelpunkt
ihres wettbewerbstheoretischen Denkens228. Wettbewerbstheoretisches Modell
insbesondere Euckens ist dabei das Modell der vollständigen Konkurrenz. Dieses ist
mit dem überkommenen Modell der vollkommenen Konkurrenz nicht identisch.
Denn wenn vollständige Konkurrenz herrscht, beeinflussen sich die Unternehmer,
durch Anpassung ihres Angebots bzw. ihrer Nachfrage bei Marktveränderungen,
objektiv gegenseitig in ihrem Markterfolg. Im Falle der (nur in der Theorie
existenten) vollkommenen Konkurrenz hingegen beeinflussen sich die Unternehmer
untereinander nicht. Subjektiv wird die gegenseitige Beeinflussung von den
Unternehmern bei vollständiger Konkurrenz jedoch nicht wahrgenommen. Denn
diese gehen davon aus, dass sie, aufgrund der Größe des Marktes und der
Geringfügigkeit jedes einzelnen Angebots bzw. jeder einzelnen Nachfrage, durch ihr
Verhalten den Preis nicht beeinflussen können. Daher betreibt kein Unternehmer
eine Marktstrategie229.
Ein derart charakterisierter Wettbewerb lässt sich, anstelle des Terminus vollständige Konkurrenz, auch als Polypol bzw. polypolistische Konkurrenz bezeichnen230.
226 Eickhof, Vortrag beim FIW in Köln am 12.10.2005.
227 Weitere wichtige Vertreter sind z.B. Leonhard Miksch und aus neuerer Zeit Ernst-Joachim
Mestmäcker.
228 Möschel, in: FS Pfeiffer, 707, 712; Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 111; Kilian,
Europäisches Wirtschaftsrecht, Rn 410; Kainer, in: Stumpf/Kainer (Hrsg.),
Gemeinschaftsrecht als Gestaltungsaufgabe, 59, 67.
229 Eucken, Nationalökonomie, S. 96; ders., Wirtschaftspolitik, S. 247; Fikentscher,
Wirtschaftsrecht, Bd. II, S. 188-190; vgl. auch Möschel, in: FS Pfeiffer, 707, 713 Fn. 16.
230 Sandrock, Grundbegriffe des GWB, v.a. S. 90 Fn. 55, vgl. aber auch S. 26, 339 f.;
Fikentscher, Wirtschaftsrecht, Bd. II, S. 190; Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 111.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Unter welchen rechtlichen Voraussetzungen fällt scheinbar einseitiges Handeln eines Unternehmens, das den Wettbewerb beschränkt (z. B. Maßnahmen eines Herstellers gegen Parallelimporte), noch unter das Kartellverbot des Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag? Die Antwort auf diese Frage klärt die Weite des Anwendungsbereichs des Kartellverbots und betrifft damit die Grundlagen des Kartellrechts.
Hierzu entwickelt der Autor rechtliche Kriterien für die praxisrelevante und oft schwierige Abgrenzung zwischen einseitigen Maßnahmen im Vertikalverhältnis einerseits und den Handlungsformen des Kartellverbots (Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen) andererseits. Zu dieser Thematik ist eine Reihe von Entscheidungen der Europäischen Kommission und des EuGH ergangen, die vom Autor aufgearbeitet und kritisch hinterfragt werden.
Die Arbeit macht zudem deutlich, unter welchen Voraussetzungen insbesondere in laufenden Geschäftsverbindungen zwischen Unternehmen wettbewerbswidrige Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen zustande kommen, die gegen das Kartellverbot verstoßen. Dabei finden die rechtlichen Besonderheiten selektiver Vertriebssysteme besondere Berücksichtigung.