396
II. Vereinbarkeit mit Europarecht
Es ist bereits oben festgestellt worden, dass nach hier vertretener Auffassung der § 1
I AStG europarechtswidrig ist. Da sich § 1 III 9 AStG nur als Unterfall des § 1 I
AStG darstellt, ist die neue Vorschrift deshalb bereits ebenfalls europarechtswidrig.
Denn wenn die Basisvorschrift nicht europarechtskonform ist, gilt dies denknotwendig auch für die darauf aufbauenden Vorschriften. Es ist an dieser Stelle jedoch zusätzlich zu untersuchen, ob die Funktionsverlagerung noch eine zusätzliche Komponente der Europarechtswidrigkeit enthält. Dieses Thema ist bisher in der Literatur
noch nicht sehr ausgiebig behandelt worden.1106 Die Europarechtswidrigkeit kann
sich aufgrund der folgenden Anknüpfungspunkte ergeben. In Betracht kommt einmal ein etwaig unterschiedlicher Wertansatz bei den einzelnen Verlagerungsvorgängen (dazu sogleich unter 1.). Weiterhin kommen die Anwendbarkeit der Maßstäbe
zur Wegzugsbesteuerung als Anknüpfungspunkt ebenso in Betracht (dazu unter 2.)
wie die Frage, ob Funktionsverlagerung ins Ausland diskriminiert werden (dazu
unten 3.).
1. Funktionsabschmelzung: Errichtung einer Prinzipalstruktur
Fraglich ist, ob die deutsche Auffassung europarechtskonform ist. Zurzeit ist beim
EuGH das Verfahren „Cartesio“ anhängig.1107 Das Unternehmen Cartesio ist eine in
Ungarn registrierte Kommanditgesellschaft, das sein operatives Geschäft nach Italien verlegen, aber gleichzeitig seinen Eintrag im ungarischen Handelsregister nicht
aufgeben wollte, um weiterhin als eine in Ungarn errichtete Gesellschaft trotzdem
dem ungarischen Gesellschaftsrecht zu unterliegen. Es beantragte im November
2005 beim Handelsregistergericht, die Verlegung ihres operativen Geschäftssitzes
von Ungarn nach Italien im Handelsregister einzutragen. Das Handelsregistergericht
wies diesen Antrag mit der Begründung zurück, dass das ungarische Recht ungarischen Gesellschaften nicht erlaube, ihren Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen. Cartesio müsse zunächst in Ungarn aufgelöst und anschlie-
ßend nach italienischem Recht neu gegründet werden. Der Generalanwalt vertrat in
seinem Schlussantrag am 22.5.2008 die Auffassung, dass die Bestimmungen des
EG-Vertrags zur Niederlassungsfreiheit auf die vorliegende Rechtssache eindeutig
anwendbar sei. Die in Frage stehenden ungarischen Vorschriften würden grenzüberschreitende Sachverhalte ungünstiger als rein nationale Sachverhalte behandeln, weil
sie die Verlegung des operativen Geschäftssitzes einer Gesellschaft nur innerhalb
Ungarns erlauben. Der Generalanwalt sieht es daher als einen Verstoß gegen die
Niederlassungsfreiheit an, wenn einer Gesellschaft die Verlegung ihres operativen
1106 Soweit ersichtlich, bisher nur von Bödefeld/Kuntschik, in: Blumenberg/Benz, UntStReform
2008, 240 (290 f.); Jahndorf, FR 2008, 101 (109 f.).
1107 EuGH, Rs. C-210/06.
397
Geschäftssitzes von einem Mitgliedstaat in einen anderen verwehrt wird. Auch sei
eine Rechtfertigung nicht ersichtlich. Zwar könnten nationale Gesetze Regelungen
gegen die missbräuchliche Sitzverlegung enthalten, aber die generelle Verhinderung
des Wegzugs sei europarechtswidrig. Die Verlegung des Verwaltungssitzes gehört
damit nach Auffassung des Generalanwalts zur Niederlassungsfreiheit.
Es wird erwartet, dass der EuGH entsprechend des Antrags des Generalanwalts entscheidet.1108 Damit würde auch Klarheit geschaffen, dass nicht nur der Zuzug,1109
sondern auch der Wegzug von Kapitalgesellschaften durch die Niederlassungsfreiheit geschützt wäre, allerdings nur bezogen auf die Verlegung des Verwaltungssitzes. Damit würde auch die Aussage der Daily-Mail-Entscheidung1110 korrigiert werden, in der der EuGH einer Gesellschaft, die nach dem Recht eines Mitgliedstaats
gegründet ist und in diesem ihren satzungsmäßigen Sitz hat, nicht das Recht zugestand, den Sitz ihrer Geschäftsleitung in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen.
2. Funktionsverlagerungen als Fälle der Wegzugsbesteuerung?
Durch die Besteuerung einer Funktionsverlagerung gemäß § 1 III 9 AStG will der
deutsche Steuergesetzgeber Sachverhalte erfassen, bei denen der Steuerpflichtige im
Inland eine werthaltige Unternehmenseinheit aufgebaut hat, die er nun in das Ausland auf einen anderen Rechtsträger überträgt. Es handelt sich also in der Tat um die
Besteuerung eines tatsächlichen oder auch angenommenen Realisationsaktes. Es
stellt sich dabei die Frage, ob diese Form der Besteuerung europarechtskonform ist.
Dabei kann auf entschiedene Sachverhalte zurückgegriffen werden. Diese betrafen
allerdings den Wegzug natürlicher Personen (sogleich unter a)). Es stellt sich die
Frage, ob sich diese Grundsätze auf den Wegzug von juristischen Personen übertragen lassen (unten b)). Da es sich hier jedoch nicht um den Wegzug von juristischen
Personen handelt, sondern nur um die Verlagerung von Unternehmenseinheiten,
stellt sich dabei die Frage, ob eine solche Verbindung zwischen den beiden Tatbeständen besteht, dass man sie zusammenfassen könnte.
Offen sind an dieser Stelle die Frage der Entstrickung von Wirtschaftsgütern und die
Frage, inwieweit sich das auf die Entstrickung von Funktionen auswirkt.
1108 Brügel/Müller, HB v. 11.6.2008, S. 18.
1109 Der EuGH hat in drei Urteilen den freien Zuzug von Kapitalgesellschaften innerhalb ders.
EWR zugelassen: EuGH-Urteil „Centros“ v. 9. März 1999, C-212/97, Slg. 1999, I-1459;
EuGH-Urteil „Überseering“, v. 5. November 2002, C-208/00, Slg. 2002, I-9919; EuGH-Urteil „Inspire Art“ v. 30. September 2003, C-167/01, Slg. 2003, I-10155.
1110 EuGH-Urteil „Daily Mail“ v. 27. September 1988, 81/87, Slg. 1988, 5483.
398
a) Maßstäbe beim Wegzug von natürlichen Personen
Für natürliche Personen hat der EuGH ein Grundsatzurteil im Jahr 2004 erlassen.1111
In diesem Urteil hat der EuGH entschieden, dass die französische Norm des
Art. 167DIS des französischen Code général des Impôts (CDI), die dem deutschen
§ 6 AStG entspricht, gegen die Niederlassungsfreiheit des Art. 43 EG verstößt. Es
sei europarechtswidrig, wenn die Wohnsitzverlagerung in ein EU-Ausland dadurch
bestraft werden würde, dass vorhandene Wertsteigerungen besteuert werden. Der
EuGH stellte in dem Urteil fest, dass die französische Wegzugsbesteuerung geeignet
sei, die Niederlassungsfreiheit des Steuerpflichtigen zu beschränken, weil sie ihn
davon abhalten könnte, in das andere Land zu verziehen. Eine Rechtfertigung für
diese Beschränkung hat das Gericht nicht gesehen. Zwar könne eine solche Beschränkung aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses grundsätzlich gerechtfertigt sein. Die französische Regelung gehe aber über das erforderliche Maß
hinaus, weil sie nicht nur Missbrauchsfälle erfassen würde, sondern jeden wegzugswilligen Steuerpflichtigen treffen könnte. Dabei hat das Gericht ausdrücklich festgehalten, dass eine Verlegung des Wohnsitzes grundsätzlich keine Steuerflucht darstelle.1112
Der deutsche Steuergesetzgeber hat dies zum Anlass genommen, den § 6 AStG zu
überarbeiten. Dazu war er auch deshalb gezwungen, weil die EU-Kommission gegen
Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hatte. Im Rahmen des
SEStEG1113 ist der § 6 AStG umfassend reformiert worden. Gemäß § 6 V AStG gibt
es nun bei dem Wegzug in ein EU-Ausland eine aufgeschobene Besteuerung. Dadurch hat es der Gesetzgeber erreicht, die Norm dem Grunde nach zu halten, sie aber
gleichwohl europarechtskonform auszugestalten.
Der EuGH hat seine Linie zur Wegzugsbesteuerung im Übrigen in einem weiteren
Urteil bestätigt.1114 In diesem niederländischen Fall hat der EuGH entschieden, dass
es Art. 43 EG auch verbiete, einen wegziehenden Steuerpflichtigen durch die Auferlegung einer Sicherheitsleistung zu belasten, wenn er Wertzuwächse im Heimatstaat erreicht hat.
Außerdem verstoße es gegen die Niederlassungsfreiheit, wenn zukünftige Wertminderungen im Ausland bei der nachträglichen Besteuerung im Wegzugsstaat nicht berücksichtigt werden.
Die Frage nach der Übertragung dieser Rechtsprechung auf Funktionsverlagerungsfälle stellt sich deshalb, weil dabei eine Unternehmenseinheit ebenfalls in das Ausland verzogen wird. In dieser Fragestellung steckt aber zugleich die Antwort. In den
1111 EuGH-Urteil vom 11.03.2004, Rs. C-9/02, Hughes de Lasteyrie du Saillant, DStR 2004, 551.
1112 EuGH-Urteil vom 11.03.2004, Rs. C-9/02, Hughes de Lasteyrie du Saillant, DStR 2004, 551.
1113 Gesetz vom 07.12.2006, BGBl. I 2006, 2791.
1114 EuGH-Urteil vom 07.09.2006, Rs. C-470/04, „N“, DStR 2006, 1691.
399
angesprochenen Fällen geht es um den Wegzug natürlicher Personen. Das ist das
erste Differenzierungsmerkmal, weil es bei Funktionsverlagerungen wenn überhaupt
um den Wegzug von juristischen Personen ähnlichen Einheiten geht. Außerdem
handelt es sich bei den angesprochenen Normen um Ersatzrealisierungstatbestände.
Die Realisierung wird dabei nur fingiert.
Bei Fällen der Funktionsverlagerung handelt es sich jedoch um Übertragungsfälle
innerhalb von Konzernen, für die ein Entgelt bezahlt wird. Der dabei zivilrechtlich
vereinbarte Verrechnungspreis mag aus steuerlicher Sicht im Einzelfall zu niedrig
sein. Deshalb wird er durch § 1 AStG korrigiert. Jedenfalls handelt es sich dabei
aber um eine schuldrechtliche Beziehung zwischen den Beteiligten. Durch den vereinbarten Leistungsaustausch der Abgabe der Funktion einerseits und des zu zahlenden Entgelts andererseits handelt es sich um ein Veräußerungsgeschäft, das grundsätzlich steuerlich erfasst wird.
Fraglich sind allenfalls die Fälle, bei denen überhaupt keine zivilrechtlichen Vereinbarungen getroffen werden. Dies ist innerhalb von Konzernverbünden denkbar. Das
dürfte zwar im Allgemeinen nicht die Regel sein, weil die Geschäftsführer der beteiligten Unternehmen jeweils ein Interesse daran haben, dass ihr Unternehmen gut
da steht. Gleichwohl kann es aufgrund einer Anordnung der Konzernspitze durchaus
im Einzelfall geschehen, dass überhaupt keine Vereinbarungen getroffen werden.
Dann könnte es sich um einen rein fiktiven Veräußerungstatbestand handeln. Jedoch
handelt es sich auch in einem solchen Fall um eine Geschäftsbeziehung gemäß § 1 V
AStG. Es lässt sich im Einzelfall darüber diskutieren, ob in einem Fall, der gedanklich dem „Nokia-Fall“ aus Deutschland nachgebildet ist, bei dem also eine ausländische Konzernspitze der inländischen GmbH die Anordnung erteilt, eine oder sogar
ihre einzige Funktion an eine Schwestergesellschaft abzugeben, die Geschäftsbeziehung dann zwischen den Schwestergesellschaften besteht. Es könnte auch daran zu
denken sein, dass es sich um eine Dreiecksbeziehung zwischen der inländischen Gesellschaft und der Konzernmutter im Ausland und sodann von der ausländischen
Konzernmutter zur ausländischen Konzernschwester handelt. Aus steuerlicher Sicht
ist hier jedoch auch zwischen den beiden Konzernschwestergesellschaften eine
schuldrechtliche Beziehung anzunehmen. Diese kann unentgeltlich sein. Diese Unentgeltlichkeit entspricht sodann nicht dem Fremdvergleichsgrundsatz, so dass eine
steuerliche Korrektur vorzunehmen ist. Dies ändert aber nichts daran, dass es sich
um eine (teil-)unentgeltliche Geschäftsbeziehung handelt. Da somit auf jeden Fall
ein Leistungsaustausch zwischen den verbundenen Unternehmen vorliegt, darf der
Gesetzgeber diese Leistungsbeziehung besteuern. Es darf als unstreitig angesehen
werden, dass Leistungsbeziehungen zwischen verbundenen Unternehmen innerhalb
der EU besteuert werden dürfen, dass diese Besteuerung nach Fremdvergleichsgrundsätzen zu erfolgen hat und dass darin kein Verstoß gegen EU-Recht besteht.1115
1115 So auch Jahndorf, FR 2008, 101 (109).
400
b) Wegzug von juristischen Personen
Der EuGH hat bisher nicht über den Wegzug juristischer Personen entschieden. Die
Entscheidungen Centros, Überseering und Inspire Art1116 waren allesamt Zuzugsfälle. Die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 43 EG erfordert jedoch auch die Anwendung des Anerkennungsprinzips in Wegzugsfällen. Sie muss weiterhin als
rechtlich existent behandelt werden.1117 Die Ablehnung der Besteuerung des Wegzugs juristischer Personen führt jedoch zu keinem anderen Ergebnis der Beurteilung
der steuerlichen Behandlung von Funktionsverlagerung in Bezug auf das EU-Recht
wie die Besteuerung des Wegzugs von natürlichen Personen. Findet eine solche Besteuerung statt, handelt es sich dabei auch um einen Ersatzrealisierungstatbestand.
Ihm lägen ebenfalls keine Geschäftsbeziehungen gemäß § 1 V AStG zugrunde. Deshalb lässt sich auch aus diesen Konstellationen kein Ergebnis für die Europarechtskonformität des § 1 III 9 AStG herleiten. Es stellt sich weiterhin die Frage, ob
Funktionsverlagerungen mit der Entstrickung von einzelnen Wirtschaftsgütern vergleichbar sind. Für diese Fälle hat der deutsche Steuergesetzgeber die §§ 12 I KStG
und 4 I 3 EStG entwickelt. Für die Fälle, in denen eine wegziehende Gesellschaft so
ihren Satzungssitz als auch ihre Geschäftsleitung in das Ausland verlegt und auch
keine Betriebsstätte im Inland verbleibt, wird die Besteuerung der im Inland gebündelten stillen Reserven nach § 12 I KStG als gerechtfertigt angesehen.1118 In allen
solchen Fällen ist jedoch auch eine aufgeschobene Besteuerung des zur tatsächlichen
Realisierung der stillen Reserven erforderlich, um die Europarechtskonformität zu
gewährleisten.1119 Jedoch handelt es sich auch hier um Ersatzrealisierungstatbestände. Deshalb gilt das zu den Wegzugsfällen Gesagte. Auch diese Fälle sind nicht
mit den Konstellationen zu vergleichen, die § 1 III 9 AStG einer Besteuerung unterwirft. Auch bei ihnen liegt keine Geschäftsbeziehung gemäß § 1 V AStG vor.
3. Funktionsverlagerung als Fälle der Ausländerdiskriminierung?
Es bleibt abschließend zu klären, ob § 1 III 9 AStG nicht deshalb europarechtswidrig
ist, weil er allein für Funktionsverlagerungen in das Ausland gilt. Auf inländische
Fälle ist er nicht anwendbar. Deshalb könnte eine unzulässige Diskriminierung der
Auslandsfälle vorliegen. Eine Diskriminierung liegt dann vor, wenn die Funktionsverlagerung im Inland nicht oder günstiger besteuert würde, als eine vergleichbare
1116 EuGH-Urteil „Centros“ v. 9. März 1999, C-212/97, Slg. 1999, I-1459; EuGH-Urteil „Überseering“, v. 5. November 2002, C-208/00, Slg. 2002, I-9919; EuGH-Urteil „Inspire Art“
v. 30. September 2003, C-167/01, Slg. 2003, I-10155.
1117 Stewen, Europäische Niederlassungsfreiheit, S. 598.; Richter, EuGH-Rechtsprechung,
S. 391.
1118 Stewen, Niederlassungsfreiheit, S. 617, 618.
1119 Stewen, Niederlassungsfreiheit, S. 618.
401
Funktionsverlagerung ins Ausland.1120 Es sind also Fälle zu vergleichen, bei denen
einerseits eine Funktionsverlagerung von Münster nach Passau und im anderen Fall
von Münster nach Prag vorliegen. Diese Fälle müssten ungleich behandelt werden.
In der Literatur wird angeführt, dass die Erweiterungen des bisherigen § 1 AStG die
Europarechtswidrigkeit der Norm noch erweitern würden.1121 Eine Europarechtswidrigkeit könnte jedoch überhaupt nur dann vorliegen, wenn die inländischen Sachverhalte tatsächlich nicht besteuert würden. In der Literatur wird jedoch darauf hingewiesen, dass Funktionsverlagerungen im Inland im Regelfall entweder als ein Gewinn realisierendes Umsatzgeschäft oder als ein Gewinn realisierender gesellschaftsrechtlich veranlasster Vorgang angesehen und dementsprechend steuerlich als
verdeckte Gewinnausschüttung oder verdeckte Einlage gewertet werden würden.
Beide Sachverhalte würden deshalb auch zu einer Besteuerung nach Verkehrswerten
unter Aufdeckung der stillen Reserven erfolgen.1122 Nach dieser Ansicht gebe es
auch keine Ausnahme aufgrund der Nichtbesteuerung von Nutzungseinlagen, weil
diese im Rahmen der Funktionsverlagerung keine Rolle spielen würden, da sie auf
einem gesellschaftsrechtlichen Vorgang beruhten, der von § 1 III 9 AStG nicht erfasst würde.1123 Es wird allerdings zugestanden, dass diese Gleichheit dann nicht
bestehen würde, wenn der Nutzungseinlage eine schuldrechtliche Beziehung gemäß
§ 1 V AStG zugrunde liegen würde.1124
Genau hier liegt jedoch der „Knackpunkt“. Das zeigt das folgende
Beispiel:
Die M-AG aus Münster hat eine 100 %-ige T-GmbH in Passau. Sie verlagert einen
Unternehmensteil, der unstreitig eine Funktion sein soll, von Münster nach Passau
zur T-GmbH. Zwischen den Gesellschaften wird vertraglich vereinbart, dass es sich
nicht um eine Übertragung, sondern um eine Überlassung handeln soll, so dass die
T-GmbH eine Lizenzgebühr für die Funktion an die M-AG entrichten soll. Es soll
unstreitig sein, dass diese vereinbarte Lizenzgebühr unangemessen niedrig im Vergleich mit fremden Dritten ist.
In diesem Fall erfolgt keine Einkünftekorrektur bei der M-AG. Es handelt sich um
eine Nutzungseinlage. Diese ist nach der Rechtsprechung des Großen Senats des
BFH kein einlagefähiges Wirtschaftsgut.1125 Somit liegt kein Fall der verdeckten
Einlage vor. Ganz anders sieht es im grenzüberschreitenden Fall aus.
1120 Jahndorf, FR 2008, 101 (110).
1121 Kroppen/Rasch/Eigelshoven, IWB 2007, 301 (321) (= F. 3, Gr. 1, 2201 (2221)).
1122 Frotscher, FR 2008, 49 (52); Jahndorf, FR 2008, 101 (110).
1123 Jahndorf, FR 2008, 101 (110).
1124 Jahndorf, FR 2008, 101 (110).
1125 BFH-Beschluss vom 26.10.1987, GrS. 2/86, BStBl. II 1988, 348.
402
Beispiel:
Die T-Gesellschaft sei als T-S.R.O. in Prag ansässig.
In diesem Fall würde § 1 AStG im Allgemeinen und § 1 III 9 AStG im Besonderen
zur Anwendung kommen. Es würde eine Besteuerung des Transferpaketes stattfinden. Damit werden zwei vergleichbare Fälle ungleich behandelt, je nachdem, ob das
aufnehmende Unternehmen im Inland oder im Ausland liegt. Dadurch ist aber die
Niederlassungsfreiheit des Art. 43 EG eingeschränkt.
Diese Einschränkung könnte allerdings gerechtfertigt sein, so dass trotz der Beschränkung der Niederlassungsfreiheit keine Europarechtswidrigkeit des § 1 III 9
AStG vorläge.
Die Finanzverwaltung bringt als Rechtfertigungsargument den Art. 9 OECD-MA.
Der Fremdvergleichsgrundsatz sei international anerkannt.1126 Weltweit gäbe es
2.400 Doppelbesteuerungsabkommen. Dadurch sei der Fremdvergleichsgrundsatz
weltweit verankert. Ein weltweit verankerter Grundsatz könne aber nicht europarechtswidrig sein.
Einer solchen Argumentation liegt jedoch ein Missverständnis zugrunde. Die Frage
ist nicht, ob der Fremdvergleichsgrundsatz europarechtswidrig ist. Die Frage des
„ob“ scheint sich unstreitig dahingehend beantworten zu lassen, dass der Ansatz eines Fremdvergleichswertes nicht gegen die Grundfreiheiten der Europäischen Union
verstößt. Die Frage geht vielmehr dahin, ob die Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes, also das „Wie“, europarechtskonform erfolgt. Dafür müsste der Fremdvergleichsgrundsatz im inländischen und im grenzüberschreitenden Fall parallel angewendet werden. Das ist nach deutschem Recht aber gerade nicht der Fall. Darauf
wird sogleich noch eingegangen. Jedenfalls lässt sich an dieser Stelle bereits festhalten, dass das Argument, aufgrund weltweit bestehender Doppelbesteuerungsabkommen, die alle einen Art. 9 OECD-MA nachgebildeten Artikel enthalten, so dass
der Fremdvergleichsgrundsatz international anerkannt sei, wird dieser Argumentation nicht weitergeholfen werden können. Das „Wie“ der Ungleichbehandlung führt
dazu, dass dies kein tragendes Argument ist.
Es ist auch kein anderes Argument ersichtlich, was diese Ungleichbehandlung rechtfertigen könnte. Wenn aber die Beschränkung einer Grundfreiheit vorliegt, ohne
dass diese gerechtfertigt werden kann, ist die entsprechende Norm europarechtswidrig. Bei § 1 III 9 AStG ist aber die Besonderheit zu beachten, dass er einen Unterfall
des § 1 I 1 AStG behandelt. Die Europarechtswidrigkeit des § 1 III 9 AStG Vorschrift beruht nicht auf der Besonderheit innerhalb der Regelung. Sie ist dort originär nicht enthalten. Vielmehr beruht sie nur auf der Europarechtswidrigkeit der
1126 So ist jedenfalls die Gesetzesbegründung zur Funktionsverlagerung zu verstehen. BR-Drs.
220/07, S. 142.
403
Grundvorschrift. Sie ist also nur derivativ gegeben. Deshalb ist der § 1 III 9 AStG
für sich genommen nicht europarechtswidrig.
Im Rahmen der soeben durchgeführten Diskussion ist ein Argument bereits aufgekommen, dass in der Literatur ebenfalls auf seine Europarechtskonformität untersucht wird, nämlich die Frage nach der Gleich- bzw. Ungleichbehandlung der Bewertung von Funktionsverlagerungen innerhalb Deutschlands und in grenzüberschreitenden Fällen. In der Literatur wird dazu angemerkt, dass die Bewertung formal unterschiedlich erfolge, weil gemäß § 1 III 9 AStG i.V.m. § 1 III 6 AStG im
grenzüberschreitenden Fall das Gewinnpotenzial des aufnehmenden ausländischen
Unternehmens in die Besteuerungsgrundlage einflösse, während dies im Inland nicht
der Fall sei.1127
Jedoch läge keine Ungleichbehandlung vor, weil das Gewinnpotenzial auch in Inlandsachverhalten in die Bewertung einbezogen werde.1128 Dabei wird zwischen der
Verlagerung eines Betriebs oder Teilbetriebs und einer Funktion, die unterhalb dieser Schwelle liegt, differenziert. Bei einem Betrieb oder Teilbetrieb werde der Firmenwert mit dem gemeinen Wert angesetzt, der wiederum das Gewinnpotenzial als
Differenzgröße enthalte. Der Kaufpreis setze sich aus den Verkehrswerten der einzelnen materiellen und immateriellen Wirtschaftsgüter abzüglich der Schulden und
zuzüglich des Firmenwertes, der das Gewinnpotenzial umfasse, zusammen. Eine
Funktion, die die Teilbetriebseigenschaft nicht erreiche, schließe nach den Vorstellungen des Gesetzgebers keinen Firmenwert, aber zumindest ein Gewinnpotenzial
ein. Gleichwohl enthalte der gemeine Wert gemäß § 9 II BewG einen Gewinnanteil,
der letztlich als Teil des Firmenwertes anzusehen sei. Denn der gemeine Wert leite
sich aus einem fingierten Verkauf ab. Dieser Gewinnbestandteil enthielte wiederum
das Gewinnpotenzial des einzelnen Wirtschaftsguts. Deshalb sei das Gewinnpotenzial zwar kein eigenständiger Bewertungsmaßstab bei der Verlagerung von Betrieben und Teilbetrieben, die mit dem Firmenwert bewertet werden würden. so wie bei
der Verlagerung einzelner Wirtschaftsgüter, die nach dem gemeinen Wert beurteilt
würden, sind nur bei Funktionen. Im Ergebnis würde aber derselbe Wert herauskommen.1129
Diesem Ansatz ist vollumfänglich zuzustimmen. Bei der Funktionsverlagerung im
Inland würde letztendlich kein anderer Wert als bei der Funktionsverlagerung ins
Ausland herauskommen. Dies gilt allerdings nur, wenn zwei Prämissen vorliegen.
Erstens muss im Inland überhaupt eine Besteuerung erfolgen, was aber, wie oben
gezeigt wurde, zumindest bei Nutzungsüberlassungen nicht der Fall ist. Selbst wenn
man diese Fälle ausklammert, dürfen auch keine sonstigen Entnahmen oder Einlagen
vorliegen. Einlagen werden gemäß § 6 Nr. 5 mit dem Teilwert bewertet. Bei der
1127 Jahndorf, FR 2008, 101 (110).
1128 Jahndorf, FR 2008, 101 (110).
1129 Jahndorf, FR 2008, 101 (110).
404
Bemessung des Teilwertes wird davon ausgegangen, dass der Erwerber den Betrieb
fortführt, sog. Going-Concern-Prinzip, § 6 I Nr. 2 S. 2 i.V.m. Nr. 1 S. 3 EStG; § 252
I Nr. 2 HGB.1130 Das kaufmännische Denken gebietet es jedoch dem Erwerber, hier
also dem aufnehmenden Unternehmen, dem Veräußerer nur diejenigen Kosten zu
ersetzen, die es selbst bei entsprechendem Verhalten hätte aufwenden müssen, um
das Wirtschaftsgut bzw. die Funktion zu beschaffen.1131 Daher wird ein gedachter
Erwerber, der einen üblichen Unternehmensgewinn beansprucht, lediglich an die
Stelle des jeweiligen Steuerpflichtigen gesetzt. Deshalb knüpft der Teilwert an die
Bedingungen eines Beschaffungsmarktes an, während der gemeine Wert einen Absatzmarkt zugrunde legt, damit den Endverbraucher im Preis berücksichtigt und die
dem Wirtschaftsgut zukommenden Gewinnchancen zugrunde legt.1132 Das bedeutet
aber, dass bei Einlagen mit dem Teilwert gerade keine Gewinnkomponente berücksichtigt wird. Für diese Fälle unterscheidet sich der Bewertungsmaßstab zwischen
dem Inlandsfall und dem Auslandsfall auch.
Aber auch hier gilt das bereits oben Gesagte. Es liegt keine originäre, sondern nur
eine derivative Europarechtswidrigkeit vor. Es ist der § 1 I 1 AStG, der europarechtswidrig ist, nicht der § 1 III 9 AStG.
1130 Kirchhof-Fischer, § 6 Rz. 90.
1131 Kirchhof-Fischer, § 6 Rz. 91.
1132 Kirchhof-Fischer, § 6 Rz. 91; im Falle von betriebsnotwendigen Wirtschaftsgütern würde
sich ein Betriebserwerber an den Wiederbeschaffungskosten orientieren, BFH-Urteil v.
25.08.1983, IV R 218/80, BStBl. II 1984, 33.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Das Thema Funktionsverlagerung ist das Thema des Jahres im Internationalen Steuerrecht. Der deutsche Gesetzgeber hat als erstes Gesetzgebungsorgan weltweit ausdrückliche Regelungen in § 1 Abs. 3 AStG zu diesem umstrittenen Thema erlassen. Die deutsche Finanzverwaltung hat mit Zustimmung des Bundesrats außerdem das Gesetz durch die Funktionsverlagerungsverordnung (FVerlVO) ergänzt. Damit stehen umfassende legislative Regelungen zur Besteuerung dieses umstrittenen Themenbereichs zur Verfügung.
Das Werk analysiert die neuen Regelungen und bezieht zu den einzelnen Themenbereichen ausführlich Stellung. Im ersten Teil werden zunächst die Neuregelungen zur steuerlichen Behandlung von Verrechnungspreisen durch die Unternehmensteuerreform 2008 dargestellt. Dabei wird auch die Vereinbarkeit des § 1 AStG mit dem Europarecht untersucht. Darauf aufbauend werden die Regelungen zur Funktionsverlagerung im zweiten Teil kritisch untersucht und ebenfalls auf ihre Europarechtstauglichkeit analysiert.