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Kapitel 1 – Einleitung
A. Problemaufriss
Bis zur Liberalisierung der Energiewirtschaft war die Frage der Insolvenz von Energieversorgungsunternehmen (im Folgenden: EVU) 1 praktisch nicht bedeutsam und
wurde auch in der wissenschaftlichen Literatur nicht erörtert. Dies ist auf die monopolistische Stellung zurückzuführen, die die in Deutschland tätigen EVU bis der
Liberalisierung des Energiemarktes inne hatten und durch welche die ökonomischen
Risiken dieser Unternehmen eher beschränkt waren.2 Die Struktur der bundesdeutschen Energieversorgung war durch ein System geschlossener Versorgungsgebiete
gekennzeichnet, das einem Stromlieferanten die ausschließliche, nicht durch die
Konkurrenz anderer Energieversorger beeinträchtigte Versorgungszuständigkeit
innerhalb eines bestimmten Gebietes zuwies.3 Die Gebietsmonopole der EVU wurden durch horizontal wirkende Demarkationsverträge zwischen benachbarten EVU
bewirkt, in welchen diese vereinbarten, wechselseitigen Wettbewerb im jeweils
anderen Versorgungsgebiet zu unterlassen. Abgesichert wurden diese Vereinbarungen durch sog. Ausschließlichkeitsrechte, welche sich die EVU in ihren jeweiligen
mit der örtlich betroffenen Gemeinde abgeschlossenen Wegenutzungsverträgen
sicherten. Schließlich beinhalteten die Strom- und Gaslieferverträge zwischen den
weiterverteilenden EVU und ihren Vorlieferanten Klauseln, wonach der Vorlieferant
nicht die Kunden des Abnehmers beliefern durfte, womit eine vertikale Demarkation
stattgefunden hat.4 Diese Versorgungsstruktur wurde durch das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen legalisiert, indem § 103 I GWB a.F.5 eine Sonderregelung
enthielt, die den Abschluss der oben erörterten Verträge auch unter Verstoß gegen
§§ 1, 15 und 18 GWB a.F. gestattete.6 Dies beruhte auf der gesetzgeberischen Erwägung, dass der Wettbewerb konkurrierender EVU aufgrund der technischen und
wirtschaftlichen Besonderheiten der Energieversorgung nicht zu einer Verbesserung,
1 Nach § 3 Nr. 18 EnWG sind EVU natürliche oder juristische Personen, die Energie an andere
liefern, ein Energieversorgungsnetz betreiben oder an einem Energieversorgungsnetz als Eigentümer Verfügungsbefugnis besitzen.
2 Vgl. Büdenbender, EnWG, § 10 Rn. 134.
3 Scholz, VEnergR 79, S. 25.
4 Scholz, VEnergR 79, S. 25 ff.; Masing, VerwR 36, 1, 13; Theobald, in: Schneider/Theobald,
Handbuch zum Recht der Energiewirtschaft (1. Aufl.), § 1 Rn. 56.
5 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen in der Fassung der Bekanntmachung vom 20.
Februar 1990 (BGBl. I S. 730).
6 Theobald, in: Schneider/Theobald, Handbuch zum Recht der Energiewirtschaft (1. Aufl.), § 1
Rn. 56; Büdenbender, JuS 1978, 150, 155.
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sondern zu einer Verschlechterung der Versorgungsverhältnisse führen würde.7
Angesichts des Umstands, dass die Versorgung der Allgemeinheit mit Energie „zur
Sicherung einer menschenwürdigen Existenz unumgänglich“8 ist und damit dem
Bereich der Daseinsvorsorge unterfällt,9 wurde die monopolistische Versorgungsstruktur in der Energiewirtschaft insoweit zugunsten der Versorgungssicherheit in
Kauf genommen. Die Besonderheiten der Energieversorgung wurden in der Leitungsgebundenheit der Energieversorgungswirtschaft sowie im Erfordernis der
Gleichzeitigkeit von Energieerzeugung und – verbrauch gesehen, die aus dem mangelnden Speicherbarkeit der Elektrizität und nur begrenzten Speicherbarkeit von Gas
resultiert. Ferner führt eine Überlastung des Leitungssystems bei Fehlen erforderlicher Kapazitäten zur Befriedigung der Nachfrage nicht etwa dazu, dass die Überhangnachfrage ungedeckt bleibt, wie dies in anderen Wirtschaftszweigen der Fall ist,
sondern zu einem Zusammenbruch des gesamten Netzes, wodurch sämtliche am
überlasteten Teil des Netzes angeschlossenen Abnehmer unversorgt bleiben.10
Ausgehend von der Überlegung, dass die Besonderheiten der Energieversorgung
der Einführung von Wettbewerb nicht maßgeblich entgegenstehen, und dass auch in
der leitungsgebundenen Elektrizitätswirtschaft eine wettbewerbliche Steuerung
vorzugswürdig ist, wurde die rechtspolitische Berechtigung der Regelung des § 103
I GWB a.F. in der Literatur jedoch zunehmend angezweifelt und die Einbeziehung
der Energiewirtschaft in das Wettbewerbsprinzip gefordert.11
Letztlich entfiel die Monopolstellung der EVU im Zuge der durch die EU angetriebenen Liberalisierung des deutschen Elektrizitäts- und Gasmarktes. Mit der Umsetzung der Binnenmarktrichtlinien für Elektrizität (96/92/EG12) und Gas
(98/30/EG13) durch das EnWG (1998)14 wurde die kartellrechtliche Bereichsausnahme der § 103 GWB a.F. abgeschafft (vgl. Art. 2 NeuregelungsG 1998). Stattdessen wurde auf den Vertriebs- und Erzeugungsebenen des Elektrizitäts- und Gasmarktes der Wettbewerb eingeführt. Den Binnenmarktrichtlinien folgten sogenannte
Beschleunigungsrichtlinien für Elektrizität (2003/54/EG15, im Folgenden „Elt-RL“)
und Gas (2003/54/EG16, im Folgenden „Gas-RL“), welche den Zweck verfolgten,
den Wettbewerb auf auf den Vertriebs- und Erzeugungsebenen des Energiemarktes
voranzutreiben und diesen effektiver zu gestalten. Hauptansatz hierfür lag in der
Entflechtung des Netzbetriebs von der Vertriebs- und Erzeugungsebene sowie in
7 Büdenbender, JuS 1978, 150, 156. Auch der Gesetzgeber des EnWG (1935) erachtete den
spartengleichen Wettbewerb zwischen gleichartigen EVU als schädlich (vgl. Präambel des
EnWG (1935)).
8 BVerfGE 66, 248, 258.
9 Vgl. Koenig/Kühling/Rasbach, Energierecht, S. 139.
10 Scholz, VEnergR 79, S. 27 ff.; Büdenbender, JuS 1978, 150, 151.
11 Vgl. bereits: Emmerich Wirtschaftsrecht, S. 356 ff.; Gröner, Elektrizitätswirtschaft, S. 409.
12 Abl. EU Nr. L 27 v. 30. 1.1997, S. 20 ff.
13 Abl. EU Nr. L 204 v. 21.7. 1998, S. 1 ff.
14 Gesetz zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts vom 24.04.1998 (BGBl. I S. 730 ff).
15 Abl. EU Nr. L 176 v. 15.7.2003, S. 37 ff.
16 Abl. EU Nr. L 176 v. 15.7.2003, S. 57 ff.
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dessen Regulierung.17 Die Beschleunigungsrichtlinien wurden durch das nun geltende EnWG umgesetzt.18
Dementsprechend liegt dem EnWG auf der Vertriebsebene nunmehr das Konzept
einer „Daseinsvorsorge durch Wettbewerb“ zugrunde. Prinzipiell soll hiernach bereits der Wettbewerb mehrerer EVU um die Verbraucher zu einer flächendeckenden,
ausreichenden und angemessenen Versorgung mit Energie führen.19
Allerdings wurde die Energiebelieferung der Letztverbraucher – Kunden, die Energie für den eigenen Verbrauch kaufen (§ 3 Nr. 25 EnWG) – nicht vollständig
dem Wettbewerbsmechanismus überlassen. Vielmehr hat der Gesetzgeber des
EnWG im Zuge der Umsetzung der Elt-RL im Teil 4 des EnWG 2005 zahlreiche
Regelungen hinsichtlich der Belieferung von Letztverbrauchern vorgenommen.
Neben den Verbraucherschutzvorschriften der §§ 41, 42 EnWG finden sich dabei
die Regelungen zur Grund- und Ersatzversorgung (§§ 36, 38 EnWG). Durch das
„Notfallinstrumentarium“ der Grund- und Ersatzversorgung sollte für Ausnahmefälle, in denen das freie Spiel der Marktkräfte allein nicht zu dem – unter Daseinsvorsorgegesichtspunkten – gewünschten Mindestangebot an Versorgungsleistungen
führt, die Versorgungssicherheit der aufgrund des geringen Stromverbrauchs als
schutzwürdig erachteten Letztverbraucher gewährleistet und deren Versorgungsausschluss vermieden werden.20 Zu diesem Zweck sieht das EnWG vor, dass für jedes
Netzgebiet der allgemeinen Versorgung ein Energielieferant als Grundversorger
bestimmt wird (§ 36 II EnWG) und unter Einschränkung der Privatautonomie zur
Durchführung der Grund- und Ersatzversorgung entsprechend den Regelungen der
§§ 36, 38 EnWG verpflichtet wird.21 So ergibt sich aus § 36 I 1 EnWG die Pflicht
des Grundversorgers, jeden Haushaltskunden22 in dem jeweiligen Netzgebiet zu den
geltenden Allgemeinen Bedingungen und Preisen zu beliefern. Durch die Ersatzversorgungspflicht nach § 38 EnWG wird dieser einer Belieferungspflicht von Letztverbrauchern, die Energie aus dem Niederspannungsnetz entnehmen, ohne dass ein
Energielieferant feststellbar ist, unterworfen. Im Ergebnis erhält jeder Letztverbraucher, insbesondere jeder Haushaltskunde durch die Regelungen der §§ 36, 38
EmWG einen gesetzlichen Anspruch darauf, von zumindest einem EVU (übergangsweise) beliefert zu werden.23 Da die Pflichten aus §§ 36, 38 EnWG ausschließlich den Grundversorger treffen, ist dieser insoweit als Garant für die Versorgungssicherheit der nach §§ 36, 38 EnWG anspruchsberechtigten Kunden anzusehen.
17 Stumpf / Gabler, NJW 2005, 3174.
18 Energiewirtschaftsgesetz vom 7. Juli 2005 (BGBl. I S. 1970), zuletzt geändert durch Art. 2
des Gesetzes vom 18.12.2007 (BGBl. I S. 2966).
19 Koenig/Kühling/Rasbach, Energierecht, S. 139.
20 Koenig/Kühling/Rasbach, Energierecht, S. 139; Thomale, ET 2007, Heft 8, S. 61.
21 Koenig/Kühling/Rasbach, Energierecht, S. 140.
22 Letztverbraucher, die Energie überwiegend für den Eigenverbrauch im Haushalt oder für den
einen Jahresverbrauch von 10 000 Kilowattstunden nicht übersteigenden Eigenverbrauch für
berufliche, landwirtschaftliche oder gewerbliche Zwecke kaufen (§ 3 Nr. 22 EnWG).
23 Vgl. Koenig/Kühling/Rasbach, Energierecht, S. 139.
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Allerdings ist der Umstand zu beachten, dass der Grundversorger als Energielieferant im Wettbewerb zu anderen Energielieferanten steht und dass der Wettbewerb
zur Insolvenz von Marktakteuren führen kann.24 Für den Fall der Eröffnung eines
Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Grundversorgers stellt sich die angesichts der Notwendigkeit der Energieversorgung für die Kunden des Grundversorgers die Frage, inwieweit dieser rechtlich weiterhin zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit in der Lage ist. Mit der Insolvenzeröffnung über das Vermögen
eines Schuldners greift die insolvenzrechtliche Haftungsordnung ein, die der gemeinschaftlichen Gläubigerbefriedigung eines in Insolvenz geratenen Schuldners
dient, indem das Vermögen des Schuldners verwertet und verteilt oder in einem
Insolvenzplan eine abweichende Regelung, insbesondere zum Erhalt des Unternehmens getroffen wird (vgl. § 1 I InsO).25 Dabei wird das Vermögen des insolventen
Schuldners nicht als eine nach dem Maßstab sozialer Nützlichkeit verwertbare Verfügungsmasse betrachtet, vielmehr erfolgt die Gläubigerbefriedigung unabhängig
von wirtschafs- und sozialpolitischen Erwägungen.26
Insoweit würden im Falle einer Insolvenzeröffnung über das Vermögen des
Grundversorgers das durch die Regelungen der §§ 36, 38 EnWG verfolgte Ziel der
Gewährleistung von Versorgungssicherheit und das durch die InsO verfolgte Ziel
der bestmöglichen Gläubigerbefriedigung aufeinandertreffen, was Friktionen vermuten lässt. Die Untersuchung der mit der Insolvenzeröffnung über das Vermögen
eines Grundversorgers zusammenhängenden rechtlichen Fragen sowie der Konsequenzen im Hinblick auf die Erreichbarkeit der durch die §§ 36, 38 EnWG bezweckten Versorgungssicherheit und der durch die InsO angestrebten bestmöglichen
Gläubigerbefriedigung bilden den Kern der nachfolgenden Untersuchung.
B. Gang der Untersuchung
Die Untersuchung beginnt mit einer Erörterung der Grundversorgungs- und Ersatzversorgungspflicht aus §§ 36, 38 EnWG, wobei insbesondere zu klären sein wird,
unter welchen Umständen diese Pflichten grundsätzlich fortfallen. Anschließend
wird die Frage zu untersuchen sein, ob es aus rechtlicher Sicht überhaupt zu einem
Aufeinandertreffen des durch die §§ 36, 38 EnWG angestrebten Ziels der Versorgungssicherheit und des durch die InsO verfolgten Ziels der bestmöglichen Gläubigerbefriedigung kommen kann. Dabei wird die Frage der Insolvenzfähigkeit der
Grundversorger sowie etwaiger Insolvenzabwendungspflichten diesen gegenüber zu
erörtern sein, ebenso wie die Frage des Fortbestandes der Pflichten aus §§ 36, 38
EnWG bei Insolvenzeröffnung über das Vermögen eines Grundversorgers. Im darauf folgenden Abschnitt wird eine Untersuchung der Vereinbarkeit des durch §§ 36,
38 EnWG verfolgten Ziels der Versorgungssicherheit mit dem durch die InsO ver-
24 Vgl. Braun/Uhlenbruck, Unternehmensinsolvenz, S. 3.
25 Bork, Einführung in das Insolvenzrecht, Rn. 1.
26 Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rn. 1.13.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Nach der Liberalisierung des Energiemarktes müssen sich die auf der Vertriebsebene tätigen Energieversorgungsunternehmen dem Wettbewerb mit anderen Lieferanten stellen, womit die Wahrscheinlichkeit der Insolvenz dieser Unternehmen steigt.
Die Autorin widmet sich der Untersuchung der mit der Insolvenzeröffnung über das Vermögen eines Grundversorgers zusammenhängenden rechtlichen Fragen. Ausgehend von den veränderten Rahmenbedingungen wird zunächst die Reichweite der den Grundversorger gem. §§ 36, 38 EnWG treffenden Grund- und Ersatzversorgungspflichten erörtert. Einen Kernpunkt der Untersuchung bildet die Frage des Fortbestandes dieser Pflichten auch nach der Insolvenzeröffnung.
Abschließend wird die Vereinbarkeit von Versorgungssicherheit und Gläubigerbefriedigung im Insolvenzverfahren anhand der Auswirkungen der Insolvenzeröffnung auf die Befriedigung der aus §§ 36 (i.V.m. StromGVV), 38 EnWG resultierenden Ansprüche einerseits und der §§ 36, 38 EnWG auf das Ziel der bestmöglichen Gläubigerbefriedigung andererseits analysiert.