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E. Konformität der steuerlichen Behandlung mit Verfassungsrecht
In der Literatur ist die Verfassungskonformität der neuen steuerlichen Regelungen
zur Funktionsverlagerung ebenso in Frage gestellt worden wie die oben bereits geschilderten allgemeinen Neuregelungen zur steuerlichen Behandlung von Verrechnungspreisen.1070 Im Folgenden sollen die gesetzlichen Regelungen in § 1 AStG
(vgl. unter I.) und die neuen Vorschriften in der FVerlV (unten II.) auf ihre Verfassungskonformität hin untersucht werden.
I. Gesetzliche Regelungen
Bei den gesetzlichen Regelungen sind zwei Themenbereiche zu analysieren. Zunächst ist zu fragen, ob die Besteuerungen von Funktionsverlagerungen als fiktive
Veräußerungsvorgänge dem Grunde nach verfassungskonform sind (sogleich unter
1.). Sodann ist zu fragen, ob die Ausgestaltung des § 1 III 9 AStG den verfassungsrechtlichen Anforderungen entspricht (unten 2.).
1. Verfassungskonformität der Besteuerung von Funktionsverlagerungen dem
Grunde nach
Bei der steuerlichen Behandlung von Funktionsverlagerungen handelt es sich um die
steuerliche Erfassung von Verlagerungsvorgängen, die unter Umständen unentgeltlich oder teilentgeltlich erfolgt sind. Diese werden durch die Korrektur auf einen
Wert, der dem Fremdvergleichswert entspricht, letztendlich wie eine fiktive Veräu-
ßerung behandelt. Wenn jetzt zivilrechtlich keine Gegenleistung seitens des aufnehmenden Unternehmens vereinbart worden ist, muss das abgebende Unternehmen
einen fiktiven Ertrag versteuern. Es kommt letztendlich zu einer Schlussbesteuerung
im Inland, obwohl kein entsprechender Cash-flow geflossen ist. Es stellt sich die
Frage, ob darin ein Verstoß gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip1071 zu sehen ist.
Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 I GG beinhaltet u.a. auch den Grundsatz
der Steuergerechtigkeit, der verlangt, dass die Steuerlasten auf die Steuerpflichtigen
1070 Bödefeld/Kuntschik, in: Blumenberg/Benz, Unternehmenssteuerreform 2008, 240 (288 f.).
1071 Zum Leistungsfähigkeitsprinzip siehe ausführlich Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als
Maßstab der Steuernormen.
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im Verhältnis ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verteilt werden.1072 Die
Besteuerung der Veräußerung von Einzelwirtschaftsgütern im betrieblichen Bereich
gemäß §§ 4 und 5 EStG sowie von Sachgesamtheiten gemäß § 16 EStG verstößt jedenfalls nicht gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip. Allerdings bekommt der Steuerpflichtige als Äquivalent für die Abgabe des Vermögensgegenstandes ein Entgelt
bezahlt. Das Steuerrecht kennt jedoch auch die Besteuerung fiktiver Veräußerungsvorgänge. So war es in dem Veranlagungszeitraum 1999 und 2000 nur möglich, die
Verlagerung von Wirtschaftsgütern gemäß § 6 V EStG mit dem Teilwert anzusetzen, so dass stille Reserven aufgedeckt werden müssten. Auch im aktuellen Recht
kennen die §§ 4 I 3 EStG und § 12 I KStG die Besteuerung fiktiver Veräußerungsbzw. Entnahmevorgänge. Der Steuerpflichtige hat jedoch die Vorgänge, die zu einer
Besteuerung führen, selbst in der Hand. Es handelt sich nicht um eine Steuerbelastung des Vermögensbestandes, die ungeeignet wäre, das Leistungsfähigkeitsprinzip
sachgerecht zu konkretisieren.1073 Daher ist ein Verstoß gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip zu verneinen.
2. § 1 III 9 AStG
Die neue Regelung zur Besteuerung von Funktionsverlagerungen müsste konkret
den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechen. In der Literatur wird die
Ansicht vertreten, sie verstoße gegen den Bestimmtheitsgrundsatz.1074 Die unbestimmten Rechtsbegriffe wie das Transferpaket, die Chancen und sonstigen Vorteile
sowie die Risiken seien für steuerliche Zwecke nicht selbst erklärbar und auch nicht
konkretisierbar.1075 Der Gesetzestext liefere keinerlei Anhaltspunkte für ein irgendwie geartetes Konkretisierungserfordernis. Außerdem verstoße das Gesetz gegen
elementare Grundsätze wie das Realisations- und steuerliche Vorsichtsprinzip und
den Objektivitäts- und Konkretisierungsgrundsatz.1076
Zu dieser Kritik lässt sich folgendes feststellen. Der Gesetzgeber darf sich unbestimmter Rechtsbegriffe bedienen. Dies ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.1077 Das rechtsstaatliche Gebot hinreichender Bestimmtheit der Gesetze zwingt
den Gesetzgeber nicht, Gesetzestatbestände stets mit genau erfassbaren Maßstäben
1072 BVerfG-Beschluss v. 29.05.1980, BVerfGE 82, 60 (83); Tipke/Lang-Lang, Steuerrecht, § 4
Rz. 81.
1073 Tipke, Steuerrechtsordnung, Rz. 914 ff., 953 ff., 1139 f.
1074 Bödefeld/Kuntschik, in: Blumenberg/Benz, Unternehmenssteuerreform 2008, 240 (288 f.).
1075 Hey, BB 2007, 1303 (1308).
1076 Bödefeld/Kuntschik, in: Blumenberg/Benz, Unternehmenssteuerreform 2008, 240 (288 f.);
Hey, BB 2007, 1303 (1308).
1077 BVerfG-Beschluss v. 12.01.1967, 1 BvR 169/63, BVerfGE 21, 73 (79) unter Hinweis auf
BVerfG-Urteil v. 18.12.1953, BVerfGE 3, 225 (243); BVerfG-Beschluss v. 10.10.1961, 2
BvL 1/59, BVerfGE 13, 153 (161); Leibholz/Rinck-Burghart, Art. 20, Rn. 696.
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zu umschreiben.1078 Der Gesetzgeber besitzt grundsätzlich einen Gestaltungsspielraum, wenn er sich entscheidet, unbestimmte Rechtsbegriffe zu verwenden.1079 Dieser Gestaltungsspielraum ist nur insoweit beschränkt, dass er durch das Bestimmtheitsgebot angehalten ist, die Normen so klar und genau zu fassen, wie dies unter
den gegebenen Umständen möglich ist.1080 Der § 1 III 9 AStG enthält keine Begriffe, die nicht einer Auslegung zugänglich sind. Das zeigt die FVerlV, die diese
Auslegungen vornimmt. Auch wenn diesen Auslegungen nach hier vertretener Ansicht nicht immer zuzustimmen ist, ist an der Auslegungsfähigkeit der gesetzlichen
Begriffe nicht zu zweifeln.
Auch dem zweiten Argument, das Gesetz verstoße gegen elementare Grundsätze wie
das Realisations- und steuerliche Vorsichtsprinzip und den Objektivitäts- und Konkretisierungsgrundsatz, kann unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht gefolgt werden. Die angesprochenen Grundsätze haben keinen Verfassungsrang. Daher
können sie ebenfalls nicht zu einer Verfassungswidrigkeit des § 1 III 9 AStG führen.
II. Regelungen in der FVerlV
Es wird auch angezweifelt, dass einzelne Regelungen in der FVerlV verfassungskonform sind. Namentlich geht es dabei um § 1 VI FVerlV (sogleich unter a)) und
um § 2 II 2 FVerlV (unten b)).
a) Funktionsverdoppelung (§ 1 VI FVerlV)
Es stellt sich die Frage, ob die Regelung zur Funktionsverdoppelung in § 1 VI
FVerlV den Anforderungen des Art. 80 I 2 GG entspricht. Dem könnte entgegenstehen, dass § 1 III 9 AStG die Fälle der Funktionsverlagerung regelt und dort nicht,
wie oben geschildert, von Funktionsänderungen als den weiteren Oberbegriff gesprochen wird. Funktionsverlagerungen sollen wiederum dem Fremdvergleichsgrundsatz des § 1 I AStG entsprechen. Zu dessen Verdeutlichung ist gemäß § 1 III
13 AStG die Funktionsverlagerungsverordnung geschaffen worden. Wenn nun die
Funktionsverdoppelung sich nicht unter den Begriff der Funktionsverlagerung subsumieren ließe, diese aber durch die Rechtsverordnung konkretisiert würde, könnte
in der Tat darin ein Verstoß gegen Art. 80 I 2 GG liegen.
1078 BVerfG-Beschluss v. 26.09.1978, 1 BvR 525/77, BVerfGE 49, 168 (181); BVerfG-
Beschluss v. 24.11.1981, 2 BvL 4/80, BVerfGE 59, 104 (114); BVerfG-Beschluss v.
18.05.1988, 2 BvR 579/84, BVerfGE 78, 205 (212); Leibholz/Rinck-Burghart, Art. 20,
Rn. 696.
1079 BVerfG-Beschluss v. 08.08.1978, 2 BvL 8/77, BVerfGE 49, (136, 137).
1080 BVerfG-Beschluss v. 26.9.1978, 1 BvR 525/77, BVerfGE 49, 168 (181); BVerfG-Urteil v.
17.11.1992, 1 BvL 8/87, BVerfGE 87, 234 (263).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Das Thema Funktionsverlagerung ist das Thema des Jahres im Internationalen Steuerrecht. Der deutsche Gesetzgeber hat als erstes Gesetzgebungsorgan weltweit ausdrückliche Regelungen in § 1 Abs. 3 AStG zu diesem umstrittenen Thema erlassen. Die deutsche Finanzverwaltung hat mit Zustimmung des Bundesrats außerdem das Gesetz durch die Funktionsverlagerungsverordnung (FVerlVO) ergänzt. Damit stehen umfassende legislative Regelungen zur Besteuerung dieses umstrittenen Themenbereichs zur Verfügung.
Das Werk analysiert die neuen Regelungen und bezieht zu den einzelnen Themenbereichen ausführlich Stellung. Im ersten Teil werden zunächst die Neuregelungen zur steuerlichen Behandlung von Verrechnungspreisen durch die Unternehmensteuerreform 2008 dargestellt. Dabei wird auch die Vereinbarkeit des § 1 AStG mit dem Europarecht untersucht. Darauf aufbauend werden die Regelungen zur Funktionsverlagerung im zweiten Teil kritisch untersucht und ebenfalls auf ihre Europarechtstauglichkeit analysiert.