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F. Konformität der steuerlichen Behandlung mit Europarecht
Es ist bereits an mehreren Stellen diskutiert worden, ob der § 1 AStG mit internationalen Standards, also insbesondere den OECD-Richtlinien, übereinstimmt. Auf die
Ausführungen zu den einzelnen Punkten wird hier verwiesen. Dabei ist insbesondere
herausgearbeitet worden, dass die Vermutung der vollständigen Informationstransparenz in § 1 I 2 AStG bisher nicht in den OECD-RL enthalten ist.361 Im Übrigen
entspricht § 1 I 1 AStG dem international üblichen und auch in den OECD-RL verankerten „Dealing-at-arm´s-lenght-principle“.
Diskutiert werden soll an dieser Stelle, ob der § 1 AStG, insbesondere auch in seiner
aktuellen Fassung, europarechtskonform ist. Dazu gibt es unterschiedliche Ansichten.
In der Literatur wird seit langem vertreten, dass § 1 AStG gegen europäisches Recht
verstößt.362 Aus Sicht der Literatur ist das Thema anscheinend so ausdiskutiert, dass
bei der Besprechung der aktuellen Fassung nur zustimmend auf die älteren Literaturbeiträge verwiesen wird.363 Die Literaturstimmen lassen sich dahingehend zusammenfassen, dass für die einzelnen Einkünftekorrekturvorschriften unterschiedliche
Berichtigungsmaßstäbe gelten. Für Entnahmen gilt gemäß § 6 I Nr. 4 EStG der Ansatz des Teilwertes und nur in Ausnahmesituationen gemäß § 4 I 3 EStG der gemeine Wert. Für Einlagen ist gemäß § 6 I Nr. 5 EStG als Berichtigungsmaßstab
ebenfalls der Teilwert anzusetzen. Dagegen besteht bei § 1 AStG der Fremdvergleichswert als Korrekturmaßstab. Da sich Teilwerte und Fremdvergleichswerte/gemeine Werte364 unterscheiden und dementsprechend Konstellationen vorkommen,
bei denen eine inländische verdeckte Einlage zum Beispiel mit dem Teilwert zu
bewerten ist, während sie im grenzüberschreitenden Sachverhalt mit dem Fremdvergleichswert anzusetzen ist, liegt nach Ansicht der Literatur eine Ungleichbehandlung
361 Siehe oben 1. Teil B.III.4.
362 Dazu Dautzenberg/Gocksch, BB 2000, 904; Eigelshoven, IWB 2001, 793 (= Gr. 1, 1761);
Herlinghaus, FR 2001, 240; FW, IStR 1998, 243; Wassermeyer, StBJb 1998/1999, 157
(172); Wassermeyer, IStR 2001, 113; F/W/B-Wassermeyer, § 1 AStG, Rdnr. 816.1;
Köplin/Sedemund, IStR 2000, S. 305 unter Hinweis auf EuGH v. 18.11. 1999, C-200/98,
XY; Köplin/Sedemund, IStR 2002, S. 120; Brenner, KFR - F 11 AStG, § 1, 2/01, 383;
Borstell/Brüninghaus/Dworaczek, IStR 2001, 757; Scheuerle IStR 2002, 798, Schön IStR
2004, 289 (299); Rödder DStR 2004, 1629 (1632); Rasch/Nakhai, DB 2005, 1984; Dölker/Ribbrock IStR 2005, 533; Schaumburg DB 2005, S. 1129;. W/S/G-Haun, Außensteuergesetz, Kommentar, § 1 AStG Rdnr. 16.
363 Kroppen/Rasch/Eigelshoven, IWB 2007, 301 (321) (= F. 3, Gr. 1, 2201 (2221)).
364 Entsprechend der obigen Darstellung werden der Fremdvergleichswert und der gemeine
Wert gleich gesehen.
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vor. Diese könne zwar zur Vermeidung von Manipulationen legitimiert und auch
geeignet sein.365 Eine solche Ungleichbehandlung sei jedoch nicht gerechtfertigt.366
Die Rechtsprechung hat die Frage der Europarechtskonformität des § 1 AStG differenziert gesehen.
Der BFH hat bereits im Jahr 2000 in einem Fall, in dem es um eine von einer Konzern-Obergesellschaft abgegebenen Garantieerklärung für ihre Tochtergesellschaft
ging und in dem es fraglich war, ob die Garantieerklärung eine „Geschäftsbeziehung“ im Sinne von § 1 AStG darstelle, dies unter Hinweis auf gemeinschaftsrechtliche Bedenken verneint.367 Denn bei einem vergleichbaren reinen Inlandsfall könne
der Gewinn der Klägerin nicht um ein fiktives Entgelt für die Abgabe der Garantieerklärung erhöht werden. Eine Schlechterstellung der Klägerin allein deshalb, weil
es sich bei der Tochtergesellschaft um eine ausländische Gesellschaft handele, wäre
im Hinblick auf die gemeinschaftsrechtlich garantierte Niederlassungsfreiheit nicht
zu rechtfertigen. Außerdem könne die Schlechterstellung gegen die Freiheit des Kapitalverkehrs verstoßen. Jedenfalls entspreche die Annahme, dass es sich bei dem zu
beurteilenden Vorgang nicht um eine „Geschäftsbeziehung“ handele, den Anliegen
des Gemeinschaftsrechts besser als die ansonsten vorzunehmende Erhöhung der
Einkünfte nach § 1 AStG. Es handele sich mithin um eine „gemeinschaftsrechtsfreundliche“ Handhabung.368 Auch wenn es hier um den § 1 IV AStG ging, so
wurde bereits die Tendenz des BFH deutlich, die Europarechtskonformität zumindest von Teilen des § 1 AStG in Zweifel zu ziehen.
In einem Beschluss aus dem Jahr 2001 hat der BFH dann ausdrücklich ernstliche
Zweifel angemeldet, ob § 1 I AStG mit den Diskriminierungsverboten in Art. 52 ff.
und Art. 73 b ff. EGV369 vereinbar sei.370 Er hat allerdings darauf verzichtet, eine
Vorabentscheidung des EuGH einzuholen. In dem Fall hatte ein französischer Steuerpflichtiger von einem inländischen Betrieb aus Waren an ihm gehörende Gesellschaften in Frankreich und Martinique veräußert. Das Finanzamt befand die Verrechnungspreise als zu niedrig angesetzt und nahm eine Einkünfteerhöhung gem. § 1
AStG vor. Der BFH kam zu dem Ergebnis einer diskriminierenden Wirkung des § 1
AStG, weil derjenige Steuerpflichtige, der Geschäfte mit einem nahe stehenden Geschäftspartner in einem anderen EU-Mitgliedsstaat tätigt, steuerlich ungünstiger behandelt werde als ein solcher Steuerpflichtiger, der entsprechende Geschäfte im Inland betreibe. Dem einen werde ein fiktives Entgelt als Gewinnaufschlag hinzugerechnet, dem anderen hingegen nicht. Besonders interessant sind die weiteren Aus-
365 Dautzenberg/Gocksch, BB 2000, 904 (908 ff.).
366 Herlinghaus, FR 2001, 240 (242 f.).
367 BFH-Urteil v. 29. November 2000, I R 85/99, BStBl II 2002, 720.
368 BFH-Urteil v. 29. November 2000, I R 85/99, BStBl II 2002, 720 unter Punkt II. 6.
369 = Art. 43 ff. und Art. 56 ff. EGV i.d.F. des Vertrages von Amsterdam.
370 BFH-Beschluss vom 21.06.2001, I B 141/00, BFHE 195, 398.
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führungen des BFH. Laut dem Gericht könne zwar eingewandt werden, dass bei einem rein innerstaatlichen Vorgang zugleich eine entsprechende Gewinnminderung
auf Seiten des nahe stehenden Geschäftspartners entfalle, die fehlende Gewinnerhöhung bei dem leistenden Steuerpflichtigen und die fehlende Gewinnminderung beim
Leistungsempfänger sich also ausglichen. Es lasse sich jedoch zumindest ernstlich
bezweifeln, dass mit einer derartigen Gesamtwürdigung die abweichende Behandlung von Auslandssachverhalten gemeinschaftsrechtlich gerechtfertigt werden
könne. Der Rechtsprechung des EuGH sei eher zu entnehmen, dass beim Vergleich
der Gebietsansässigen und der Gebietsfremden auf die Belastung des jeweiligen
Steuerpflichtigen abgestellt werden müsse, nicht aber auf eine "Zusammenschau"
voneinander verschiedener Unternehmen, auch wenn diese nahe stehende seien.
Obwohl der BFH also von einer Europarechtswidrigkeit des § 1 I AStG auszugehen
scheint, hat er bisher weder eine entsprechende Vorabfrage an den EuGH gestellt
noch selbst ausdrücklich dementsprechend geurteilt.
Auch die Finanzgerichte haben sich mit dem Thema bereits auseinandergesetzt. Das
FG Münster hatte in der Vorentscheidung zum angesprochenen BFH-Beschluss aus
2001 gemeint, dass die Auswirkungen des § 1 AStG „aus Gründen der nationalen
Funktionsfähigkeit der steuerlichen Systeme in den einzelnen Mitgliedstaaten der
EU erforderlich“ seien.371 Diese Auffassung teilt das FG Düsseldorf in einem aktuellen Urteil nicht.372 In dem Fall ging es um eine unentgeltliche Fremdkapitalüberlassung eines inländischen Gesellschafters an seine ausländische Gesellschaft. Nach
Ansicht des erkennenden Senats greife § 1 AStG in die Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit ein, weil die Vorschrift eine Einkünftekorrektur nur bei Geschäftsbeziehungen zum Ausland und nicht bei reinen Inlandssachverhalten vorsehe.
Da nach der Rechtsprechung des BFH bei der Gewährung eines zinslosen Darlehns
der die Nutzung Gewährende im Inlandsfall keine fiktiven Einkünfte erziele,373 sei
keine Rechtsgrundlage vorhanden, die eine Einkünftekorrektur bei Inlandssachverhalten erlaube. Die Niederlassungsfreiheit sei davon betroffen, weil die Gründung
und die Beteiligung an einer ausländischen Kapitalgesellschaft dadurch weniger attraktiv sei. Die Kapitalverkehrsfreiheit sei beschränkt, da der grenzüberschreitende
Geldkapitalverkehr zu Anlage- und Investitionszwecken behindert werden würde.
Dieser Eingriff sei auch nicht gerechtfertigt. Zwar stelle § 1 AStG die Umsetzung
des Fremdvergleichsgrundsatzes gemäß Art. 9 OECD-MA dar, der international anerkannt sei. Dies rechtfertige aber nicht die Benachteiligung der Auslands- gegen-
über der Inlandsinvestition. Zwingende Gründe des Allgemeininteresses würden
eine solche Ungleichbehandlung auch nicht rechtfertigen. Der Senat schlägt als Lö-
371 FG Münster, Urteil v. 31.08.2000, 8 V 4639/00, EFG 2000, 1389; diese Entscheidung ist
gesprochen worden von Herlinghaus, FR 2001, 240; Thömmes, JbfSt 2001-2002, 44;
Pflüger, PISTB 2001, 260.
372 FG Düsseldorf, Urteil v. 19.02.2008, 17 K 894/05, IStR 2008, 449.
373 Verweis auf das BFH-Urteil v. 16.10.1987, GrS 2/86, BStBl. II 1988, 348.
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sungsmöglichkeit vor, den § 1 AStG ins Inland zu transferieren, wobei er selbst Bedenken äußert, dass die Behandlung von Inlandssachverhalten nach dem Fremdvergleichsmaßstab sehr kompliziert sei.374 Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Es ist Revision eingelegt.375 Es wird interessant sein zu beobachten, wie der BFH mit diesem
Verfahren verfährt. Er kann die Europarechtswidrigkeit des § 1 AStG selbst entscheiden, er kann eine Vorabentscheidung des EuGH einholen oder er kann einen
Weg finden, wie er den Fall entscheiden kann, ohne diese Frage zu beantworten. Für
die Rechtsfortbildung wäre es sicher begrüßenswert, wenn der EuGH endlich Gelegenheit bekäme, über diese Frage zu entscheiden.
Auch das FG Münster vertritt mittlerweile die Auffassung, dass § 1 AStG europarechtswidrig ist.376 Die Entscheidung ist allerdings von einem anderen Senat getroffen worden als demjenigen, der das Urteil im Jahr 2000 besprochen hat. Auch gegen
dieses Urteil ist die Revision zugelassen.377 Das FG Münster stellt fest, dass seiner
Ansicht nach die diskriminierenden Wirkungen des § 1 AStG nicht durch eine dem
Art. 9 des OECD-MA nachgebildete Vorschrift eines DBA gerechtfertigt werden
könne, und beruft sich dabei auf den angesprochenen BFH-Beschluss aus dem Jahr
2001. Interessant ist insbesondere, dass zwischen den beiden Urteilen des FG Düsseldorf und FG Münster nur drei Tage liegen, sie also zeitgleich erfolgt sind. Von
Seiten der Finanzgerichte Nordrhein-Westfalens wird die Europarechtskonformität
des § 1 AStG also deutlich in Frage gestellt.
Die Finanzverwaltung ist bisher der Auffassung gewesen, dass die Europarechtswidrigkeit des § 1 AStG nicht feststeht. Sie hat die latente Gefahr eines entsprechenden
EuGH-Urteils gesehen. Anders ist die Diskussion um die Einführung eines § 9 c
EStG, der den Fremdvergleichsgrundsatz in das inländische Recht transportieren
würde, nicht zu verstehen. Sie hat sich aber auch zur Unternehmenssteuerreform
2008 nicht entschließen können, dem Gesetzgeber einen Vorschlag zu unterbreiten,
der zu einer europarechtskonformen Ausgestaltung der Besteuerung im Spannungsverhältnis des § 1 I AStG zu den anderen Einkünftekorrekturvorschriften beinhaltet.
Sie stützt sich bei Ihrer Argumentation, die sie für die Europarechtskonformität der
Vorschrift anführt, auf Art. 9 DBA, der Ausfluss des international anerkannten
Grundsatzes des Fremdvergleichs sei.378 Wenn dieser Grundsatz international gelte,
könne er nicht europarechtswidrig sein.
374 Unter Verweis auf Wassermeier, IStR 2001, 113.
375 Aktenzeichen des BFH: I R 26/08.
376 FG Münster, Urteil v. 22.02.2008, 9 K 509/07,EFG 2008, 923.
377 Zum Zeitpunkt des Abschlusses dieser Arbeit ist nicht bekannt, ob tatsächlich Revision
eingelegt worden.
378 Naumann, Status: Recht, 2007, 203.
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Der Gesetzgeber schließlich hat auch von sich aus nicht die Initiative ergriffen.
Auch nach den Änderungen in § 1 AStG ist die grundsätzliche Andersbehandlung
von inländischen und ausländischen Nutzungseinlagen bestehen geblieben.
Die zögerliche Haltung der Finanzverwaltung ist vor dem Hintergrund der Entwicklung der EuGH-Rechtsprechung zu sehen. Nachdem die Finanzverwaltungen
der Mitgliedstaaten eine Reihe von Prozessen verloren hatten,379 ließ die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Marks & Spencer380 sie darauf hoffen, dass das
Gericht die Belange der Finanzverwaltung zukünftig mehr berücksichtigen würde.
Jedoch hat er anschließend in Entscheidungen wie die in der Rechtssache Meilicke
jene Hoffnungen zunächst wieder gesenkt.381 Mittlerweile hat der EuGH jedoch in
den Entscheidungen Columbus Container382 und Lidl383 wieder zugunsten der
Finanzverwaltung entschieden. Aufgrund dieses Schlingerkurses des Gerichtes ist
nicht absehbar, wie der EuGH die Europarechtskonformität des § 1 AStG beurteilen
wird.
Nach hier vertretener Auffassung sind die Bedenken der Rechtsprechung gegen die
Europarechtskonformität des § 1 AStG verständlich. Es liegt eine Ungleichbehandlung von Inlands- und Auslandssachverhalten vor. Eine Rechtfertigung dafür ist
schwer zu erkennen. Die Ungleichbehandlung kommt letztendlich dadurch zustande,
dass der BFH entschieden hat, dass seiner Ansatz nach Nutzungseinlagen kein einlagefähiges Wirtschaftsgut darstellten. Wenn aber das deutsche Steuerrecht, insbesondere aufgrund der Auslegungen nationaler Vorschriften durch den BFH, dazu
führt, dass Steuerpflichtige in ihrer Niederlassungsfreiheit beschränkt werden, ist
schwer einsehbar, wieso dies auf europäischer Ebene gerechtfertigt sein soll. Es
handelte sich hier letztendlich um eine Besonderheit des deutschen Steuerrechtes,
für die darüber hinaus die rechte Rechtfertigung fehlt. Der BFH hätte durchaus auch
anders entscheiden können.384 Außerdem könnte auch der Gesetzgeber
Nutzungseinlagen als Wirtschaftsgut und damit als einlagefähig erklären.
Auch die Rechtfertigungsgründe der Notwendigkeit der Wahrung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten und die
Vermeidung einer Steuerumgehung führen nicht zu einer Europarechtskonformität
379 So z.B. EuGH-Urteil v. 12.12.2002, C-324/00, „Lankhorst-Hohorst“, DB 2002, 2690;
EuGH-Urteil v. 11.03.2004, C-9/02, „Hughes de Lastyrie du Saillant“, GmbHR 2004, 504;
EuGH-Urteil v. 21.02.2006, C-152/03, „Ritter-Cuulaes“, DB 2006, 479; EuGH-Urteil v.
23.02.2006, C-253/03, „CLT-UFA“, IStR 2006, 200; EuGH-Urteil v. 23.02.2006, C-471/04,
„Keller Holding“, IStR 2006, 235.
380 EuGH-Urteil v. 13.12.2005, C-446/03, „Marks & Spencer“, IStR 2006, 19.
381 EuGH-Urteil v. 06.03.2007, C-292/04, „Meilicke“, IStR 2007, 247.
382 EuGH-Urteil v. 06.12.2007, C-298/05, „Columbus Container“, DStR 2007, 2308.
383 EuGH-Urteil v. 15.05.2008, C-414/06, „Lidl“, IStR 2008, 400.
384 Der vorlegende Senat sah die Einlagefähigkeit von Nutzungen als gegeben an, BFH-Urteil
v. 16.10.1987, GrS 2/86, BStBl. II 1988, 348 unter III. 1.
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des § 1 I 1 AStG. Der EuGH hat jüngst im finnischen Fall „Oy AA“385 Grundsätze
zusammengeführt, die darauf schließen lassen, dass die hier vertretene Auffassung
der Europarechtswidrigkeit des § 1 AStG bestätigen dürfte. Der EuGH stellt zwar in
diesem Urteil unter Rz. 52 unter Bezugnahme auf die Urteile Gilly,386 Kerkhaert &
Morres387 und Test Clamimants in the Thin Cap Group Litigation388 festgestellt, dass
die Mitgliedstaaten in Ermangelung gemeinschaftsrechtlicher Vereinheitlichungsoder Harmonisierungsmaßnahmen befugt bleiben, die Kriterien für die Aufteilung
ihrer Besteuerungsbefugnis vertraglich oder einseitig festzulegen. Sogleich stellt er
aber in Tz. 53 unter Bezugnahme auf das Urteil Rewe-Zentralfinanz389 fest, dass die
Notwendigkeit der Wahrung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten nicht herangezogen werden könne, um einer in
einem Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft systematisch einen Steuervorteil
mit der Begründung zu verweigern, dass die Einnahmen ihrer Muttergesellschaft,
die ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat hat, in dem erstgenannten Mitgliedstaat nicht besteuert werden könnten. Anschließend wird unter Tz. 54 festgestellt,
dass dieser Rechtfertigungsgrund nur dann anzuerkennen sei, wenn mit der betreffenden Regelung Verhaltensweisen verhindert werden sollten, die geeignet seien,
das Recht eines Mitgliedstaates auf Ausübung seiner Besteuerungszuständigkeit für
die in seinem Hoheitsgebiet durchgeführten Tätigkeiten zu gefährden.
Nutzungseinlagen einer Muttergesellschaft bei ihrer Tochtergesellschaft sind grundsätzlich nicht darauf ausgerichtet, die Ausübung der Besteuerungszuständigkeit eines Mitgliedstaates zu gefährden. Sie dienen auch nicht dazu, systematisch einen
Steuervorteil zu erlangen. Vielmehr sind sie darauf ausgerichtet, die Tochtergesellschaft wirtschaftlich zu stärken. Dies gilt für inländische wie grenzüberschreitende
Sachverhalte gleichermaßen. Außerdem dient § 1 AStG nicht dazu, bestimmte Verhaltensweisen wie grenzüberschreitende Nutzungseinlagen zu verhindern, die die
Besteuerungszuständigkeit für in Deutschland durchgeführte Tätigkeiten gefährden.
Zum einen gefährden Outbound-Nutzungseinlagen nicht die Besteuerungszuständigkeit Deutschlands. Zum anderen will § 1 AStG keine Vorgänge verhindern, sondern nur ggf. zu niedrig angesetzte Verrechnungspreise korrigieren.
Allerdings kann argumentiert werden, dass § 1 AStG europarechtskonform sein
könnte, wenn er der „Vermeidung einer Steuerumgehung“ dient. In den Tz. 58 und
59 hat der EuGH erneut festgestellt, dass eine Regelung zur Verhinderung rein
künstlicher Gestaltungen europarechtskonform sein könnte.390 Jedoch gilt auch hier,
385 EuGH-Urteil v. 18.07.2007, C-231/05, IStR 2007, 631.
386 EuGH-Urteil v. 12.05.1998, C-336/96, Slg. 1998, I-2793, Rn. 24 u. 30.
387 EuGH-Urteil v. 14.11.2006, C-513/04, Slg. 2006, I-10967, Rz. 22 u. 23.
388 EuGH-Urteil v. 13.03.2007, C-524/04, Slg. 2007, IStR 2007, 249.
389 EuGH-Urteil v. 29.03.2007, C-347/04, Slg. 2007, BStBl. II 2007, 492..
390 Die Tz. 58 und 59 lauten: „58: Hinsichtlich der Vermeidung einer Steuerumgehung ist
schließlich einzuräumen, dass die Möglichkeit, die steuerpflichtigen Einkünfte einer
Tochtergesellschaft auf eine in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Muttergesellschaft zu
159
dass der § 1 AStG jedenfalls vorrangig nicht auf die Vermeidung künstlicher Gestaltungen abzielt, wofür zum Beispiel die Regelungen zur Hinzurechnungsbesteuerung gem. §§ 7 ff. AStG geschaffen worden sind. Das ist bei § 1 AStG nur ein Nebeneffekt. Er dient vor allem zur Durchsetzung steuerlich angemessener Verrechnungspreise bei der Einkünfteermittlung, also der steuerlich angemessenen Abbildung wirtschaftlicher Vorgänge. Daher ist der § 1 AStG nicht mit Hilfe der besprochenen Rechtfertigungsgründe als europarechtskonform anzusehen..
Schließlich ist auch das Argument, § 1 AStG sei durch Art. 9 OECD-MA gerechtfertigt, nicht überzeugend. Denn vereinfacht lautet das Argument: „ Was alle machen, muss richtig sein.“ Es ist jedoch denkbar, dass nach Auffassung des EuGH
auch eine international anerkannte Übung gegen die Grundfreiheiten verstoßen
kann.
Aus diesen Ausführungen ist zu folgern, dass § 1 I 1 AStG nicht dadurch als europarechtskonform anzusehen ist, dass er mit Art. 9 OECD-MA übereinstimmt. Daher ist
es zumindest möglich, dass der EuGH den § 1 I 1 AStG als nicht europarechtskonform beurteilt. Wenn § 1 I AStG jedoch europarechtswidrig ist, gilt dies für die gesamte Vorschrift, weil die anderen Regelungen auf Absatz 1 aufbauen. Umso dringlicher erscheint eine aktive Haltung seitens des deutschen Gesetzgebers. Da der § 1
AStG latent europarechtswidrig ist, böte sich eine Überführung der Vorschrift als
§ 16a in das EStG an, um dieser Gefahr zu begegnen.
Damit ist der erste Teil der Arbeit abgeschlossen. Die Zusammenfassung und das
Ergebnis werden nicht an dieser Stelle, sondern im dritten Teil gegeben, um eine
einheitliche Darstellung der Resultate des ersten und zweiten Teils zu gewährleisten.
übertragen, die Gefahr in sich birgt, dass durch rein künstliche Gestaltungen Einkünfte innerhalb einer Unternehmensgruppe auf Gesellschaften übertragen werden, deren Sitz sich in
den Mitgliedstaaten befindet, die die niedrigsten Steuersätze anwenden, oder die in den Mitgliedstaaten ansässig sind, in denen diese Einkünfte nicht besteuert werden. Diese Gefahr
wird noch dadurch verstärkt, dass die finnische Konzernbeitragsregelung nicht erfordert,
dass der Beitragsempfänger Verluste erwirtschaftet hat; 59: Indem die finnische Konzernbeitragsregelung das Recht, von den steuerpflichtigen Einkünften einer Tochtergesellschaft
einen an die Muttergesellschaft gezahlten Konzernbeitrag abzuziehen, nur einräumt, wenn
die Muttergesellschaft ihren Sitz im Inland hat, ist sie geeignet, solche Praktiken zu vermeiden, zu denen die Feststellung erheblicher Unterschiede zwischen den Bemessungsgrundlagen oder Steuersätzen in den verschiedenen Mitgliedstaaten verleiten kann und die nur der
Umgehung der Steuer dienen, die normalerweise im Mitgliedstaat der Tochtergesellschaft
auf deren Gewinne zu entrichten wäre.“
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Das Thema Funktionsverlagerung ist das Thema des Jahres im Internationalen Steuerrecht. Der deutsche Gesetzgeber hat als erstes Gesetzgebungsorgan weltweit ausdrückliche Regelungen in § 1 Abs. 3 AStG zu diesem umstrittenen Thema erlassen. Die deutsche Finanzverwaltung hat mit Zustimmung des Bundesrats außerdem das Gesetz durch die Funktionsverlagerungsverordnung (FVerlVO) ergänzt. Damit stehen umfassende legislative Regelungen zur Besteuerung dieses umstrittenen Themenbereichs zur Verfügung.
Das Werk analysiert die neuen Regelungen und bezieht zu den einzelnen Themenbereichen ausführlich Stellung. Im ersten Teil werden zunächst die Neuregelungen zur steuerlichen Behandlung von Verrechnungspreisen durch die Unternehmensteuerreform 2008 dargestellt. Dabei wird auch die Vereinbarkeit des § 1 AStG mit dem Europarecht untersucht. Darauf aufbauend werden die Regelungen zur Funktionsverlagerung im zweiten Teil kritisch untersucht und ebenfalls auf ihre Europarechtstauglichkeit analysiert.