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II. Inhalt der Grundversorgungspflicht
1. Allgemeine Bedingungen/Allgemeine Preise
Die Allgemeinen Bedingungen für die Haushaltskundenversorgung i.S.d. § 36 I 1
EnWG werden vorwiegend durch die Stromgrundversorgungsverordnung
(StromGVV33), die an die Stelle der zuvor geltenden Verordnung über Allgemeine
Bedingungen für die Elektrizitätsversorgung von Tarifkunden (AVBVElt34) getreten
ist, vorgegeben. Durch den Erlass der StromGVV hat der Verordnungsgeber von der
in § 39 II 1 EnWG normierten Ermächtigung zur Ausgestaltung der allgemeinen
Bedingungen für die Belieferung von Haushaltskunden in Niederspannung mit Energie im Rahmen der Grund- oder Ersatzversorgung sowie zur einheitlichen Festsetzung der Bestimmungen der Verträge Gebrauch gemacht. Gem. § 1 I 2
StromGVV sind die Bestimmungen der StromGVV Bestandteil des Grundversorgungsvertrages zwischen Grundversorgern und Haushaltskunden. Ohne auf die
einzelnen Regelungen der StromGVV einzugehen35, ist an dieser Stelle festzuhalten,
dass dem Grundversorger eigene Rechtsgestaltungen nur in begrenztem Umfang
möglich sind, nämlich dort, wo die StromGVV dem Grundversorger einen Spielraum zur Ausfüllung überlässt (z.B. im Teil 4 der StromGVV), wobei der durch die
StromGVV vorgegebene Ermächtigungsrahmen eingehalten werden muss.36 Die
eigenen Rechtsgestaltungen können in Form von ergänzenden Allgemeinen Geschäftbedingungen oder Individualvereinbarungen geregelt werden.37
Anderes gilt für die Allgemeinen Preise. Die unter der Geltung des EnWG (1935)
und EnWG (1998) die Allgemeinen Tarife regelnde Verordnung BTOElt38 trat entsprechend dem Art. 5 III EnWG am 01.07.2007 außer Kraft. Von der in § 39 I
EnWG normierten Ermächtigung zum Erlass einer Verordnung hinsichtlich der
Gestaltung der Allgemeinen Preise wurde bisher kein Gebrauch gemacht, wodurch
der wettbewerblichen Ausrichtung des EnWG Rechnung getragen wird. Dementsprechend ist der Grundversorger bei der Gestaltung der Allgemeinen Preise, wie
jeder andere Stromlieferant auch, lediglich einer kartellrechtlichen Missbrauchskon-
33 Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Grundversorgung von Haushaltskunden
und die Ersatzversorgung mit Elektrizität aus dem Niederspannungsnetz vom 26.10.2006
(BGBl. I 2006, S. 2391).
34 Verordnung über Allgemeine Bedingungen füt die Elektrizitätsversorgung von Tarifkunden
vom 21.06.1979 (BGBl. I S. 684).
35 Näher hierzu: Thomale, ET 2007, Heft 8, S. 61 ff.; Rottnauer, RdE 2008, 105 ff.; vom Wege/Finke, ZNER 116 ff.
36 Vgl. Büdenbender, Energierecht, Rn. 863; Weiland, ET 1980, 173, 174.
37 de Wyl, in: Schneider/Theobald, Recht der Energiewirtschaft, § 13 Rn. 88.
38 Verordnung über allgemeine Tarife für die Versorgung mit Elektrizität vom 18.12.1989
(BGBl. I S. 2255).
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trolle nach GWB39 unterworfen.40 Dabei ist insbesondere die für die Energiewirtschaft geltende Sonderregelung des § 29 GWB41 hervorzuheben.
2. Umfang der Grundversorgung
Die Grundversorgung ist ihrem Umfang nach eine Vollversorgung. Es ist der gesamte Energiebedarf des Haushaltskunden zu decken.42 Dies wird durch § 4 I 1
StromGVV konkretisiert. Danach ist der Kunde für die Dauer des Grundversorgungsvertrages verpflichtet, seinen gesamten leitungsgebundenen Elektrizitätsbedarf
aus den Elektrizitätslieferungen des Grundversorgers zu decken. Aus diesem Grund
ist der Grundversorgungsvertrag unter die Kategorie des Vollversorgungsvertrages43
einzuordnen. Kennzeichnend für einen Vollversorgungsvertrag ist gerade, dass der
Kunde seinen kompletten Energiebedarf von einem einzigen Lieferanten bezieht.44
Der Umfang der Verpflichtungen des Grundversorgers wird in § 6 StromGVV normiert. Entsprechend der den Haushaltskunden nach § 4 I 1 StromGVV treffenden
Pflicht wird der Grundversorger in § 6 II 1 StromGVV dazu verpflichtet, den Elektrizitätsbedarf des Kunden im Rahmen des § 36 EnWG zu befriedigen und dem Kunden für die Dauer des Grundversorgungsvertrages im vertraglich vorgesehenen Umfang jederzeit Elektrizität zur Verfügung zu stellen. Die Reichweite der Belieferungspflicht richtet sich also nach dem Bedarf des Kunden. Dies ist typisch für einen
Vollversorgungsvertrag, welcher eine Fallgruppe von offenen Lieferverträgen darstellt.45 Kennzeichnend für alle sog. offenen Lieferverträge ist gerade, dass weder
die Liefermenge noch die Lieferzeit von Anfang an festgelegt ist, sondern sich nach
dem Bedarf des Kunden richtet.46 Ferner ist der Grundversorger gem. § 6 I 1
StromGVV verpflichtet, die für die Durchführung der Grundversorgung erforderlichen Netzverträge mit Netzbetreibern abzuschließen. Weiterhin ist der Grundversorger gem. § 6 I 2, II 1 StromGVV verpflichtet, die ihm möglichen Maßnahmen zu
treffen, um dem Kunden am Netzanschluss, zu dessen Nutzung dieser berechtigt ist,
jederzeit Elektrizität zu den Allgemeinen Preisen und Bedingungen zur Verfügung
zu stellen. Die Regelung des § 6 I StromGVV führt zur Klassifizierung des Grund-
39 GWB in der Fassung vom 15. 07.2004 (BGBl. I S. 2114), zuletzt geändert durch Art. 1a des
Gesetzes vom 18.12.2007 (BGBl. I S. 2966).
40 Rottnauer, RdE 2008, 105, 107.
41 Vorschrift eingefügt durch Art. 1a des Gesetzes zur Bekämpfung von Preismissbrauch im
Bereich der Energieversorgung und des Lebensmittelhandels vom 18.12.2007 (BGBl. I S.
2966).
42 Hempel, in: Hempel/Franke, EnWG, § 36 Rn. 125.
43 Ausführlich dazu: de Wyl/Essig, in: Schneider/Theobald, Recht der Energiewirtschaft, § 11
Rn. 9 ff.
44 de Wyl/Essig, in: Schneider/Theobald, in: Recht der Energiewirtschaft, § 11 Rn. 9.
45 de Wyl/Essig, in: Schneider/Theobald, in: Recht der Energiewirtschaft, § 11 Rn. 9.
46 Koenig/Kühling/Rasbach, Energierecht, S. 151.
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versorgungsvertrags als all-inclusive-Vertrag47. Bei einem all-inclusive-Vertrag
verpflichtet sich der Lieferant dazu, die zum Energiebezug erforderlichen Verträge
mit dem Netzbetreiber im eigenen Namen abzuschließen. Die dabei anfallenden
Netznutzungskosten stellt der Lieferant dem Kunden anschließend – zusätzlich zum
Energiepreis – in Rechnung.48 Die Frage, welche Verträge vom Grundversorger
abzuschließen sind, um seiner Pflicht aus § 6 I 1 StromGVV zu genügen, wird im
Folgenden49 eingehend erörtert. Festzuhalten ist, dass es sich bei einem Grundversorgungsvertrag um einen offenen Stromlieferungsvertrag handelt, der als Vollversorgungsvertrag in Form eines all-inclusive-Vertrags ausgestaltet ist.
3. Mittelbare Investitionspflicht
Zwar enthält das EnWG keine Vorschrift, die ausdrücklich eine Investitionspflicht
des Grundversorgers statuiert, allerdings ergibt sich eine solche mittelbar aus der in
§ 36 I 1 EnWG enthaltenen Belieferungspflicht.50 Zur Grundversorgungspflicht
gehört, dass das verpflichtete Unternehmen nicht nur den aktuellen, sondern den
möglichen Leistungsbedarf potentiell neuer Kunden bereithält.51 § 36 EnWG verpflichtet nämlich den Grundversorger bei Vorliegen der darin normierten Tatbestandsvoraussetzungen per se zur Befriedigung aller im Rahmen der Allgemeinen
Bedingungen und Preise liegenden Versorgungsbedürfnisse.52 Daraus erwächst die
Obliegenheit des Grundversorgers, auch die kurzfristigen und unvorhergesehenen
Belieferungsansprüche zu erfüllen. Die Grundversorgungspflicht erfordert also eine
ständige Anpassung der Lieferkapazitäten an die veränderte Bedarfssituation.53 Um
dieser Pflicht zu genügen, muss der Grundversorger entweder Erzeugungs- bzw.
Kraftwerkskapazität in einem erheblichen Umfang vorhalten oder Energie (kurzfristig) auf dem Markt beschaffen.54 Dabei verursachen sowohl die Vorhaltung der
Energie als auch deren kurzfristige Beschaffung erhebliche Kosten.55
47 Ausführlich dazu: Koenig/Kühling/Rasbach, Energierecht, S. 150; de Wyl/Essig, in: Schneider/Theobald, Recht der Energiewirtschaft, § 11 Rn. 13 f.
48 Koenig/Kühling/Rasbach, Energierecht, S. 150; de Wyl/Essig, in: Schneider/Theobald, Recht
der Energiewirtschaft, § 11 Rn. 13.
49 Vgl. S. 104 ff.
50 Vgl. Scholz, VEnergR 79, S. 90.
51 Hampel, ZNER 2004, 117, 126; Scholz, VEnergR 79, S. 90.
52 Vgl. Scholz, VEnergR 79, S. 90.
53 Vgl. Scholz, VEnergR 79, S. 90.
54 Bydlinski, Hämmerle-FS, 31, 37, der die Erforderlichkeit der Vorhaltung von
Kraftwerkskapazitäten auch schon vor der Liberalisierung verneinte.
55 Vgl. Hampel, ZNER 2004, 117, 126.
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III. Rechtsnatur des Grundversorgungsanspruchs
Klärungsbedürftig ist die Frage, ob die Regelung des § 36 I 1 EnWG durch die darin
normierte Verpflichtung des Grundversorgers, jeden Haushaltskunden zu den von
ihm veröffentlichten Allgemeinen Bedingungen und Allgemeinen Preisen zu versorgen, ein gesetzliches Schuldverhältnis hinsichtlich der Energielieferung zwischen
dem Grundversorger und einem Haushaltskunden normiert oder lediglich einen
Kontrahierungszwang des Grundversorgers zum Abschluss von Verträgen mit
Haushaltskunden auslöst.
Im Unterschied zum gesetzlichen Schuldverhältnis, das eine unmittelbare Verpflichtung zur Erbringung einer realen Leistung begründet56, begründet der Kontrahierungszwang eine Verpflichtung zum Vertragsabschluss57. Nach der am weitesten
verbreiteten Definition des Kontrahierungszwanges handelt es sich dabei um die auf
Grund einer Norm der Rechtsordnung einem Rechtssubjekt ohne seine Willensbildung im Interesse eines Begünstigten auferlegte Verpflichtung, mit diesem einen
Vertrag bestimmten oder von unparteiischer Seite zu bestimmenden Inhalts abzuschließen.58 Zur Klarstellung sei darauf hingewiesen, dass auch im Falle eines gesetzlichen Abschlusszwanges ein gesetzliches Schuldverhältnis begründet wird59,
allerdings beinhaltet dieses gesetzliche Schuldverhältnis nur die Verpflichtung des
Kontrahierungspflichtigen zur Abgabe einer auf den Vertragsschluss zielenden Willenserklärung, nicht aber dessen Pflicht zur Erbringung einer realen Leistung.60
Dementsprechend steht dem durch den Kontrahierungszwang Begünstigten kein
unmittelbarer gesetzlicher Anspruch auf die Erbringung der realen Leistung, sondern
lediglich ein Anspruch auf einen Vertragsschluss zu.61 Ein Anspruch des durch den
Kontrahierungszwang Begünstigten auf die Erbringung einer realen Leistung folgt
erst aus einem dem gesetzlichen Schuldverhältnis des Kontrahierungszwanges nachgelagertem vertraglichen Schuldverhältnis.
Zu klären ist also, ob die in § 36 I 1 EnWG normierte Verpflichtung eine vom
Vertragsrecht losgelöste abstrakte Belieferungspflicht des Grundversorgers begründet oder ob die Belieferungspflicht erst durch den Abschluss eines Vertrages ausgelöst wird.
Für das Vorliegen eines gesetzlichen Schuldverhältnisses könnte der Wortlaut des
§ 36 EnWG sprechen. Während im Zusammenhang mit § 46 II 1 EnWG ausdrücklich von einer Pflichterfüllung der Gemeinde durch Vertrag die Rede ist, enthält § 36
EnWG dem Wortlaut nach eine gesetzliche Verpflichtung des Grundversorgers
unmittelbar zur Leistung.62 Damit fehlt scheinbar das für den Kontrahierungszwang
56 Hermes, ZHR 2002, 433, 449.
57 Nipperdey, Kontrahierungszwang, S. 87, 89, 116 ff., 119 ff.; Bydlinski, AcP 180 (1980), 1,
16.
58 Nipperdey, Kontrahierungszwang, S. 7.
59 BGH, NJW 1974, 1093, 1904; MüKo-Kramer, BGB, Vor § 145 Rn. 12.
60 MüKo-Kramer, Vor § 145 Rn. 12.
61 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 248 f.
62 Vgl. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 473.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Nach der Liberalisierung des Energiemarktes müssen sich die auf der Vertriebsebene tätigen Energieversorgungsunternehmen dem Wettbewerb mit anderen Lieferanten stellen, womit die Wahrscheinlichkeit der Insolvenz dieser Unternehmen steigt.
Die Autorin widmet sich der Untersuchung der mit der Insolvenzeröffnung über das Vermögen eines Grundversorgers zusammenhängenden rechtlichen Fragen. Ausgehend von den veränderten Rahmenbedingungen wird zunächst die Reichweite der den Grundversorger gem. §§ 36, 38 EnWG treffenden Grund- und Ersatzversorgungspflichten erörtert. Einen Kernpunkt der Untersuchung bildet die Frage des Fortbestandes dieser Pflichten auch nach der Insolvenzeröffnung.
Abschließend wird die Vereinbarkeit von Versorgungssicherheit und Gläubigerbefriedigung im Insolvenzverfahren anhand der Auswirkungen der Insolvenzeröffnung auf die Befriedigung der aus §§ 36 (i.V.m. StromGVV), 38 EnWG resultierenden Ansprüche einerseits und der §§ 36, 38 EnWG auf das Ziel der bestmöglichen Gläubigerbefriedigung andererseits analysiert.