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lediglich wirtschaftlich, moralisch oder faktisch gebunden fühlen, bei Vorhandensein eines Umsetzungsverhaltens unter das Tatbestandsmerkmal „aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen“141.
IV. Ergebnis
Aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen im Sinne des Art. 81 I EG/§ 1 GWB
stellen ein zweigliedriges Tatbestandsmerkmal dar; sie erfordern neben einer Verhaltensabstimmung zwischen Unternehmen auch deren zumindest teilweise
Umsetzung durch ein marktrelevantes Verhalten.
Die Verhaltensabstimmung setzt die gegenseitige Kontaktnahme zwischen Unternehmen voraus. Bei einer Abstimmung nur durch Marktverhalten, ohne dass es
zwischen den Unternehmen zu Kontakten kommt, liegen folglich keine aufeinander
abgestimmten Verhaltensweisen vor.
Die Frage nach der Abgrenzung von Vereinbarungen zu aufeinander
abgestimmten Verhaltensweisen besitzt theoretische und praktische Relevanz. Die
Grenzlinie zwischen beiden Koordinierungstatbeständen verläuft beim
Rechtsbindungswillen, der für das Vorliegen einer Vereinbarung erforderlich ist.
B. Die wettbewerbstheoretische Bewertung vertikalen Unternehmensverhaltens
I. Einführung
Eine der Ausgangsfragen dieser Untersuchung ist, inwieweit das Kartellverbot des
Art. 81 I EG auf scheinbar einseitige wettbewerbswidrige Maßnahmen im Vertikalverhältnis Anwendung findet. Die Antwort auf diese Frage hängt entscheidend
davon ab, ob die Koordinierungstatbestände Vereinbarung bzw. aufeinander
abgestimmte Verhaltensweisen eng oder weit auszulegen sind. In diesem
141 Letzteres bedeutet, dass gentlemen’s agreements im Falle ihrer zumindest begonnenen
Umsetzung dem Koordinierungstatbestand aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen
unterfallen. – Gentlemen’s agreements spielen für die vorliegende Untersuchung indessen
kaum eine Rolle. Denn zum einen handelt es sich bei ihnen um zweiseitige Maßnahmen. Zum
anderen haben sie keine Bedeutung für die später vorzunehmende Abgrenzung einseitiger
Maßnahmen von aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen (s.u. 3. Kap.). Denn
aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen kommen bereits unterhalb der Schwelle der
gentlemen’s agreements zustande, da sie auch bei unverbindlichen
Verhaltenskoordinierungen vorliegen können (s.o. 1. Kap. A. II. 1.) und somit keine
wirtschaftliche, moralische oder faktische Verbindlichkeit voraussetzen. Daraus aber folgt,
dass es für die Abgrenzung einseitiger Maßnahmen von aufeinander abgestimmten
Verhaltensweisen nicht darauf ankommen wird, ob gerade die Unterform der gentlemen’s
agreements vorliegt oder aber sonstige aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen.
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References
Zusammenfassung
Unter welchen rechtlichen Voraussetzungen fällt scheinbar einseitiges Handeln eines Unternehmens, das den Wettbewerb beschränkt (z. B. Maßnahmen eines Herstellers gegen Parallelimporte), noch unter das Kartellverbot des Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag? Die Antwort auf diese Frage klärt die Weite des Anwendungsbereichs des Kartellverbots und betrifft damit die Grundlagen des Kartellrechts.
Hierzu entwickelt der Autor rechtliche Kriterien für die praxisrelevante und oft schwierige Abgrenzung zwischen einseitigen Maßnahmen im Vertikalverhältnis einerseits und den Handlungsformen des Kartellverbots (Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen) andererseits. Zu dieser Thematik ist eine Reihe von Entscheidungen der Europäischen Kommission und des EuGH ergangen, die vom Autor aufgearbeitet und kritisch hinterfragt werden.
Die Arbeit macht zudem deutlich, unter welchen Voraussetzungen insbesondere in laufenden Geschäftsverbindungen zwischen Unternehmen wettbewerbswidrige Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen zustande kommen, die gegen das Kartellverbot verstoßen. Dabei finden die rechtlichen Besonderheiten selektiver Vertriebssysteme besondere Berücksichtigung.