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4. Ergebnis
Eine etwaige Insolvenzabwendungspflicht kommt nur in Einzelfällen in Betracht
und führt selbst in diesen Fällen bei Vorliegen eines Eröffnungsgrundes i.S.d. § 16
InsO nicht zu einer rechtlichen Unmöglichkeit der Eröffnung sowie der Durchführung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Grundversorgers. Die rechtliche Relevanz der Frage nach der Vereinbarkeit des durch §§ 36, 38 EnWG verfolgten Ziels der Versorgungssicherheit und des durch die InsO verfolgten Ziels der
bestmöglichen Gläubigerbefriedigung ist daher nicht aufgrund einer denkbaren Insolvenzabwendungspflicht gegenüber Grundversorgern zu verneinen.
III. Zusammenfassung zur rechtlichen Relevanz der Frage nach der Vereinbarkeit
vor dem Hintergrund der Insolvenzfähigkeit und Insolvenzabwendungspflicht
Die als GmbH bzw. AG organisierten Grundversorger sind insolvenzfähig, so dass
die rechtliche Relevanz der Frage nach der Vereinbarkeit des durch §§ 36, 38 EnWG
verfolgten Ziels der Versorgungssicherheit und des durch die InsO verfolgten Ziels
der bestmöglichen Gläubigerbefriedigung insoweit zu bejahen ist. Ferner bewirkt
auch eine etwaige gegenüber diesen Grundversorgern bestehende Insolvenzabwendungspflicht nicht, dass sich die rechtliche Relevanz der Vereinbarkeitsfrage erübrigt.
C. Fortbestand der Grundversorgungs- und Ersatzversorgungspflicht zum Zeitpunkt
der Insolvenzeröffnung
Die Frage nach der Vereinbarkeit der durch die §§ 36, 38 EnWG bezweckten Versorgungssicherheit mit dem durch die Insolvenzeröffnung verfolgten Ziel einer optimalen Gläubigerbefriedigung würde sich erübrigen, wenn die energierechtlichen
Pflichten aus §§ 36, 38 EnWG mit der Insolvenzeröffnung fortfielen. Fraglich ist
daher, wie sich die Insolvenzeröffnung auf den Fortbestand dieser Pflichten auswirkt.
I. Grundsatz: Auswirkung der Insolvenzeröffnung auf die Pflichten des Schuldners
Grundsätzlich wirkt sich die Insolvenzeröffnung derart aus, dass die Verwaltungsund Verfügungsbefugnis über das zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen mit
Insolvenzeröffnung gem. § 80 InsO auf den Insolvenzverwalter übergeht (sog. Beschlagsrecht).375 Insolvenzmasse wird definiert als das gesamte, einer Zwangsvoll-
375 Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rn. 9.05; Braun/Uhlenbruck, Unternehmensinsolvenz, S. 302.
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streckung unterliegende Vermögen des Schuldners, welches ihm zur Zeit der Eröffnung des Verfahrens gehört oder von ihm während des Verfahrens erworben wird
(§§ 35, 36 InsO). Dazu gehören sowohl Gegenstände als auch subjektive Vermögensrechte.376 Der Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis wird durch
die Pflicht des Insolvenzverwalters, das gesamte zur Insolvenzmasse gehörende
Vermögen sofort in Besitz und Verwaltung zu nehmen (§ 148 InsO), ergänzt. Bei
Rechten und Forderungen scheidet eine körperliche Inbesitznahme zwar aus, dennoch unterliegen diese, wie körperliche Gegenstände, dem Insolvenzbeschlag.377
Grundsätzlich hat der Insolvenzverwalter das Schuldnerunternehmen bis zum Berichtstermin (vgl. § 156 InsO) fortzuführen.378 Nur ausnahmsweise und mit Zustimmung des Gläubigerausschusses ist der Insolvenzverwalter bis zu diesem Termin zur
Stilllegung bzw. Veräußerung des Unternehmens befugt (§§ 158, 160 InsO).
Bei der Verwaltung der Insolvenzmasse stehen dem Insolvenzverwalter nicht alle
nur denkbaren Möglichkeiten offen, vielmehr muss er die bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens bestehende Rechtslage übernehmen.379 Der Insolvenzverwalter tritt
mit Übernahme seines Amtes nämlich lediglich in die Rechte und Pflichten des
Gemeinschuldners in allen vermögensrechtlichen Positionen ein mit der Folge, dass
ihm die gleichen Rechte zustehen und die gleichen Pflichten obliegen wie dem
Schuldner selbst.380 Der Insolvenzverwalter kann für die Masse daher nur die Rechte
ausüben, die dem Schuldner zustanden, er kann grundsätzlich nicht mehr und keine
anderen Rechte beanspruchen.381 Ebenso setzen sich die Lasten und Beschränkungen des Vermögens des Schuldners sowie die schuldrechtlichen Beschränkungen der
Rechte des Schuldners in der Insolvenz grundsätzlich fort und begrenzen die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis des Insolvenzverwalters.382 Dies gilt nur dann
nicht, wenn und soweit etwas anderes, insbesondere in der InsO (vgl. z.B. §§ 80 II,
104, 115 ff. InsO), bestimmt ist.383 Dementsprechend lässt die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens die gesetzlichen und vertraglichen Pflichten des Schuldners
grundsätzlich unberührt.384 Ebenso wie der Schuldner auch nach Insolvenzeröffnung
Eigentümer seiner beweglichen und unbeweglichen Sachen sowie Inhaber seiner
Forderungen und sonstiger Rechte bleibt, treffen ihn auch weiterhin seine gesetzlichen bzw. vertraglichen Verpflichtungen.385
376 Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rn. 9.04; Uhlenbruck-Uhlenbruck, InsO, § 148 Rn. 3.
377 Uhlenbruck-Uhlenbruck, InsO, § 148 Rn. 3.
378 Braun/Uhlenbruck, Unternehmensinsolvenz, S. 189.
379 BGH, NJW 1971, 1750; Jaeger-Windel, InsO, § 80 Rn. 245.
380 BGH, NJW 1971, 1750; Uhlenbruck-Uhlenbruck, InsO, § 80 Rn. 62.
381 BGH, NJW 1971, 1750; Jaeger-Windel, InsO, § 80 Rn. 245; MüKo-Ott/Vuia, InsO, § 80 Rn.
43; Uhlenbruck-Uhlenbruck, InsO, § 80 Rn. 62.
382 MüKo-Ott/Vuia, InsO, § 80 Rn. 43.
383 BGH, NJW 1971, 1750; HK-Eickmann, InsO, § 80 Rn. 3 f.
384 BGH, NJW 2002, 2783; 2785; BGH, NJW 2003, 2744, 2746 f.; Musielak, AcP 179 (1979),
189, 195; Bork, Zeuner-FS, S. 297 ff.; 315; Marotzke, Gegenseitige Verträge, Rn. 3.5 ff., 3.
48 ff.; MüKo-Kreft, InsO, § 103 Rn. 18; K/P-Tintelnot, InsO, § 103 Rn. 10.
385 Vgl. v. Wilmowsky, ZIP 1997, 389, 395; ders., ZIP 1997, 1445, 1446.
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II. Ausnahme: Fortfall der mit der Grundversorgerstellung einhergehenden Pflichten
Eine Ausnahme von dem grundsätzlichen Fortbestand der gesetzlichen Verpflichtungen könnte jedoch hinsichtlich der den Grundversorger treffenden gesetzlichen
Pflichten aus §§ 36, 38 EnWG bestehen. So wurde unter Geltung des § 10 EnWG
(1998) der Fortbestand der Allgemeinen Versorgungspflicht im Insolvenzverfahren
in der energierechtlichen Literatur teilweise für nicht selbstverständlich befunden,
sondern – im Gegensatz zu der Frage nach dem Fortbestand anderer energierechtlicher Pflichten – problematisiert.386 Auch unter Geltung des neuen Energierechts
wird teilweise – allerdings ohne nähere Begründung – ein Fortfall der Grundversorgungsstellung in der Insolvenz eines Grundversorgers erwogen.387
In Bezug auf die Frage, ob die Pflichten aus §§ 36, 38 EnWG mit Insolvenzeröffnung ausnahmsweise fortfallen, ist zunächst festzustellen, dass sich in der InsO im
Hinblick auf die Grund- und Ersatzversorgungspflicht keine Ausnahme zu dem oben
erörterten Prinzip des grundsätzlichen Fortbestandes der gesetzlichen Verpflichtungen des Schuldners bei Insolvenzeröffnung findet. Fraglich ist, ob sich ein Fortfall
dieser Pflichten aus dem EnWG ergibt. Der Fortbestand bzw. der Fortfall der
Grundversorgungspflicht ist in § 36 II EnWG388 ausdrücklich geregelt, wobei dieser
Norm zu entnehmen ist, dass die Grundversorgerstellung und damit auch die den
Grundversorger treffenden Pflichten in zwei Fällen entfallen: bei Wechsel des
Grundversorgers aufgrund einer neuen Feststellung (§ 36 II 2 EnWG) oder bei Einstellung der Geschäftstätigkeit durch den Grundversorger (§ 36 II 4 EnWG).389 Angesichts dieser klaren Rechtslage ist davon auszugehen, dass der Fortfall der Grundversorgerstellung bei Nichtvorliegen dieser Voraussetzungen zu verneinen ist.
Insofern ist zu untersuchen, ob bzw. inwieweit die Regelung des § 36 II EnWG
hinsichtlich des Fortbestandes der Grundversorgungspflichten einen Bezug zur Insolvenz eines Grundversorgers aufweist. Sofern sich aus dieser Regelung kein Fortfall der Grundversorgungspflicht bei Insolvenzeröffnung ergibt, ist davon auszugehen, dass die Pflichten aus §§ 36, 38 EnWG – entsprechend dem Grundsatz, dass die
Eröffnung des Insolvenzverfahren nicht zum Fortfall gesetzlicher Pflichten führt –
auch im Falle der Insolvenzeröffnung über das Vermögen des Grundversorgers
fortbestehen.
386 Vgl. Büdenbender, EnWG, § 10 Rn. 134; Löwer, Risikoabsicherung, S. 169 f.
387 So wohl Salje, EnWG, § 36 Rn. 25, 36.
388 Da die Regelung des § 36 I 2 EnWG lediglich bewirkt, dass die Grundversorgungspflicht in
Bezug auf ein einzelnes Schuldverhältnis entfällt, die Stellung als Grundversorger jedoch
weiter bestehen bleibt, ist diese Regelung für die hier zu interessierende Frage des Fortfalls
der Grundversorgerstellung nicht maßgeblich.
389 Vgl. S. 51.
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References
Zusammenfassung
Nach der Liberalisierung des Energiemarktes müssen sich die auf der Vertriebsebene tätigen Energieversorgungsunternehmen dem Wettbewerb mit anderen Lieferanten stellen, womit die Wahrscheinlichkeit der Insolvenz dieser Unternehmen steigt.
Die Autorin widmet sich der Untersuchung der mit der Insolvenzeröffnung über das Vermögen eines Grundversorgers zusammenhängenden rechtlichen Fragen. Ausgehend von den veränderten Rahmenbedingungen wird zunächst die Reichweite der den Grundversorger gem. §§ 36, 38 EnWG treffenden Grund- und Ersatzversorgungspflichten erörtert. Einen Kernpunkt der Untersuchung bildet die Frage des Fortbestandes dieser Pflichten auch nach der Insolvenzeröffnung.
Abschließend wird die Vereinbarkeit von Versorgungssicherheit und Gläubigerbefriedigung im Insolvenzverfahren anhand der Auswirkungen der Insolvenzeröffnung auf die Befriedigung der aus §§ 36 (i.V.m. StromGVV), 38 EnWG resultierenden Ansprüche einerseits und der §§ 36, 38 EnWG auf das Ziel der bestmöglichen Gläubigerbefriedigung andererseits analysiert.