21
Bejahung des Tatbestandsmerkmals ausreichend, wenn die Wettbewerbsbeschränkung oder das Ziel der Wettbewerbsbeschränkung und der durch sie zu bewirkende
Erfolg einem gemeinsamen Interesse entsprachen und gemeinsam angestrebt wurden18. Zudem wurde das Vorliegen gleichgerichteter Interessen von vielen
Literaturstimmen nur bei Kartellverträgen zwischen aktuellen oder potenziellen
Wettbewerbern bejaht. Folglich war § 1 GWB a. F. lediglich bei horizontalen Kartellverträgen einschlägig19.
Erst im Zuge der 6. GWB-Novelle im Jahre 1998 wurde § 1 GWB als echter Verbotstatbestand ausgestaltet und die Handlungsform des Vertrages zu einem
gemeinsamen Zweck durch das Tatbestandsmerkmal Vereinbarung ersetzt. Intention
des Reformgesetzgebers der 6. GWB-Novelle war dabei, das deutsche Kartellrecht
an das europäische anzugleichen20. Vorausgegangen war eine Diskussion in der
Literatur über die Angleichung der mitgliedsstaatlichen Vorschriften. Gegen eine
Angleichung sprach, dass die binnenmarkterheblichen kartellrechtlichen Sachverhalte ohnehin den ausgereiften und unmittelbar anwendbaren Regeln des
Gemeinschaftskartellrechts unterfielen, so dass eine Angleichung nicht dringlich
erschien21. Der Reformgesetzgeber war jedoch der Ansicht, die europäische Rechtslage bringe das Unwerturteil bezüglich wettbewerbsbeschränkender
Verhaltensweisen deutlicher zum Ausdruck als die deutsche Rechtslage22. Daher
erfolgte mit der 6. GWB-Novelle eine teilweise und mit der 7. GWB-Novelle im
Jahre 2005 schließlich eine vollständige Angleichung des § 1 GWB an Art. 81 I EG.
II. Aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen
1. Allgemeines
Die Rechtsfigur der aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen stammt ursprünglich aus Sec. 1 Sherman Act des amerikanischen Antitrust-Rechts (dort
18 BGH v. 14.10.1976, Fertigbeton, KZR 36/75, BGHZ 68, 6, 10; Müller-Graff,
Langzeitverträge, S. 11.
19 Müller-Graff, Wettbewerbsregeln, S. 10; ders., DVBl. 1986, 1121, 1121; ders.,
Langzeitverträge, S. 11; Schwarz, Kartellvertrag, S. 175; vgl. auch, bei teilweise
abweichender Gesamtkonzeption, K. Schmidt, Kartellverbot und „sonstige
Wettbewerbsbeschränkungen“, S. 59 f.
20 Regierungsentwurf eines sechsten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen
Wettbewerbsbeschränkungen, Begründung I. 3. a) aa), abgedruckt in: Baron, Das neue
Kartellgesetz, S. 121.
21 Müller-Graff, in: ders. (Hrsg.), Gemeinsames Privatrecht, 9, 43; ders., in: Horn/Baur/Stern
(Hrsg.), 40 Jahre Römische Verträge, 107, 126 f.
22 Regierungsentwurf eines sechsten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen
Wettbewerbsbeschränkungen, Begründung I. 3. a) aa), abgedruckt in: Baron, Das neue
Kartellgesetz, S. 121.
22
concerted actions) und fand über das französische Kartellrecht Eingang in den
EGKS-Vertrag und schließlich in Art. 81 I EG23, 24.
Aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen liegen nach dem überzeugenden
Begriffsverständnis der ständigen Rechtsprechung des EuGH und der
Kommissionspraxis in jeder Form der Koordinierung, die zwar nicht bis zum Abschluss eines Vertrags im eigentlichen Sinne gediehen ist, die aber bewusst eine
praktische Zusammenarbeit an die Stelle des mit Risiken verbundenen Wettbewerbs
treten lässt und zu Wettbewerbsbedingungen führt, die nicht den normalen Marktbedingungen entsprechen25. Die beiden entscheidenden Elemente sind demnach zum
einen die Koordinierung zwischen Unternehmen („aufeinander abgestimmte“), zum
anderen ein tatsächliches Verhalten im Sinne einer praktischen Zusammenarbeit
(„Verhaltensweisen“)26. Der Koordinierungstatbestand aufeinander abgestimmte
Verhaltensweisen weist mithin eine zweigliedrige Struktur auf. Ob das zweite
Element des tatsächlichen Verhaltens stets zwingend vorliegen muss, damit der
Koordinierungstatbestand erfüllt ist, wird indes noch zu untersuchen sein27.
Häufig verzichten die beteiligten Unternehmen von vornherein auf jedwede wirtschaftliche, moralische oder gar rechtliche Verbindlichkeit ihrer Koordinierung;
vielmehr behalten sie sich die Erfüllung des Vereinbarten vor28. In Fällen, in denen
der Nachweis einer rechtsverbindlichen Vereinbarung nicht gelingt, können aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen daher als Auffangtatbestand einschlägig sein29.
23 Vgl. Schröter, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 2, Art. 81 Rn 69; E.
Diekmann, Abgestimmte Verhaltensweisen, S. 29 f.; Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker,
Wettbewerbsrecht, EG/Teil 1, Art. 81 Abs. 1 Rn 95; Roth/Ackermann, in: Frankfurter
Kommentar, Bd. II, Grundfragen Art. 81 Abs. 1 Rn 112; instruktiv dazu auch Belke, ZHR
139 (1975), 51, 61 Fn. 30.
24 Nicht verschwiegen werden soll, dass sich der Terminus „abgestimmtes Verhalten“ nicht
ausschließlich im Kartellrecht, sondern auch in anderen Rechtsgebieten wieder findet; s. im
deutschen Kapitalmarktrecht etwa § 30 II S. 1 WpÜG (dazu z.B. Diekmann, in:
Baums/Thoma (Hrsg.), WpÜG, § 30 Rn 67 ff.) sowie § 22 II S. 1 WpHG. Im Folgenden sind
die Begriffe „aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen“, „abgestimmte Verhaltensweisen“
sowie „abgestimmtes Verhalten“ rein kartellrechtlich zu verstehen.
25 EuGH v. 14.07.1972, ICI, Rs. 48/69, Slg. 1972, 619, Rn 64; EuGH v. 16.12.1975, Suiker
Unie, Rs. 40-48, 50, 54-56, 111, 113 u. 114/73, Slg. 1975, 1663, Rn 26; EuGH v. 31.03.1993,
Zellstoff, Rs. C-89, 104, 114, 116 f., 125-129/85, Slg. 1993, I-1307, Rn 63; Belke, ZHR 139
(1975), 51, 58; Daig, EuR 1976, 213, 223 f.; Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker,
Wettbewerbsrecht, EG/Teil 1, Art. 81 Abs. 1 Rn 108; Zimmer, in: Immenga/Mestmäcker,
Wettbewerbsrecht, GWB, § 1 Rn 93; Roth/Ackermann, in: Frankfurter Kommentar, Bd. II,
Grundfragen Art. 81 Abs. 1 Rn 114; Bunte, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 2, Art. 81
Gen. Prinz. Rn 28; Schweitzer/Hummer/Obwexer, Europarecht, Rn 1719.
26 Bunte, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 2, Art. 81 Gen. Prinz. Rn 28.
27 S.u. 1. Kap. A. II. 3.
28 Sandrock, Grundbegriffe des GWB, S. 250 f.; Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker,
Wettbewerbsrecht, EG/Teil 1, Art. 81 Abs. 1 Rn 103.
29 Müller-Graff, in: Handkom. EUV/EGV, Art. 85 Rn 50; Gleiss/Hirsch, Kartellrecht, Bd. 1,
Art. 85 Rn 90; Zimmer, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, GWB, § 1 Rn 93;
Bunte, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 2, Art. 81 Gen. Prinz. Rn 28; Emmerich, in:
Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, EG/Teil 1, Art. 81 Abs. 1 Rn 99; Schwarze,
23
Die beiden Kriterien der Koordinierung zwischen Unternehmen und der praktischen Zusammenarbeit sind im Sinne der Grundidee des Gemeinschaftskartellrechts
zu verstehen, derzufolge jeder Unternehmer selbständig zu bestimmen hat, welche
Politik er im Binnenmarkt zu betreiben gedenkt30. Der EuGH spricht also in ständiger Rechtsprechung ein Selbständigkeitspostulat aus. Dieses steht jeder
unmittelbaren oder mittelbaren Fühlungnahme zwischen Unternehmen entgegen, die
bezweckt oder bewirkt, entweder das Marktverhalten eines gegenwärtigen oder potenziellen Mitbewerbers zu beeinflussen oder einen solchen Mitbewerber über das
Marktverhalten ins Bild zu setzen, das man selbst durchzuführen beabsichtigt31.
Hinsichtlich des ersten Elementes, der Koordinierung zwischen mindestens zwei
Unternehmen, ist festzuhalten, dass diese mittels eines als Abstimmungsangebot und
eines als Abstimmungsannahme zu deutenden Verhaltens erfolgt. Ein oder mehrere
die abgestimmten Verhaltensweisen initiierende Unternehmen machen ein Abstimmungsangebot; die Annahme liegt im „Nachziehen“ durch ein oder mehrere
Unternehmen32. Die Begriffe Angebot und Annahme sind hier jedoch nicht im Sinne
des Vertragsrechts zu verstehen. Aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen zeichnen sich vielmehr dadurch aus, dass sie gerade keine Willenserklärungen
voraussetzen, wie sie für einen wettbewerbsbeschränkenden Vertrag erforderlich
wären. Bereits im „Teerfarben-Fall“, der für die Behandlung abgestimmter Verhaltensweisen in Deutschland entscheidend war33, grenzte der BGH aufeinander
abgestimmte Verhaltensweisen von Kartellverträgen ab, da bei Ersteren keine Einigung im Sinne der §§ 145 ff. BGB vorläge34.
Ein typisches Mittel, um abgestimmte Verhaltensweisen herbeizuführen, ist der
Informationsaustausch zwischen Unternehmen. Dadurch wird die Unsicherheit über
die Reaktion anderer Unternehmen auf eigene Maßnahmen im Wettbewerb beseitigt;
der gegenseitige Informationsaustausch zwischen Unternehmen wird daher von
manchen als das wichtigste und wirksamste Mittel der Verhaltensabstimmung
bezeichnet35.
Europäisches Wirtschaftsrecht, Rn 164; Creifelds, Stichwort „abgestimmte
Verhaltensweisen“.
30 EuGH v. 16.12.1975, Suiker Unie, Rs. 40-48, 50, 54-56, 111, 113 u. 114/73, Slg. 1975, 1663
Rn 173 f.; EuGH v. 28.05.1998, Deere/Kommission, Rs. C-7/95 P, Slg. 1998, I-3138, Rn 86;
Bunte, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 2, Art. 81 Gen. Prinz. Rn 29.
31 EuGH v. 16.12.1975, Suiker Unie, Rs. 40-48, 50, 54-56, 111, 113 u. 114/73, Slg. 1975, 1663
Rn 173 f.; Schröter, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 2, Art. 81 Rn 71;
Zimmer, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, GWB, § 1 Rn 93; Bunte, in:
Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 2, Art. 81 Gen. Prinz. Rn 29.
32 W.-H. Roth, in: Frankfurter Kommentar, Voraufl., § 25 a. F. Rn 29, 36; Zimmer, in:
Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, GWB, § 1 Rn 95 f.; vgl. auch, z. T. abweichend,
Wagner-von Papp, Marktinformationsverfahren, S. 378 f.
33 - hierzu sogleich näher im 1. Kap. A II. 2. -
34 BGH v. 17.12.1970, Teerfarben, KRB 1/70, WuW/E BGH 1147, 1153; s. dazu W.-H. Roth,
in: Frankfurter Kommentar, Voraufl., § 25 a.F. Rn 7.
35 So Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, EG/Teil 1, Art. 81 Abs. 1
Rn 106, 117; Grill, in: Lenz/Borchardt, EU- und EGV, Art. 81 Rn 6.
24
Als Beispiel für einen derartigen Informationsaustausch seien Marktinformationsverfahren angesprochen. Diese entstehen durch ein regelmäßig bei einem Verband
installiertes, privatautonom eingegangenes Zusammenwirken von Unternehmen zum
Austausch marktrelevanter Daten36. Insbesondere wenn dabei wettbewerbssensible
Daten ausgetauscht werden und sich die beteiligten Unternehmen danach gleichförmig verhalten, ist der Schluss auf das Vorliegen einer abgestimmten
Verhaltensweise zulässig37. Zum Beispiel bezwecken Marktinformationsverfahren,
durch die Investitionsvorhaben ex ante an Konkurrenten gemeldet werden, deren
rechtzeitige Kenntnis über die voraussichtliche Kapazitätsentwicklung bei dem
meldenden Unternehmen. Derartige Marktinformationsverfahren begünstigen
folglich ein abgestimmtes Investitionsverhalten und können somit zu aufeinander
abgestimmten Verhaltensweisen führen. Auch hinsichtlich von ex post-
Meldeverfahren ist nicht von vornherein auszuschließen, dass sie abgestimmte
Verhaltensweisen nach sich ziehen38.
Bezüglich des zweiten Elementes aufeinander abgestimmter Verhaltensweisen, des
tatsächlichen Verhaltens im Sinne einer praktischen Zusammenarbeit zwischen Unternehmen, ist fraglich, ob aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen auch dann
vorliegen, wenn ebendieses Element fehlt. Diese Frage wird in Bälde beantwortet
werden39; zuvor jedoch lohnt ein Blick speziell auf das deutsche Kartellrecht.
2. Aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen im deutschen Kartellrecht
Das deutsche Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen enthielt zunächst kein
Verbot aufeinander abgestimmter Verhaltensweisen. Diese konnten lediglich unter
gewissen Voraussetzungen gemäß § 38 II S. 2 GWB a. F. als gegenseitige Empfehlung, die eine Umgehung des § 1 GWB durch gleichförmiges Verhalten bewirkt,
verboten sein40. § 1 GWB hingegen setzte einen Vertrag zu einem gemeinsamen
Zweck voraus41. Der BGH legte dieses Tatbestandsmerkmal im Teerfarben-Beschluss im Sinne des zivilrechtlichen Vertragsbegriffs aus und verlangte eine
Einigung durch Angebot und Annahme im Sinne der §§ 145 ff. BGB. Aufgrund von
36 Vgl. Müller-Graff, Langzeitverträge, S. 29; Tugendreich, Marktinformationsverfahren, S. 18;
Möschel, Wettbewerbsbeschränkungen, Rn 190.
37 Vgl. Wagner-von Papp, Marktinformationsverfahren, S. 375, dort jedoch allgemein bezogen
auf den Austausch wettbewerbssensibler Daten, unabhängig vom Vorhandensein eines
Marktinformationsverfahrens; s. dazu auch Bechtold, ZWeR 2005, 207, 209; a.A. für den
Fall, dass lediglich Kontakte zwischen Unternehmen, nicht aber der Austausch
wettbewerbssensibler Daten nachgewiesen ist, jedoch Bechtold, GWB, § 1 Rn 18.
38 Müller-Graff, Unternehmensinvestitionen und Investitionssteuerung, S. 384 f.
39 S.u. 1. Kap. A. II. 3.
40 Sandrock, Grundbegriffe des GWB, S. 263-265; vgl. Gemeinschaftskommentar, Nachtrag
1966, S. 30.
41 – bzw. einen Beschluss einer Unternehmensvereinigung.
25
Wortlaut und Entstehungsgeschichte des § 1 GWB, der Gesetzessystematik des
GWB sowie des auf Art. 103 II GG fußenden Analogieverbotes lehnte er es ab, aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen unter § 1 GWB fallen zu lassen42. Damit
wurde der Teerfarben-Beschluss zur Initialzündung für die Aufnahme eines
Verbotes aufeinander abgestimmter Verhaltensweisen in § 25 I GWB a. F.43, welche
durch die 2. GWB-Novelle44 im Jahre 1973 erfolgte.
Infolgedessen waren aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen nunmehr verboten; die Systematik des GWB wurde gleichwohl zu Recht kritisiert. Denn § 1 GWB
a. F. statuierte weiterhin lediglich die Unwirksamkeit von Kartellverträgen; das eigentliche Kartellverbot ergab sich erst im Zusammenspiel mit dem
Ordnungswidrigkeits-Tatbestand des § 38 I Nr. 1 GWB a. F. Das deutsche Kartellverbot knüpfte somit an den Kartellvertrag an und war daher vom Vorliegen eines
Kartellvertrages abhängig. Anstatt einen vertragsunabhängigen Verbotstatbestand zu
formulieren, war mit der 2. GWB-Novelle das Verbot abgestimmter Verhaltensweisen in § 25 I GWB a. F. einfach neben die unverändert gebliebenen §§ 1, 38 I Nr. 1
GWB a. F. gestellt worden. Insbesondere Karsten Schmidt kritisierte dies als inkonsequent und rechtspolitisch verfehlt45.
Die verunglückte Systematik des GWB wurde erst mit der 6. GWB-Novelle46 im
Jahre 1998 korrigiert. Der Gesetzgeber beseitigte die bestehende Abstufung zwischen Vertragsunwirksamkeit als Rechtsfolge des § 1 GWB a. F. und
Ordnungswidrigkeit aufgrund eines Hinwegsetzens über die Vertragsunwirksamkeit
gemäß § 38 I Nr. 1 i.V.m. § 1 GWB a. F. Stattdessen wurde § 1 GWB nunmehr als
vollwertiger Kartellverbotstatbestand ausgestaltet und nicht mehr als bloße Anordnung zivilrechtlicher Vertragsunwirksamkeit47. Damit war von fortan bereits der
Abschluss von Kartellverträgen verboten und nicht erst das Hinwegsetzen über
deren Unwirksamkeit.
Zugleich wurde das Verbot aufeinander abgestimmter Verhaltensweisen in § 1
GWB integriert. Der Grund hierfür ist jedoch weniger in der durch die
Rechtswissenschaft geäußerten Kritik an der alten Gesetzessystematik zu sehen.
Vielmehr verfolgte der Reformgesetzgeber das Ziel, § 1 GWB an Art. 81 I EG
anzugleichen, da das europäische Kartellverbot für konsequenter erachtet wurde als
42 BGH v. 17.12.1970, Teerfarben, KRB 1/70, WuW/E BGH 1147, 1153; s. auch umfassend
zum Merkmal „zu einem gemeinsamen Zweck“ in § 1 I S. 1 GWB a. F. Schwarz,
Kartellvertrag.
43 W.-H. Roth, in: Frankfurter Kommentar, Voraufl., § 25 GWB a. F. Rn 7; Bülow,
Gleichförmiges Unternehmensverhalten, S. 33; s. auch Zimmer, in: Immenga/Mestmäcker,
GWB (3. Aufl.), § 1 Rn 96; Bechtold, GWB, § 1 Rn 14.
44 Zweites Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen v.
03.08.1973, BGBl. I 1973, 917.
45 S. zu alldem K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht, S. 18 f., 28-34. Dieser kritisiert Wortlaut und
Systematik des damaligen GWB, hält § 25 I GWB a.F. im Ergebnis jedoch für die allgemeine
Kartellverbotsnorm, s. S. 33 f.
46 Sechstes Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen v.
26.08.1998, BGBl. I 1998, 2521.
47 Vgl. Bechtold, GWB, § 1 Rn 14; Zimmer, in: Immenga/Mestmäcker, GWB (3. Aufl.), § 1 Rn
96, 112; W.-H. Roth, in: Frankfurter Kommentar, Bd. IV, § 1 GWB 1999 Rn 92.
26
der bisherige § 1 GWB48. Die Angleichung an das Gemeinschaftskartellrecht bezog
sich jedoch lediglich auf Vereinbarungen, Beschlüsse und abgestimmte
Verhaltensweisen im Horizontalverhältnis. Dies hatte zur Konsequenz, dass vertikal
abgestimmte Verhaltensweisen von nun an nicht mehr verboten waren. Denn
während § 25 GWB a.F. sowohl horizontal als auch vertikal abgestimmtes Verhalten
untersagte49, erfasste § 1 GWB nun ausschließlich abgestimmte Verhaltensweisen
im Horizontalverhältnis50. Die so entstandene Schutzlücke hatte der Gesetzgeber bei
dem Versuch, das GWB teilweise an das Gemeinschaftskartellrecht anzupassen,
wohl nicht bedacht.
Seit der 7. GWB-Novelle51 im Jahre 2005 werden jedoch horizontal und vertikal
bewirkte Wettbewerbsbeschränkungen gleichermaßen von § 1 GWB erfasst. Ziel
dieser Neuregelung ist die nun vollständige Angleichung an das europäische
Recht52. Mit dieser Gesetzesänderung wurde somit auch die Schutzlücke hinsichtlich
aufeinander abgestimmter Verhaltensweisen im Vertikalverhältnis geschlossen.
3. Aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen – ein Erfolgstatbestand?
Aus der zweigliedrigen Struktur des Tatbestandsmerkmals der aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen ergibt sich die Fragestellung, ob diese erst dann
vorliegen, wenn die beteiligten Unternehmen ein bestimmtes, die Abstimmung umsetzendes Marktverhalten an den Tag gelegt haben, oder ob das Tatbestandsmerkmal
bereits dann erfüllt ist, wenn eine Abstimmung bzw. Verhaltenskoordinierung zwischen den Unternehmen erfolgt ist.
Diese Frage ist von praktischer Relevanz in Fällen, in denen lediglich eine gegenseitige Kontaktnahme zwischen Unternehmen erfolgt ist bzw. nachgewiesen werden
kann, ein Marktverhalten jedoch noch nicht vorliegt53. Eine derartige Konstellation
kann auch bei den in dieser Arbeit zu untersuchenden (scheinbar) einseitigen Maß-
48 Regierungsentwurf eines sechsten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen
Wettbewerbsbeschränkungen, Begründung I. 3. a) aa), abgedruckt in: Baron, Das neue
Kartellgesetz, S. 121.
49 S. nur Belke, ZHR 139 (1975), 51, 51.
50 Vgl. Bechtold, NJW 1998, 2769, 2770; ders., GWB, 3. Aufl., § 1 Rn 18; W.-H. Roth, in:
Frankfurter Kommentar, Bd. IV, § 1 GWB 1999 Rn 92; Zimmer, in: Immenga/Mestmäcker,
GWB (3. Aufl.), § 1 Rn 96.
51 Siebtes Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen v.
07.07.2005, BGBl. I 2005, 1954.
52 Begründung des Regierungsentwurfs zur 7. GWB-Novelle, BT-Drucks. 15/3640, S. 23 f.; s.
auch Zurkinden, in: Kronke/Melis/Schnyder, Internationales Wirtschaftsrecht, Teil M.
Rn 112 f.; kritisch zum Wegfall der gesetzlichen Unterscheidung zwischen Horizontal- und
Vertikalbeschränkungen Zimmer, WuW 2005, 715; Immenga, BB 33/2005, I.
53 Vgl. Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, EG/Teil 1, Art. 81 Abs. 1
Rn 114; W.-H. Roth, in: Frankfurter Kommentar, Bd. IV, § 1 GWB 1999 Rn 92; Schröter, in:
von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 2, Art. 81 Rn 77; vgl. auch Bunte, in:
Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 2, Art. 81 Gen. Prinz. Rn 20.
27
nahmen im Vertikalverhältnis gegeben sein. Dieses Problem hat somit auch
Bedeutung für die vorliegende Untersuchung.
Im deutschen Kartellrecht konnte hinsichtlich des früheren § 25 I GWB kaum ein
Zweifel bestehen, dass dieser ein die Abstimmung umsetzendes Marktverhalten voraussetzte54. Hierfür sprachen Wortlaut und Systematik des damaligen GWB; denn
während § 1 GWB a. F. den Abschluss eines wettbewerbsbeschränkenden Vertrages
genügen ließ, forderte § 25 GWB a. F. das Vorliegen eines aufeinander abgestimmten Verhaltens. Mit der 6. GWB-Novelle wurde im Jahre 1998 jedoch das Verbot
abgestimmter Verhaltensweisen in § 1 GWB integriert55. Zugleich erfolgte eine teilweise Angleichung an das Gemeinschaftskartellrecht; seit der 7. GWB-Novelle 2005
ist das deutsche Kartellverbot nun vollständig an Art. 81 I EG angeglichen. Damit
aber stellt sich die Frage, ob aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen ein Umsetzungsverhalten voraussetzen, nun bei § 1 GWB ebenso wie bei Art. 81 I EG56. Es ist
folglich zulässig, diese Streitfrage für deutsches und europäisches Kartellrecht gemeinsam zu diskutieren.
Der ersten denkbaren Lösungsmöglichkeit zufolge reicht bereits die bloße Abstimmung aus, ohne dass ein diese Abstimmung umsetzendes Marktverhalten vorzuliegen braucht. Hierfür spricht, dass das Verbot abgestimmter Verhaltensweisen auf
diese Weise einen weiteren Anwendungsbereich hätte, als wenn man der Gegenansicht folgen würde; die praktische Relevanz bzw. die praktische Durchsetzbarkeit
des Abstimmungsverbotes wäre somit höher57. Dennoch würde die Reichweite des
Kartellverbotes nicht übermäßig ausgedehnt, da zusätzlich das Tatbestandsmerkmal
des Bezweckens oder Bewirkens einer Wettbewerbsbeschränkung einschlägig sein
müsste58.
Zudem lässt sich auch der Wortlaut des Art. 81 I EG bzw. des § 1 GWB dahingehend verstehen, dass bereits die Abstimmung, möglicherweise durch bloße
Kontaktnahme zwischen Unternehmen, ausreicht. Denn das europäische bzw. das
deutsche Kartellverbot lässt das Bezwecken einer Wettbewerbsbeschränkung genügen, ohne dass diese eingetreten sein muss. Daraus könnte man ableiten, dass auch
eine Verhaltensabstimmung, die lediglich eine Wettbewerbsbeschränkung bezweckt,
aber nicht umgesetzt wurde, verboten ist59.
54 Lübbert, Das Verbot abgestimmten Verhaltens, S. 59; Ulmer/Wiedemann, in:
Cox/Jens/Markert (Hrsg.), Handbuch, 271, 276; Belke, ZHR 139 (1975), 51, 56; Zimmer, in:
Immenga/Mestmäcker, GWB (3. Aufl.), § 1 Rn 112. - A.A. jedoch J. Baur, JZ 1978, 586,
591, der die praktische Bedeutung des Abstimmungsverbotes erhöhen möchte und deshalb
kein Umsetzungsverhalten verlangt.
55 S.o. 1. Kap. A. II. 2.
56 W.-H. Roth, in: Frankfurter Kommentar, Bd. IV, § 1 GWB 1999 Rn 92.
57 Vgl. Altvater, Kartellbildung durch Abstimmung?, S. 84-86; J. Baur, JZ 1978, 586, 591.
58 Zimmer, in: Immenga/Mestmäcker, GWB (3. Aufl.), § 1 Rn 112.
59 Altvater, Kartellbildung durch Abstimmung?, S. 89; Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker,
EG-Wettbewerbsrecht, Bd. I (1. Aufl.), Art. 85 Abs. 1 A. Rn 118; Schröter, in: von der
Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 2, Art. 81 Rn 76; ders., in: Schröter/Jakob/Mederer,
Wettbewerbsrecht, Art. 81 Rn 92; Grill, in: Lenz, 2. Aufl., Art. 81 Rn 7 (anders aber ders. ab
28
Aus Art. 81 I EG bzw. § 1 GWB kann zudem im Wege systematischteleologischer Auslegung abgeleitet werden, dass aufeinander abgestimmte
Verhaltensweisen auf einer Stufe mit Vereinbarungen sowie Beschlüssen von
Unternehmensvereinigungen stehen und alle Handlungsformen vom Gesetz bzw.
vom EG-Vertrag somit gleich behandelt werden. Da Vereinbarungen und
Beschlüsse nicht in die Tat umgesetzt werden müssen, um unter das Kartellverbot zu
fallen, hat dies demnach auch für abgestimmte Verhaltensweisen zu gelten60. In
diese Richtung geht auch die auf Art. 81 I EG bezogene Behauptung, die Umsetzung
einer erfolgten Abstimmung habe keine eigenständige Bedeutung, sondern lasse
lediglich Rückschlüsse zu, ob der vorangegangene Kontakt zwischen den beteiligten
Unternehmen tatsächlich verhaltenskoordinierenden Inhalt hatte61.
Auch die Funktion der aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen als Auffangtatbestand kann dafür sprechen, das Tatbestandsmerkmal eher weit auszulegen und
bereits eine noch nicht umgesetzte Verhaltensabstimmung genügen zu lassen62.
In vielen Fällen erscheint es schwierig, das Umsetzungsverhalten einer Abstimmung von der Abstimmung selbst, die in konkreten Handlungen zutage treten kann,
zu unterscheiden. Dies kann dafür sprechen, abgestimmte Verhaltensweisen als eingliedriges Tatbestandsmerkmal aufzufassen und auf das Erfordernis eines separaten
Umsetzungsverhaltens zu verzichten63.
Zudem lässt sich noch eine weitere Behauptung indirekt zur Stützung der
Ansicht, dass die bloße Abstimmung zwischen Unternehmen genügt, anführen: Es
ist dies die Behauptung, dass eine Abstimmung, insbesondere mittels
Informationsaustausch zwischen Unternehmen, zwangsläufig unmittelbar oder
mittelbar zu Verhaltensweisen führt, bei denen die von den Konkurrenten erhaltenen
Angaben berücksichtigt werden64. Dies hätte dann zur Konsequenz, dass vom
Vorliegen einer Abstimmung immer auch auf Umsetzungsverhalten geschlossen
werden könnte und es somit nur auf das Vorhandensein einer Abstimmung ankäme.
Es erscheint jedoch fraglich, ob dieser, vom EuG früher eingenommene
Standpunkt verallgemeinerungsfähig ist. Zudem hat der EuGH diese Sichtweise in
seiner neueren Rechtsprechung unter Hinweis auf Wortlaut und Zweck des Art. 81 I
EG zu Recht zurückgewiesen65.
der 3. Aufl. des Werkes); vgl. auch Roth/Ackermann, in: Frankfurter Kommentar, Bd. II,
Grundfragen Art. 81 Abs. 1 Rn 124.
60 Zimmer, in: Immenga/Mestmäcker, GWB (3. Aufl.), § 1 Rn 112.
61 So ohne nähere Begründung Bechtold/Bosch/Brinker/Hirsbrunner, Art. 81 Rn 49.
62 Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker, EG-Wettbewerbsrecht, Bd. I (1. Aufl.), Art. 85 Abs. 1
A. Rn 119.
63 Vgl. Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 9 Rn 22.
64 EuG v. 24.10.1991, Rhône-Poulenc / Kommission, Rs. T-1/89, Slg. 1991, II-867, Rn. 123; s.
auch Grill, in: Lenz/Borchardt, EU- und EGV, Art. 81 Rn 7; Roth/Ackermann, in: Frankfurter
Kommentar, Bd. II, Grundfragen Art. 81 Abs. 1 Rn 126.
65 EuGH v. 08.07.1999, Anic Partecipazioni, Rs. C-49/92, Slg. 1999, I-4162, Rn 115-119. - Auf
diese Rechtsprechung wird sogleich zurückzukommen sein.
29
Teilweise wird hingegen eine vermittelnde Lösung vorgeschlagen. Demnach soll
bereits die Verhaltensabstimmung zwischen Unternehmen für die Erfüllung des Tatbestandsmerkmales genügen, wenn ihre Befolgung, bei Würdigung der Gesamtumstände und aus der Sicht des Abstimmungszeitpunktes, vernünftigerweise erwartbar
ist oder die Ungewissheit über das weitere Verhalten eines Beteiligten mit einer
gewissen Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist. Ansonsten soll ein die Abstimmung umsetzendes Verhalten erforderlich sein66. Zur Begründung wird mit dem
Telos des Art. 81 I EG argumentiert und vorgetragen, die Wettbewerbsgefährdung
sei dann bei einer abgestimmten Verhaltensweise ebenso hoch wie bei der Handlungsform der Vereinbarung, wenn ihre Befolgung erwartbar sei67.
Es sind jedoch Zweifel angebracht, ob eine derartige Differenzierung praktikabel
wäre. Denn es gelingt der Kommission ohnehin in den wenigsten Fällen eine Abstimmung nachzuweisen, ohne dass es bereits zu einem ausführenden Verhalten
gekommen ist68. Es bestehen außerordentliche Beweisschwierigkeiten; der Nachweis aufeinander abgestimmter Verhaltensweisen ist meist nur durch schwierige
Indizienbeweise möglich69. Ist es der handelnden Kartellbehörde in einem Einzelfall
gelungen, eine Abstimmung ohne Umsetzungsverhalten nachzuweisen, müsste sie,
um abgestimmte Verhaltensweisen zu bejahen, zusätzlich dartun, dass die Befolgung der Abstimmung erwartbar ist bzw. die Ungewissheit über das weitere Verhalten eines Beteiligten mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist.
Dies kann in der Praxis unnötige Beweisprobleme schaffen.
Die dritte Lösungsmöglichkeit hingegen, für abgestimmtes Verhalten sowohl eine
Abstimmung als auch ein Umsetzungsverhalten zu verlangen, hat gegenüber der
vermittelnden Position den Vorteil größerer Klarheit. Zudem lässt sich der Wortlaut
des Art. 81 I EG zur Stützung heranziehen. Dieser stellt zwar alle drei Handlungsformen auf eine Stufe, setzt dabei jedoch für aufeinander abgestimmte
Verhaltensweisen neben einer Abstimmung ein Umsetzungselement voraus („Verhaltensweisen“)70. Vom Vorliegen einer dieser Handlungsformen, insbesondere vom
Vorliegen abgestimmter Verhaltensweisen zu unterscheiden ist die Frage, ob damit
eine Wettbewerbsbeschränkung bezweckt oder bewirkt wurde. Diese Frage stellt
sich erst dann, wenn bereits feststeht, dass abgestimmte Verhaltensweisen (bzw.
eine Vereinbarung oder ein Beschluss) vorliegen71. Das oben dargelegte Argument,
66 Müller-Graff, in: Handkom. EUV/EGV, Art. 85 Rn 54.
67 Müller-Graff, in: Handkom. EUV/EGV, Art. 85 Rn 54.
68 Altvater, Kartellbildung durch Abstimmung?, S. 82; Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker,
EG-Wettbewerbsrecht, Bd. I (1. Aufl.), Art. 85 Abs. 1 A. Rn 119.
69 Ulmer/Wiedemann, in: Cox/Jens/Markert (Hrsg.), Handbuch, 271, 280 f.; Bunte, in:
Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 2, Art. 81 Gen. Prinz. Rn 32 a; Schröter, in: von der
Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 2, Art. 81 Rn 80.
70 – in der französischen Sprachfassung des Vertrages: pratiques concertées; in der englischen
Sprachfassung: concerted practices.
71 Vgl. Lübbert, Das Verbot abgestimmten Verhaltens, S. 90 f.; Müller-Graff, in: Handkom.
EUV/EGV, Art. 85 Rn 54; Bunte, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 2, Art. 81 Gen. Prinz.
Rn 28.
30
aus dem Bezwecken einer Wettbewerbsbeschränkung abzuleiten, dass bereits die
Verhaltensabstimmung bei den aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen für Art.
81 I EG genügt, überzeugt folglich nicht.
Dafür, dass sowohl eine Abstimmung als auch ein Umsetzungsverhalten
vorliegen müssen, lassen sich auch teleologische Argumente ins Feld führen. Denn
während Vereinbarungen und Beschlüsse auch ohne Umsetzungshandlung verboten
sind, weil ihre Verbindlichkeit die akute Gefahr ihrer Ausführung begründet, ist bei
der Verhaltensabstimmung im Rahmen abgestimmter Verhaltensweisen eine
derartige Verbindlichkeit nicht zwingend gegeben, weshalb von ihr keine
gleichwertige Gefahr ausgeht. Die bloße unverbindliche, formlose Abstimmung
bleibt wegen ihrer mangelnden Intensität oft ohne Folgen. Aufeinander abgestimmte
Verhaltensweisen überschreiten die Schwelle zur für Art. 81 I EG relevanten
Wettbewerbsgefährdung daher erst, wenn mit ihrer Umsetzung zumindest begonnen
wurde72.
Aus dem Verbotscharakter des Art. 81 I EG bzw. dem rechtsgemeinschaftlichen
Bestimmtheitsgebot folgt zudem, dass es nicht zulässig ist, den Wortlaut „aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen“ erweiternd auszulegen, indem man die bloße
Verhaltenskoordinierung ausreichen lässt73.
Auch der EuGH hat in seiner neueren Rechtsprechung zu der vorliegenden, auch
heute noch aktuellen Problematik Stellung genommen und dabei den Begriff der abgestimmten Verhaltensweise dahingehend präzisiert, dass er über die Abstimmung
hinaus ein dieser entsprechendes Marktverhalten sowie einen ursächlichen Zusammenhang zwischen beiden voraussetze74. Dabei nimmt der Gerichtshof ausdrücklich
auf seine ständige Rechtsprechung zum Begriff der aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen Bezug und konkretisiert diese lediglich. Zur Begründung werden das
Selbständigkeitspostulat sowie der Wortlaut „aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen“ angeführt75. Außerdem muss, damit Art. 81 I EG erfüllt ist,
selbstverständlich eine Wettbewerbsbeschränkung vorliegen; es ist jedoch, wie der
EuGH weiter ausführt, nicht notwendigerweise Voraussetzung, dass sich die abgestimmten Verhaltensweisen in der Wettbewerbsbeschränkung auswirken76.
Diese Auffassung des EuGH überzeugt aus den bereits angeführten Gründen. Insbesondere Wortlaut und Telos des europäischen, aber auch des deutschen
Kartellverbots sprechen dafür, zusätzlich zur Verhaltensabstimmung zumindest auch
72 Daig, EuR 1976, 213, 217; Gleiss/Hirsch, Kartellrecht, Bd. 1, Art. 85 Rn 92; im Ergebnis
ebenso EuGH v. 16.12.1975, Suiker Unie, Rs. 40-48, 50, 54-56, 111, 113 u. 114/73, Slg.
1975, 1663, Rn 356-358, 575-578; Ebel, Kartellrecht, Art. 81 Rn 317.
73 Vgl. Lübbert, Das Verbot abgestimmten Verhaltens, S. 90 f.
74 EuGH v. 08.07.1999, Anic Partecipazioni, Rs. C-49/92 P, Slg. 1999, I-4162, Rn 118; EuGH
v. 08.07.1999, Hüls, Rs. C-199/92 P, Slg. 1999, I-4287, Rn 161; s. dazu auch Grill, in:
Lenz/Borchardt, EU- und EGV, Art. 81 Rn 7; Schröter, in: von der Groeben/Schwarze, EU-
/EG-Vertrag, Bd. 2, Art. 81 Rn 70; Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht,
§ 9 Rn 24.
75 EuGH v. 08.07.1999, Anic Partecipazioni, Rs. C-49/92, Slg. 1999, I-4162, Rn 115-118.
76 EuGH v. 08.07.1999, Anic Partecipazioni, Rs. C-49/92, Slg. 1999, I-4162, Rn 124; EuGH v.
08.07.1999, Hüls, Rs. C-199/92 P, Slg. 1999, I-4287, Rn 165; EuGH v. 08.07.1999,
Montecatini, Rs. C-235/92 P, Slg. 1999, I-4539, Rn 125.
31
deren teilweise Umsetzung zu verlangen. Eine aufeinander abgestimmte Verhaltensweise ist somit eine ins Werk gesetzte Abstimmung77. Sie stellt in dem Sinne, dass
ein Umsetzungsverhalten erforderlich ist, einen Erfolgstatbestand dar. Mit „Erfolg“
ist hier jedoch nicht gemeint, dass es für das Vorliegen einer abgestimmten Verhaltensweise bereits zu einer Wettbewerbsbeschränkung gekommen sein muss;
vielmehr genügt auch bei abgestimmten Verhaltensweisen das Bezwecken einer
Wettbewerbsbeschränkung, damit Art. 81 I EG durchgreift78.
Dieses Begriffsverständnis wird im weiteren Verlauf dieser Untersuchung, bei der
Abgrenzung einseitiger wettbewerbswidriger Maßnahmen zu abgestimmten Verhaltensweisen, zugrunde gelegt werden.
4. Verhaltensabstimmung durch Marktverhalten?
Ein weiteres Rechtsproblem betrifft die Frage, ob aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen lediglich durch gegenseitige Kontaktnahme zwischen Unternehmen
zustande kommen können, oder ob auch eine Abstimmung durch Marktverhalten –
beispielsweise durch eine öffentlich bekannt gemachte Preiserhöhung, ohne dass
Unternehmen miteinander kommunizieren – ausreicht.
Dieses Problem ist für die vorliegende Untersuchung von recht geringer
Relevanz. Denn Abstimmung durch Marktverhalten findet in aller Regel im
Horizontalverhältnis zwischen Konkurrenten statt; die kartellrechtliche Bewertung
einseitiger wettbewerbswidriger Maßnahmen ist hingegen vor allem im
Vertikalverhältnis problematisch, weshalb in dieser Arbeit, wie dargelegt79,
ausschließlich der Vertikalbereich untersucht wird. Im Vertikalverhältnis erfolgen
einseitige Maßnahmen oft im Rahmen laufender Geschäftsbeziehungen, denen
häufig langfristige Verträge zugrunde liegen. Die Vertragspartei, die den
Wettbewerb durch ihr Handeln beschränkt, agiert dabei regelmäßig direkt gegenüber
der Vertragsgegenseite. Ein Hersteller, der beispielsweise einseitig seinen
Vertriebshändlern einen Rabatt entzieht, um Parallelimporte zu unterbinden, wird
dies den Händlern mitteilen. Eine Verhaltensabstimmung über den Markt hingegen
wäre für ihn weder zweckmäßig noch erforderlich.
Gelegentlich erfolgen gleichwohl auch im Zusammenhang mit Vertikalverhältnissen öffentlich abgegebene Erklärungen, die möglicherweise zu einer
Verhaltensabstimmung über den Markt führen. Ein Beispiel hierfür stellt die von
dem Fotofilm-Unternehmen Konica mittels einer Anzeige abgegebene öffentliche
Erklärung dar, parallel importierte Konica-Filme aufzukaufen sowie Fotohändlern
77 So prägnant Daig, EuR 1976, 213, 217.
78 Vgl. nur Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 2, Rn 486; Roth/Ackermann, in: Frankfurter
Kommentar, Bd. II, Grundfragen Art. 81 Abs. 1 Rn 128 a; Schröter, in: von der
Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 2, Art. 81 Rn 76.
79 S.o. Einleitung.
32
den Preis für ihrerseits aufgekaufte Filme zu erstatten80. Das tatsächliche Aufkaufen
der Filme durch die Fotohändler könnte eine Abstimmung über den Markt
darstellen. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass es angebracht erscheint, die Frage nach
der Möglichkeit einer Abstimmung über den Markt hier zu beantworten81.
Insbesondere auf oligopolistischen Märkten, die sich durch Produkthomogenität und
große Markttransparenz auszeichnen, ist denkbar, Verhaltensabstimmungen über
den Markt mit dem Verbot abgestimmter Verhaltensweisen zu erfassen. Denn auf
derart strukturierten Märkten erscheint die Strategie für die Wettbewerber
vielversprechend, durch eine Preiserhöhung die Konkurrenten ebenfalls zu
Preissteigerungen „einzuladen“; bei einem „Nachziehen“ der Konkurrenten, das auf
derartigen Märkten nicht unwahrscheinlich ist, könnte man dann aufeinander
abgestimmte Verhaltensweisen bejahen82.
Dagegen spricht jedoch, dass der selbständige, autonome Einsatz von Wettbewerbsmitteln den im Wettbewerb stehenden Unternehmen auch im Oligopol nicht
verwehrt sein darf. Deshalb muss dem ersten, vorstoßenden Unternehmen eben dieser Vorstoß, allen anderen Unternehmen hingegen die Anpassung an die geänderten
Marktverhältnisse erlaubt sein. Anderenfalls bestünde im Oligopol ein Verbot von
Preiserhöhungen, sobald der erste Oligopolist die Preise erhöht hat; dies liefe auf
eine staatliche Preisaufsicht hinaus83.
Diesem überzeugenden Einwand lässt sich möglicherweise damit begegnen, dass
bei sukzessiven Preiserhöhungen im Oligopol der Preisführer, welcher als Erster die
Preise heraufsetzt, vom Verbot abgestimmter Verhaltensweisen verschont wird, und
lediglich die „nachziehenden“ Oligopolisten, die ihre Preise an den Preisführer anpassen, diesem Verbot unterfallen84. Eine derartige Differenzierung würde jedoch
wettbewerbspolitisch unerwünschte Folgen nach sich ziehen. Denn sie böte jedem
einzelnen Unternehmen im Oligopol einen Anreiz, als Erstes die Preise heraufzusetzen und würde somit Preiserhöhungen zulasten der Abnehmer wahrscheinlicher
machen. Diese Lösungsmöglichkeit überzeugt daher nicht.
Folglich bleibt im Ergebnis festzuhalten, dass aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen die Koordinierung zwischen Unternehmen im Wege eines bewussten
und gewollten Zusammenwirkens, und sei es auch nur im Wege der gegenseitigen
Fühlungnahme, voraussetzen. Eine Verhaltensabstimmung nur durch Marktverhal-
80 Kommission, Entscheidung v. 18.12.1987, Konica, Abl. L 78 v. 23.03.1988, 34, Rn 25, 38.
81 Im konkreten Fall Konica ist indes aufgrund besonderer Sachverhaltsumstände eine
Abstimmung über den Markt zu verneinen; s. hierzu u. 3. Kap. F. II.
82 Vgl. Zimmer, ZHR 154 (1990), 470, 481, 483 f.; ders., in: Immenga/Mestmäcker,
Wettbewerbsrecht, GWB, § 1 Rn 99 f.; ähnlich auch Witter, Abstimmungsverbot und
strategisches Parallelverhalten, S. 231.
83 So bereits Ulmer, Abgestimmte Verhaltensweisen, S. 12 f.; ähnlich auch Möschel,
Oligopolmissbrauch, S. 30; ablehnend auch Wagner-von Papp, Marktinformationsverfahren,
S. 371- 373; W.-H. Roth, in: Frankfurter Kommentar, Voraufl., § 25 GWB a.F. Rn 26 f.;
Ulmer/Wiedemann, in: Cox/Jens/Markert (Hrsg.), Handbuch, 271, 279.
84 Zimmer, in: Immenga/Mestmäcker, GWB (3. Aufl.), § 1 Rn 106, anders nun aber ders. in der
4. Aufl. des Werkes.
33
ten, ohne dass es zwischen den Unternehmen zu Kontakten gekommen wäre, ist
nicht tatbestandsmäßig85.
5. Aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen speziell im Vertikalverhältnis
Aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen treten nicht nur in horizontalen, sondern auch in vertikalen Verhältnissen auf. Allein schon aufgrund der Tatsache, dass
Art. 81 I EG auch vertikale Vereinbarungen erfasst86, erscheint es konsequent, auch
ausschließlich vertikale abgestimmte Verhaltensweisen in den Anwendungsbereich
des Art. 81 I EG einzubeziehen87.
In Vertikalverhältnissen bestehen häufig langfristige Vertragsbeziehungen,
welche jedoch durch aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen ergänzt sein
können. In derartigen langjährigen Geschäftsverbindungen können sich
Geschäftsverbindungsbräuche herausbilden. Dies ist dann der Fall, wenn eine
individuelle geschäftliche Übung, die zwischen zwei Vertragspartnern praktiziert
wird, mit der berechtigten Erwartung zumindest eines Partners zusammentrifft, dass
diese geschäftliche Übung beibehalten wird. Unter diesen Voraussetzungen gewährt
der entstandene Geschäftsverbindungsbrauch Vertrauensschutz für den anderen
Partner, etwa bei Auslegung oder Ergänzung des Rahmenvertrages. Zudem kann in
laufenden Geschäftsbeziehungen auch das Vertrauen eines Vertragspartners auf die
Beibehaltung einer bereits durch frühere Geschäftsabschlüsse gezeigten
Geschäftsbereitschaft der Vertragsgegenseite schutzwürdig sein. In langfristigen
Geschäftsbeziehungen kommt es somit auf verschiedene Art und Weise zu
Vertrauensverdichtung88 – was für das Zustandekommen abgestimmter
Verhaltensweisen höchst förderlich sein kann. Dies zeigt: Die Gefahr einer
Beschränkung des Wettbewerbs mittels abgestimmter Verhaltensweisen ist auch
Vertikalverhältnissen immanent.
Ein wichtiges Beispiel für aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen im
Vertikalverhältnis stellt die Konstellation dar, dass Absatzmittler ihr Verhalten an
die Belange des Herstellers bzw. Lieferanten anpassen. Umgekehrt ist indes auch die
Verhaltensanpassung eines Herstellers an die Wünsche nachfragemächtiger Abnehmer denkbar89. Abgestimmte Verhaltensweisen im Vertikalverhältnis liegen zudem
85 Zwischen den beteiligten Unternehmen muss es indes dann nicht zu direkten Kontakten
kommen, wenn der Kontakt durch Zwischenschaltung eines Dritten vermittelt wird. Dies
reicht zur Annahme einer Verhaltensabstimmung aus; s. nur Stockenhuber, in: Grabitz/Hilf,
EUV/EGV, Bd. 2, Art. 81 Rn 109.
86 S.o. 1. Kap. A. I. 1.
87 Steindorff, ZHR 137 (1973), 203, 231; im Ergebnis ebenso Enchelmaier, in:
Hailbronner/Wilms, EU/EG, Bd. III, Art. 81 Rn 30.
88 Vgl. umfassend Müller-Graff, Laufende Geschäftsverbindung, S. 180-188, 191, 192 ff.; s.
auch ders., in: Handkom. EUV/EGV, Art. 85 Rn 59.
89 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 2, Rn 469.
34
auch bei gemeinsamen Strategien zur Verhinderung von Parallelausfuhren vor90.
Diese können auch so ausgestaltet sein, dass Vertriebshändler ihr Verhalten
untereinander horizontal abstimmen und sich der Hersteller an diesen abgestimmten
Verhaltensweisen beteiligt91. In diesem Fall liegen dann gemischt vertikal-horizontale abgestimmte Verhaltensweisen vor92.
Aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen im Vertikalverhältnis können sich
jedoch auch schlicht aus der stillschweigenden Übereinkunft zwischen den Vertragspartnern ergeben, nicht um geringfügiger Marktchancen willen den bisherigen
Partner zu wechseln, um diesen nicht zu schädigen. Auf diese Weise mindern die
Vertragspartner gemeinsam das Marktrisiko, was zugleich eine milde Form der
Wettbewerbsbeschränkung darstellt93.
Die Rechtsprechungspraxis der Gemeinschaftsgerichte suggeriert indes, dass die
praktische Bedeutung aufeinander abgestimmter Verhaltensweisen im Vertikalverhältnis prima facie gering erscheint94. Hierfür lassen sich verschiedene Ursachen
ausmachen. Zunächst ist zu konstatieren, dass der EuGH häufig bei (scheinbar) einseitigen Maßnahmen im Vertikalverhältnis bevorzugt die Handlungsform der
Vereinbarung als gegeben ansieht, so dass es für ihn nicht erforderlich ist, auf das
Tatbestandsmerkmal der abgestimmten Verhaltensweisen zu rekurrieren95. Diese
Rechtsprechungspraxis wird im Laufe dieser Untersuchung kritisch hinterfragt werden.
Des Weiteren bestehen im Vertikalverhältnis oft gegenläufige Interessen. Beide
Parteien streben danach ihren Gewinn zu maximieren, was zulasten der Vertragsgegenseite gehen kann; das Interesse der Händlerseite ist zudem darauf gerichtet, sich
die Entscheidungsfreiheit etwa über die Preisgestaltung zu erhalten96. Im Hinblick
90 S. z.B. EuGH v. 21.02.1984, Hasselblad, Rs. 86/82, Slg. 1984, 883, Rn 24-29; EuG v.
07.07.1994, Dunlop Slazenger, Rs. T-43/92, Slg. 1994, II-441, Rn 88, 108 f., 112.
91 Kommission v. 14.12.1979, Pioneer, Abl. L 60 v. 05.03.1980, S. 21, Rn 60, 62, 77, 79;
bestätigt durch EuGH v. 07.06.1983, Musique Diffusion Française, Rs. 100 bis 103/80, Slg.
1983, 1825, Rn. 72-80; s. dazu Glöckner, WRP 2003, 1327, 1330; Jakobsen/Broberg, ECLR
2002, 127, 136 Fn. 60; Gippini-Fournier, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff,
Kartellrecht, Bd. 1, Art. 81 Abs. 1 Rn 102; vgl. auch Bunte, in: Langen/Bunte, Kartellrecht,
Bd. 2, Art. 81 Gen. Prinz. Rn 31; Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker, EG-
Wettbewerbsrecht, Bd. I (1. Aufl.), Art. 85 Abs. 1 A. Rn 115.
92 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 2, Rn 469.
93 Vgl. Kantzenbach, Funktionsfähigkeit, S. 100, 106 f.; Lübbert, Das Verbot abgestimmten
Verhaltens, S. 70; ähnlich auch Zimmer, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, GWB,
§ 1 Rn 97:: Solidaritätsbewusstsein zwischen den Vertragspartnern kann zu abgestimmtem
Verhalten führen.
94 In eine ähnliche Richtung gehend behaupten Rittner/Dreher, vertikale aufeinander
abgestimmte Verhaltensweisen seien in der Praxis selten (Wirtschaftsrecht, § 16 Rn 35).
95 S. als ein Bsp. für einen Fall, in dem der EuGH Vereinbarungen bejahte und daher
abgestimmte Verhaltensweisen gar nicht erst erörterte, etwa das Urteil v. 11.01.1990, Sandoz
PF, Rs. 277/87, Slg. 1990, I-45. Die Frage, ob in diesem Fall nicht vielmehr einseitige
Maßnahmen vorlagen, wird sich erst im weiteren Fortgang dieser Arbeit stellen. – Vgl.
zudem auch Gleiss/Hirsch, Kartellrecht, Bd. 1, Art. 85 Rn 91.
96 Kallaugher/Weitbrecht, ECLR 2005, 188, 189; Ulmer/Wiedemann, in: Cox/Jens/Markert
(Hrsg.), Handbuch, 271, 286.
35
auf einseitige wettbewerbswidrige Maßnahmen im Vertikalverhältnis wird daher
auch aus diesem Grunde sehr genau zu prüfen sein, ob und, wenn ja, unter welchen
rechtlichen Voraussetzungen sie tatsächlich zu abgestimmten Verhaltensweisen führen können97.
6. Die Abgrenzung zu erlaubtem Parallelverhalten
Aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen sind zum einen vom Koordinierungstatbestand Vereinbarung98, zum anderen vom kartellrechtlich erlaubten, bloßen
Parallelverhalten abzugrenzen. Letzteres vollzieht sich in aller Regel zwischen Wettbewerbern im Horizontalverhältnis. Es sind jedoch Beispiele für Parallelverhalten
im Vertikalverhältnis denkbar, so etwa, wenn ein Zulieferunternehmen den Preis für
ein Vorprodukt erhöht, woraufhin das Herstellerunternehmen autonom eine
Preiserhöhung für das Endprodukt vornimmt.
Bereits der Wortlaut („aufeinander abgestimmte“) ergibt, das unbewusstes Parallelverhalten nicht tatbestandsmäßig ist99. Weniger eindeutig ist hingegen die
rechtliche Qualifikation bewussten Parallelverhaltens. Nach oben dargelegter Ausgangsdefinition beinhalten aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen die beiden
Elemente der Koordinierung zwischen Unternehmen und des tatsächlichen Verhaltens100. Findet keine Koordinierung – und bestünde sie auch nur in Form einer
Fühlungnahme zwischen den Unternehmen – statt, sondern passt ein Unternehmen
lediglich autonom sein Verhalten an ein anderes Unternehmen an, so ist das Tatbestandsmerkmal folglich nicht einschlägig. Auch das Selbständigkeitspostulat,
demzufolge jedes Unternehmen seine Geschäftspolitik im Binnenmarkt selbständig
zu bestimmen hat101, steht bloßem Parallelverhalten nicht entgegen. Bloßes
Parallelverhalten kann somit für sich genommen noch keine abgestimmte
Verhaltensweise darstellen102.
Bewusstes Parallelverhalten kann auch nicht im Wege einer Abstimmung durch
Marktverhalten mit dem Koordinierungstatbestand aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen erfasst werden103.
97 S. hierzu u. 3. Kap.
98 S. hierzu sogleich 1. Kap. A. III.
99 S. nur Zimmer, in: Immenga/Mestmäcker, GWB (3. Aufl.), § 1 Rn 99.
100 S.o. 1. Kap. A. II. 1.
101 S. dazu nur Bunte, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 2, Art. 81 Gen. Prinz. Rn 29; s. auch
bereits o. 1. Kap. A. II. 1.
102 Van Gerven/Navarro Varona, CMLR 31 (1994), 575, 592, 597, 607; EuGH v. 31.03.1993,
Zellstoff, Rs. C-89, 104, 114, 116 f. u. 125-129/85, Slg. 1993, I-1307, Rn 64 f.; Gleiss/Hirsch,
Kartellrecht, Bd. 1, Art. 85 Rn 94; Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker, EG-
Wettbewerbsrecht, Bd. I (1. Aufl.), Art. 85 A. Rn 104, 108, 112; vgl. auch Bülow,
Gleichförmiges Unternehmensverhalten, S. 33; Wagner-von Papp,
Marktinformationsverfahren, S. 339 und speziell zum deutschen Recht S. 353 f.
103 S.o. 1. Kap. A. II. 4.
36
Hiervon ist die beweisrechtliche Frage zu trennen, inwiefern bloßes
Parallelverhalten ein Indiz für eine schon zuvor erfolgte Abstimmung darstellen
kann. Diese Frage hat der EuGH in überzeugender Weise dahingehend beantwortet,
dass ein Parallelverhalten nur dann als Beweis für eine Abstimmung angesehen
werden könne, wenn es sich nur durch eine Abstimmung einleuchtend erklären
ließe104. Zur Begründung wird angeführt, Art. 81 (ex-Art. 85) EG verbiete zwar jede
Form der heimlichen Absprache, die geeignet sei, den Wettbewerb zu verfälschen;
er beseitige aber nicht das Recht der Unternehmen, sich dem festgestellten oder
erwarteten Verhalten ihrer Konkurrenten auf intelligente Weise anzupassen105.
Mit der Unterscheidung aufeinander abgestimmter Verhaltensweisen von bloßem
Parallelverhalten ist eine Grenzlinie zwischen kartellrechtlich tatbestandsmäßigem
und nicht tatbestandsmäßigem Unternehmensverhalten gezogen. Innerhalb des Tatbestandes des Art. 81 I EG bzw. des § 1 GWB sind jedoch zusätzlich aufeinander
abgestimmte Verhaltensweisen von Vereinbarungen abzugrenzen.
III. Die Abgrenzung von Vereinbarungen zu aufeinander abgestimmten
Verhaltensweisen
1. Zur Relevanz der Abgrenzung
Die Abgrenzung von Vereinbarungen zu aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen lässt sich durch Beantwortung der Frage vornehmen, ob für eine
Vereinbarung ein Rechtsbindungswille erforderlich ist. Ist diese Frage zu bejahen, so
hat das Tatbestandsmerkmal der aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen einen
weiten Anwendungsbereich. Falls für das Vorliegen einer Vereinbarung hingegen
eine rein wirtschaftliche, moralische oder faktische Bindung der Beteiligten genügt,
erweitert sich der Anwendungsbereich des Koordinierungstatbestandes der
Vereinbarung zulasten desjenigen der abgestimmten Verhaltensweisen. Folglich ist
das Problem zu klären, ob für eine Vereinbarung ein Rechtsbindungswille
vorzuliegen hat (unten 2.).
Zunächst jedoch erscheint es angezeigt, zur Frage nach der Relevanz der Abgrenzung von Vereinbarungen zu aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen Stellung
zu beziehen. Denn man könnte sich auf den Standpunkt stellen, die Unterscheidung
der Vereinbarungen von abgestimmten Verhaltensweisen besäße keinerlei praktische
Relevanz. Die Abgrenzung sei nur im Verhältnis abgestimmter Verhaltensweisen
zum kartellrechtlich erlaubten bewussten oder unbewussten Parallelverhalten
104 EuGH v. 31.03.1993, Zellstoff, Rs. C-89, 104, 114, 116 f. u. 125-129/85, Slg. 1993, I-1307,
Rn 71, 126 f.; s. dazu Wagner-von Papp, Marktinformationsverfahren, S. 341; van
Gerven/Navarro Varona, CMLR 31 (1994), 575, 601, 607; Kurz, RIW 1995, 186, 189; in
einem ähnlichen Sinne bereits EuGH v. 14.07.1972, ICI, Rs. 48/69, Slg. 1972, 619, Rn 66.
105 EuGH v. 31.03.1993, Zellstoff, Rs. C-89, 104, 114, 116 f. u. 125-129/85, Slg. 1993, I-1307,
Rn 71.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Unter welchen rechtlichen Voraussetzungen fällt scheinbar einseitiges Handeln eines Unternehmens, das den Wettbewerb beschränkt (z. B. Maßnahmen eines Herstellers gegen Parallelimporte), noch unter das Kartellverbot des Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag? Die Antwort auf diese Frage klärt die Weite des Anwendungsbereichs des Kartellverbots und betrifft damit die Grundlagen des Kartellrechts.
Hierzu entwickelt der Autor rechtliche Kriterien für die praxisrelevante und oft schwierige Abgrenzung zwischen einseitigen Maßnahmen im Vertikalverhältnis einerseits und den Handlungsformen des Kartellverbots (Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen) andererseits. Zu dieser Thematik ist eine Reihe von Entscheidungen der Europäischen Kommission und des EuGH ergangen, die vom Autor aufgearbeitet und kritisch hinterfragt werden.
Die Arbeit macht zudem deutlich, unter welchen Voraussetzungen insbesondere in laufenden Geschäftsverbindungen zwischen Unternehmen wettbewerbswidrige Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen zustande kommen, die gegen das Kartellverbot verstoßen. Dabei finden die rechtlichen Besonderheiten selektiver Vertriebssysteme besondere Berücksichtigung.