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Abnehmer an einer sicheren Energieversorgung einerseits sowie das grundsätzliche
Erfordernis eines Vertragsschlusses zum Zwecke der Begründung von Belieferungsansprüchen andererseits in Einklang gebracht.
Die Ablehnung der Annahme, dass § 36 I 1 EnWG ein gesetzliches Schuldverhältnis begründe, wird auch durch die historische Betrachtung dieser Vorschrift
bestätigt. So entsprach es seit jeher der allgemeinen Meinung, dass die Versorgungspflicht nach § 6 EnWG (1935) bzw. § 10 EnWG (1998) nicht geeignet ist, eine
vom Vertragsrecht losgelöste abstrakte Versorgungspflicht zu begründen.76 Dabei
wurde argumentiert, dass die allgemeine Versorgungspflicht, der Rechtscharakter
der allgemeinen Versorgungsbedingungen als Rechtsverordnung sowie deren normative Geltung für alle Tarifkundenverträge nichts daran geändert haben, dass
Rechtsbeziehungen in der Elektrizitäts- und Gasversorgung nach den Regeln des
Zivilrechts durch den rechtsgeschäftlichen und individuellen Abschluss von Anschluss- und Versorgungsverträgen begründet werden.77
Ergebnis
Im Ergebnis ist also festzustellen, dass die in § 36 I 1 EnWG normierte Grundversorgungspflicht kein gesetzliches Schuldverhältnis im Sinne einer unmittelbar aus
dem Gesetz folgenden Belieferungspflicht begründet, sondern zu einem privatrechtlichen Vertragsabschlusszwang führt.78
IV. Sinn und Zweck der Grundversorgungspflicht
Die Frage nach dem Sinn und Zweck des in § 36 I 1 EnWG normierten Kontrahierungszwangs bedarf angesichts der langen Tradition, die dieses Institut in der Energiewirtschaft hat, und der Tatsache, dass es trotz der veränderten Rahmenbedingungen in der Energiewirtschaft beibehalten wurde, einer näheren Untersuchung.
AVBEltV: OLG Celle, RdE 2004, 148, 149; Herrmann, in: Herrmann/Recknagel/Schmidt-
Salzer, AVB, § 2 AVBV Rn. 21.
76 Hempel, in: Energiewirtschaftsgesetz 1998, § 10, Rn. 4.2.
77 Hempel, in: Hempel/Franke, AVBEltV, Einführung Rn. 6; ders. in: Ludwig/Odenthal,
EnWG, § 10 Rn. 34.
78 Hempel, in: Energiewirtschaftsgesetz 1998, § 10 Rn. 4.2; Busche, Privatautonomie und Kontahierungszwang, S. 473.
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1. Regierungsbegründung
Nach der Regierungsbegründung dient die Vorschrift des § 36 EnWG der Umsetzung von Art. 3 Abs. 3 Satz 1 und 2 der Elektrizitätsrichtlinie und Art. 3 Abs. 1 bis 3
der Gasrichtlinie.79
Art. 3 III Satz 1 und 2 der Elt-RL lauten: „Die Mitgliedsstaaten tragen dafür Sorge, dass alle Haushaltskunden und, soweit die Mitgliedsstaaten dies für angezeigt
halten, Kleinunternehmen, nämlich Unternehmen, die weniger als 50 Personen beschäftigen und einen Jahresumsatz oder eine Jahresbilanzsumme von höchstens 10
Mio. € haben, in ihrem Hoheitsgebiet über Grundversorgung verfügen, also das
Recht auf Versorgung mit Elektrizität einer bestimmten Qualität zu angemessenen,
leicht und eindeutig vergleichbaren und transparenten Preisen haben. Zur Gewährleistung der Bereitstellung der Grundversorgung können die Mitgliedsstaaten einen
Versorger letzter Instanz benennen.“ Die Vorgaben in Art. 3 I bis III der Gas-RL,
deren Umsetzung die Regelung des § 36 EnWG ebenfalls dient, lauten: „Die Mitgliedsstaaten ergreifen geeignete Maßnahmen zum Schutz der Endkunden und zur
Gewährleistung eines hohen Verbraucherschutzes und tragen insbesondere dafür
Sorge, dass für schutzbedürftige Kunden ein angemessener Schutz besteht, wozu
auch geeignete Maßnahmen gehören, mit denen diesen Kunden geholfen wird, den
Ausschluss von der Versorgung zu vermeiden. In diesem Zusammenhang können
sie Maßnahmen zum Schutz von Kunden in abgelegenen Gebieten treffen, die an
das Erdgasnetz angeschlossen sind. Sie können für an das Gasnetz angeschlossene
Kunden einen Versorger letzter Instanz benennen.“ Diese Vorgaben der Gas-RL
decken sich weitgehend mit den Vorgaben des Art. 3 V S. 1 und 2 sowie dem bereits
zitierten Art. 3 III S. 2 der Elt-RL.
Den Regelungen der Elt-RL und Gas-RL, die nach der Regierungserklärung
durch § 36 EnWG umgesetzt wurden, ist zu entnehmen, dass diese das Ziel verfolgen, Versorgungssicherheit für schutzwürdige Kunden – insbesondere für Haushaltskunden80 sowie Endkunden81 – sicherzustellen. Allerdings schreiben die Richtlinien keine Kontrahierungspflicht des Grundversorgers vor.82
Der deutsche Gesetzgeber knüpfte bei der Umsetzung der Art. 3 III Satz 1, 2 der
Elt-RL und Art. 3 I bis III der Gas-RL jedoch bewusst an die dem deutschen Ener-
79 BT-Drs. 15/3917, Begründung zu § 36 EnWG-E, S. 66.
80 Vgl. die Definition des Begriffs „Haushaltskunde“ in Art. 2 Nr. 10 der Elt-RL und Art. 2 Nr.
25 der Gas-RL.
81 Vgl. die Definition des Begriffs „Endkunde“ in Art. 2 Nr. 9 der Elt-RL und Art. 2 Nr. 27 der
Gas-RL.
82 Eine solche kann auch nicht aus der Formulierung des lit. a) des Anhangs A zu der Elt-RL
und Gas-RL gefolgert werden, welcher besagt, dass „mit den in Art. 3 genannten Maßnahmen
sichergestellt werden soll, dass die Kunden einen Anspruch auf einen Vertrag mit ihren Anbietern von Elektrizitäts- bzw. Gasdienstleistungen haben, in dem Folgendes festgelegt ist:
[...].“ Dadurch wird kein Anspruch des Kunden auf einen Vertragsabschluss gefordert, sondern lediglich die notwendigen inhaltlichen Regelungen eines Vertrages festgelegt. Es geht
also nicht um das „Ob“ eines Vertrages, sondern um das „Wie“.
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gierecht bereits bekannte Belieferungspflicht eines EVU an. Dies wird durch die in
der amtlichen Begründung getroffene Aussage bestätigt, dass § 36 Abs. 1 EnWG
eine an § 10 Abs. 1 EnWG (1998) angepasste Regelung enthalte, die der Trennung
der Bestimmungen zum Netzanschluss und zur Versorgung Rechnung trage sowie
den Geltungsbereich dieser Regelung auf Haushaltskunden begrenze.83 § 10 EnWG
(1998) deckte sich inhaltlich wiederum zum großen Teil mit § 6 EnWG (1935).84
Angesichts der Entstehungsgeschichte der Grundversorgungspflicht liegt es nahe,
bei der Ermittlung von Sinn und Zweck des § 36 EnWG neben dem durch die Beschleunigungsrichtlinien verfolgten Ziel der Gewährleistung der Versorgungssicherheit der als schutzwürdig erachteten Kunden auch die hinsichtlich des Sinn und
Zwecks der § 6 EnWG (1935) und § 10 EnWG (1998) vertretenen Auffassungen zu
betrachten.
2. Entstehungsgeschichte: Sinn und Zweck der § 6 EnWG (1935) und § 10 EnWG
(1998)
Unter Geltung des § 6 EnWG (1935) und § 10 EnWG (1998) herrschte Übereinstimmung darüber, dass diese Vorschriften letztendlich dem Interesse an einer sicheren und billigen leitungsgebundenen Energieversorgung nach Maßgabe der Präambel des EnWG (1935) bzw. des § 1 EnWG (1998) dienten.85 Unterschiedliche Auffassungen herrschten jedoch bezüglich der Frage, worin der Sinn und Zweck der
Kontrahierungspflicht selbst zu sehen war.
a) Missbrauchsvorbeugung
Zum großen Teil wurde vertreten, die Zielsetzung des § 6 EnWG (1935) bestehe
darin, einen Missbrauch der besonderen Marktstellung der Versorgungsunternehmen
zu Lasten der Kunden zu verhindern.86 Da bis zur Abschaffung der kartellrechtlichen Ausnahmebereiche dem einzelnen Anschluss- und Versorgungspetenten nur
ein einzelner Gebietsversorger gegenüberstand, wurde argumentiert, dass dessen
marktbeherrschende Stellung durch den in § 6 EnWG (1935) normierten Kontrahie-
83 BT-Drs. 15/3917, Begründung zu § 36 EnWG-E, S. 66. Eine Begrenzung des Geltungsbereichs ist darin zu sehen, dass der Kreis der Anspruchsberechtigten deutlich eingeschränkt
wird, indem nur noch Haushaltskunden einen Anspruch auf Vertragsabschluss haben.
84 Danner, in: Danner/Theobald, EnWG, § 10 Rn. 1; Schweers, VEnergR 97, S. 21; vgl. auch
Regierungsbegründung zu § 4 EnWG-E (1998), dem späteren § 10 EnWG (1998), in welcher
der Gesetzgeber zum Ausdruck bringt, dass die sachlichen Bewertungskriterien des alten
Ordnungsrahmens weiterhin Geltung beanspruchen sollen: BT-Drs. 13/7274, Begründung zu
§ 4 EnWG-E, S. 16.
85 Hempel, in: Ludwig/Odenthal, EnWG, § 10 Rn. 20.
86 Scholz, VEnergR 79, S. 52; Büdenbender, Energierecht Rn. 754; Gerigk, VEnergR 11, S. 9,
11; Henckel, VEnergR 25/26, S. 73.
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rungszwang zugunsten des dieser Marktmacht ansonsten ausgelieferten Kunden
ausgeglichen werden sollte.87 Daher normierte die Anschluss- und Versorgungspflicht nach dieser Auffassung ein gesetzliches Korrelat zu der monopolartigen
Marktstellung der EVU im Verhältnis zu ihren Abnehmern.88 Als Korrelat sollte die
Anschluss- und Versorgungspflicht wiederum zur Durchsetzung einer sicheren und
billigen Energieversorgung verhelfen.89 Insoweit unterschied diese Auffassung zwischen dem durch das EnWG im Allgemeinen verfolgten Ziel und der Zielsetzung
des § 6 EnWG (1935). Während als Hauptziele des EnWG die in der Präambel ausdrücklich genannte Sicherheit und Billigkeit der Energieversorgung angesehen wurden90, wurde das Ziel des Kontrahierungszwangs nach dieser Auffassung in der
Verhinderung des Marktmissbrauchs durch das EVU gesehen. Dementsprechend
war der Kontrahierungszwang nach dieser Auffassung zwar ein Instrument, um die
Ziele des EnWG zu erreichen91, die Erreichung dieser Ziele war jedoch nicht der
dem Kontrahierungszwang eigene Sinn und Zweck.
Auch nach dem Fortfall der rechtlichen Monopolstellung der EVU im Zuge der
Liberalisierung wurde die durch die Regelung des § 10 EnWG (1998) beibehaltene
Abschluss- und Versorgungspflicht mehrheitlich weiterhin als ein abnehmerschützendes Korrelat zur Marktmacht des EVU angesehen. Zu diesem Verständnis trug
unter anderem auch die Regierungsbegründung zu § 10 EnWG (1998) bei, wonach
durch die Aufrechterhaltung der die Vertragsfreiheit einschränkenden Regelung in §
10 EnWG (1998) der Prognose Rechnung getragen werden sollte, dass sich der
rechtlich ermöglichte freie Wettbewerb in der Energiewirtschaft – wenn im Tarifkundenbereich überhaupt – erst über einen längeren Zeitraum entfalten würde, so
dass Monopole faktischer Natur zunächst weiterbestehen würden.92
Die Auffassung, dass der Sinn und Zweck der Anschluss- und Versorgungspflicht
darin liege, einen Missbrauch der besonderen Marktstellung der Versorgungsunternehmen zu Lasten der Kunden zu verhindern, hängt mit der Entstehungsgeschichte
des § 6 EnWG zusammen. Bereits vor dem Erlass des EnWG (1935) hat das
Reichsgericht93 auf der Grundlage des § 826 BGB und §§ 19, 20 GWB das Institut
des Monopolmissbrauchs entwickelt und dabei nicht nur die rechtlich begründeten
Monopole, sondern gleichermaßen die gemeint, die ihre Grundlage im Tatsächlichen
haben.94 Da diese Monopolrechtsprechung des Reichsgerichts als Grundlage des § 6
EnWG (1936) anerkannt war95, wurde § 6 EnWG als Ausfluss des Monopolmiss-
87 Schweers, VEnergR 97, S. 26; Scholz, VEnergR 79, S. 52.
88 Büdenbender, Energierecht Rn. 754; Gerigk, VEnergR 11, S. 9, 11; Henckel, VEnergR 25/26,
S. 73; Scholz, VEnergR 79, S. 52.
89 Scholz, VEnergR 79, S. 52.
90 Scholz, VEnergR 79, S. 51.
91 Scholz, VEnergR 79, S. 51.
92 BT-Drs. 13/7274, Begründung zu § 4 EnWG-E, S. 16; BGH, RdE 1998, 74, 77; BGH, RdE
1998, 79, 82.
93 RGZ 132, 273, 276; 143, 24, 28.
94 Schulz-Jander, VEnergR 67, S. 79.
95 Büdenbender, Energierecht, Rn. 753; Gerigk, VEnergR 11, S. 8.
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brauchs angesehen.96 Dies führte zu der Auffassung, bei dem in § 6 EnWG (1935)
und § 10 EnWG (1998) normierten Kontrahierungszwang handele es sich lediglich
um eine spezialgesetzliche Ausformung jenes Kontrahierungszwanges, der generell
für Monopolisten gemäß § 826 BGB und §§ 19, 20 GWB gelte und einem
Machtmissbrauch vorbeugen solle.97
b) Versorgungssicherheit
Abweichend von der oben dargestellten Meinung wurde teilweise vertreten, dass in
den Regelungen der § 6 EnWG (1935) und § 10 EnWG (1998) kein Korrelat zu der
Monopol- bzw. monopolähnlichen Stellung des EVU zu sehen sei, sondern eine von
den wettbewerbsrechtlichen Bedingungen unabhängige Versorgungspflicht, die
durch die Verpflichtung des EVU zum Vertragsabschluss auf erstes Anfordern dem
allgemeinen Interesse an einer sicheren Energieversorgung diene, auf die Angewiesenheit der Verbraucher bzgl. Energieversorgung reagiere und bereits aus der Aufnahme der Versorgungstätigkeit in einem „bestimmten Gebiet“ folge.98 Der Sinn
und Zweck des Kontrahierungszwanges war nach dieser Auffassung allein in der
Gewährleistung der Versorgungssicherheit zu sehen, so dass dieser sich mit dem
durch das EnWG verfolgten Zweck deckte.99
Diese Auffassung warf der vorgenannten vor, nicht zwischen bloßer Wirtschaftsaufsicht und Wirtschaftslenkung zu unterscheiden. Es wurde argumentiert,
dass eine auf zivil- und wettbewerbsrechtliche Vorschriften gestützte Versorgungspflicht im Rahmen einer Wirtschaftsaufsicht erfolge, welche das System eines freien
und unverfälschten Wettbewerbes erhalten und vor Störungen schützen wolle. Es
handele sich dabei um eine reaktive Form der Gefahren- und Missbrauchsabwehr
ohne eine lenkungspolitische Motivation.100 Dementsprechend entfalle der wettbewerbliche Kontrahierungszwang, sobald die Beeinträchtigung des wettbewerblichen
Leitbildes – infolge des Markteintritts konkurrierender Versorgungsunternehmen in
einem Versorgungsgebiet – nicht mehr bestehe.101 Davon zu unterscheiden seien
wirtschaftlenkende Maßnahmen, welche aktiv auf die Durchsetzung bestimmter,
96 Schulz-Jander, VEnergR 67, S. 78.
97 Fischerhof, DÖV 1957, 305, 307; Gerigk, VEnergR 11, S. 8, 13.
98 Rinne, Die Energiewirtschaft zwischen Wettbewerb und öffentlicher Aufgabe, S. 89;
Scholz/Langer, Europäischer Binnenmarkt, S. 161 f.; Busche, Privatautonomie und Kontahierungszwang, S. 486 f.; Säcker/Dörmer, in: Säcker, Neues Energierecht, S. 286; Schick, Probleme des Stromlieferantenwechsels, S. 188.
99 Rinne, Die Energiewirtschaft zwischen Wettbewerb und öffentlicher Aufgabe, S. 89;
Scholz/Langer, Europäischer Binnenmarkt, S. 161; Busche, Privatautonomie und Kontahierungszwang, S. 486 f.
100 Recknagel, RdE 1985, 224, 225; Scholz/Langer, Europäischer Binnenmarkt, S. 123 ff.; Rinne,
Die Energiewirtschaft zwischen Wettbewerb und öffentlicher Aufgabe, S. 89.
101 Rinne, Die Energiewirtschaft zwischen Wettbewerb und öffentlicher Aufgabe, S. 89;
Scholz/Lange, S. 125.
36
politisch gewünschter Wirtschaftsfunktionen gerichtet sind. Der energierechtliche
Kontrahierungszwang wurde von dieser Auffassung als eine wirtschaftslenkende
Maßnahme angesehen, die die verwaltungsrechtliche Ausformung des gemeinwirtschaftlichen Interesses an einer allgemeinen und sicheren Energieversorgung verkörpere und unabhängig von wettbewerbsrechtlichen Bindungen stets zu bejahen
sei, sofern eine Versorgungstätigkeit in einem bestimmten Gebiet aufgenommen
werde. Es wurde vertreten, dass die allgemeine Versorgungspflicht des § 6 EnWG
(1935) keine Monopolmacht voraussetze, sondern unabhängig von der Wettbewerbsposition das Ziel einer sicheren Energieversorgung für jedermann habe. Dafür
wurde die Tatsache vorgebracht, dass die Anschluss- und Versorgungspflicht gegenüber einem Gasversorgungsunternehmen auch bei einem bestehenden Substitutionswettbewerb im Bereich des Wärmemarktes gelte, ohne dass es dabei auf eine
marktbeherrschende Stellung dieses Unternehmens ankäme, sofern sich das jeweilige Gasversorgungsunternehmen zur Versorgung eines bestimmten Gebietes bereit
erklärt habe.102 Ferner wurde auf die Unterschiede hinsichtlich der inhaltlichen
Reichweite der Versorgungspflicht des § 6 EnWG (1935) und dem aus § 826 BGB
bzw. § 20 GWB folgenden Kontrahierungszwang hingewiesen.103 Während nämlich
die wettbewerbsrechtlichen Vorschriften bei einem Anstieg der Nachfrager den
Kontrahierungspflichtigen nicht zu einer Erweiterung des Angebots verpflichten,
sondern lediglich den momentanen Versorgungszustand garantieren104, verpflichtet
die energierechtliche Anschluss- und Versorgungspflicht die EVU, ihre Kapazitäten
bei Nachfragesteigerung zu erweitern.105 Aufgrund dieser Unterschiede zwischen
dem energierechtlichen und dem wettbewerbsrechtlichen Kontrahierungszwang
wurde eine eigenständige Bedeutung von § 6 I EnWG (1935) und § 10 EnWG
(1998) bejaht und die Kontrahierungspflicht nicht lediglich als Korrelat zu der Monopol(ähnlichen) Stellung eines EVU, sondern als eine von der Wettbewerbsposition
unabhängige Maßnahme angesehen, die durch die Verpflichtung des EVU zum
Vertragsabschluss auf erstes Anfordern dem Ziel einer sicheren Versorgung dient.106
3. Schlussfolgerung hinsichtlich des Sinn und Zwecks des § 36 I 1 EnWG unter
Einbeziehung des Willens des Gesetzgebers
Die wertende Gegenüberstellung der Argumente der zuvor dargestellten Auffassungen zum Sinn und Zweck der §§ 6 EnWG (1935) und 10 EnWG (1998) spricht da-
102 Rinne, Die Energiewirtschaft zwischen Wettbewerb und öffentlicher Aufgabe, S. 89.
103 Rinne, Die Energiewirtschaft zwischen Wettbewerb und öffentlicher Aufgabe, S. 89.
104 Möschel, Wettbewerbsbeschränkungen, Rn. 637; Busche, Privatautonomie und Kontahierungszwang, S. 139.
105 Vgl. Scholz, VEnergR, 79, S. 90; Rinne, Die Energiewirtschaft zwischen Wettbewerb und
öffentlicher Aufgabe, S. 90.
106 Rinne, Die Energiewirtschaft zwischen Wettbewerb und öffentlicher Aufgabe, S. 89; Busche,
Privatautonomie und Kontahierungszwang, S. 486 f.
37
für, den Sinn und Zweck der Grundversorgung in der Gewährleistung von Versorgungssicherheit zu sehen. Auch wenn die enrgierechtliche Belieferungspflicht aus
dem Institut des Monopolmißbrauchs entwickelt wurde, bestehen zwischen dem
energierechtlichen und dem wettbewerblichen Kontrahierungszwang erhebliche
Unterschiede, die dazu führen, dass der energierechtliche Kontrahierungszwang als
eine wirtschaftslenkende Maßnahme anzusehen ist.
Diese Auffassung wird nunmehr auch durch die Regelung des § 36 II EnWG sowie den dieser Regelung zugrunde liegenden gesetzgeberischen Willen gestützt. Der
Gesetzgeber des § 36 EnWG stellte in der Regierungsbegründung zu § 36 EnWG –
anders als noch in der Regierungsbegründung zu § 10 EnWG (1998) – gerade nicht
auf die Prognose der fortbestehenden faktischen Monopolstellung der EVU ab.
Zwar wird die Feststellung des Grundversorgers nach § 36 II EnWG in der Regierungsbegründung so beschrieben, dass dabei an die Marktstellung des Unternehmens
bei der Belieferung von Haushaltskunden in den jeweiligen Netzgebieten angeknüpft werde.107 Allerdings zeigt die Regierungsbegründung zu § 30 EnWG, dass
die Verfasser der Regierungsbegründung bei der Verwendung des Begriffes „Marktstellung“ nicht von der marktbeherrschenden Stellung eines Unternehmens im Sinne
der §§ 19 und 20 GWB ausgegangen sind.108 Im Übrigen ergibt sich aus der Begründung zu § 36 EnWG nicht, dass die Grundversorgungspflicht bei einem funktionierendem Wettbewerb und dem damit einhergehendem Fortfall der faktischen
Monopole entfallen solle. Vielmehr spricht die Tatsache, dass der Gesetzgeber in
Art. 5 III des Zweiten Gesetzes zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts zwar
die BTOElt zum 01.07.2007 außer Kraft gesetzt hat, nicht aber die Regelung des §
36 EnWG, dafür, dass der Gesetzgeber die Grundversorgungspflicht auch bei funktionierendem Wettbewerb beibehalten wollte. Hintergrund für den Fortfall der
BTOElt zum 01.07.2007 war nämlich die Prognose des Gesetzgebers, dass sich zu
diesem Zeitpunkt der Wettbewerb in einem solchen Maße entwickelt haben werde,
dass es keiner ex-ante-Preiskontrolle mehr bedürfe.109 Da die Feststellung des
Grundversorgers keine entsprechende Endschaftsbestimmung erfahren hat, ist davon
auszugehen, dass eine Feststellung des Grundversorgers auch bei einem funktionierendem Wettbewerb bzw. bei Fortfall der Monopolstellungen zu erfolgen hat.
Auch aus § 36 II 1 EnWG ergibt sich, dass die Kontrahierungspflicht nach der
neuen Rechtslage unabhängig von einer faktischen Monopolstellung des EVU ist.
Nach der Regelung des § 36 II 1 EnWG ist ein Lieferant nämlich auch dann als
Grundversorger festzustellen, wenn dieser nur wenige Haushaltskunden mehr versorgt als ein konkurrierendes EVU; eine relative Mehrheit reicht also diesbezüglich
aus.110 Ferner folgt aus § 36 II 1 EnWG, dass die Grundversorgungspflicht auch
dann bis zur nächsten Feststellung bei dem bisherigen Grundversorger verbleibt,
wenn dieser zwischenzeitlich eine große Zahl seiner Haushaltskunden an ein bzw.
107 BT-Drs. 15/3917, Begründung zu § 36 EnWG-E, S. 66.
108 BT-Drs. 15/3917, Begründung zu § 30 EnWG-E, S. 63.
109 Vgl. BRat-Drs. 735/06, S. 1.
110 Büdenbender/Rosin, Energierechtsreform, S. 276.
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mehrere konkurrierende Unternehmen verloren hat und demzufolge nicht mehr die
meisten Haushaltskunden im Netzgebiet der allgemeinen Versorgung beliefert. Eine
Änderungsentscheidung für den Fall, dass sich die Verhältnisse während der dreijährigen Geltung der Feststellungsentscheidung ändern, ist in § 32 II EnWG nicht vorgesehen und würde die dreijährige Geltungsdauer unterlaufen.111 Das Feststellungsverfahren macht deutlich, dass das Gesetz einen permanenten Wechsel des Grundversorgers verhindern will.112 Dies spricht dafür, dass eine starke Marktstellung für
das Bestehen der Grundversorgungspflicht nicht (mehr) von Bedeutung ist. Damit
ließe sich nicht vereinbaren, den Sinn und Zweck der Grundversorgungspflicht weiterhin in der Verhinderung von Machtmissbräuchen durch die Lieferanten zu sehen.113
4. Ergebnis
Im Ergebnis ist daher festzustellen, dass der Sinn und Zweck der Grundversorgungspflicht in der Gewährleistung der Versorgungssicherheit für die – auch von der
Elt-RL – als besonders schutzwürdig erachteten Haushaltskunden zu sehen ist.
V. Grenzen der Verpflichtung zur Grundversorgung
Die in ihrem Umfang sehr umfassende Grundversorgungsverpflichtung wird durch
die Regelungen der § 36 I 2 EnWG sowie § 37 EnWG eingeschränkt. So besteht die
Pflicht zur Grundversorgung gem. § 36 I 2 EnWG nicht, wenn die Versorgung für
das EVU aus wirtschaftlichen Gründen nicht zumutbar ist. Daneben bestimmt § 37 I
1 EnWG, dass derjenige, der zur Deckung des Energiebedarfs eine Anlage zur Erzeugung von Energie betreibt oder sich von einem Dritten versorgen lässt, keinen
Anspruch auf eine Grundversorgung nach § 36 I 1 EnWG hat.
Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, wann die Voraussetzungen der §§
36 I 2, 37 I 1 EnWG zu bejahen sind und welche Folgen bei Eingreifen dieser Einschränkungen entstehen.
1. Wirtschaftliche Unzumutbarkeit ( § 36 I 2 EnWG)
§ 36 I 2 EnWG bildet eine explizite Schranke der Versorgungspflicht. Besteht die
wirtschaftliche Unzumutbarkeit bereits vor Aufnahme des Versorgungsverhältnis-
111 Büdenbender/Rosin, Energierechtsreform, S. 276.
112 Scholz, in: Bartsch/Röhling/Salje/Scholz, Stromwirtschaft, S. 971, Rn. 20.
113 a.A.: Hempel, in: Hempel/Franke, EnWG, § 36 Rn. 10, 22.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Nach der Liberalisierung des Energiemarktes müssen sich die auf der Vertriebsebene tätigen Energieversorgungsunternehmen dem Wettbewerb mit anderen Lieferanten stellen, womit die Wahrscheinlichkeit der Insolvenz dieser Unternehmen steigt.
Die Autorin widmet sich der Untersuchung der mit der Insolvenzeröffnung über das Vermögen eines Grundversorgers zusammenhängenden rechtlichen Fragen. Ausgehend von den veränderten Rahmenbedingungen wird zunächst die Reichweite der den Grundversorger gem. §§ 36, 38 EnWG treffenden Grund- und Ersatzversorgungspflichten erörtert. Einen Kernpunkt der Untersuchung bildet die Frage des Fortbestandes dieser Pflichten auch nach der Insolvenzeröffnung.
Abschließend wird die Vereinbarkeit von Versorgungssicherheit und Gläubigerbefriedigung im Insolvenzverfahren anhand der Auswirkungen der Insolvenzeröffnung auf die Befriedigung der aus §§ 36 (i.V.m. StromGVV), 38 EnWG resultierenden Ansprüche einerseits und der §§ 36, 38 EnWG auf das Ziel der bestmöglichen Gläubigerbefriedigung andererseits analysiert.