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ZWEITER TEIL: Rechtliche Grundlagen und Rahmenbedingungen für
die kollektive Wahrnehmung in den Urheberrechtssystemen Europas
1. Abschnitt: Historische Entwicklung der Verwertungsgesellschaften
Es war die Natur der Geisteswerke an sich, die - anders als das Sacheigentum - mehreren gleichzeitig zur Nutzung zugänglich sind, die die kollektive Form der Interessenwahrung durch die Verwertungsgesellschaften begründete.1 Die Einrichtung der
ersten Verwertungsgesellschaften setzte nämlich an dem Problem an, dass die Autoren nach Gewährung von Aufführungsrechten durch die jeweiligen Urheberrechtsordnungen nicht mehr in der Lage sind, die Kontrolle über die unüberschaubare
Vielzahl von Nutzungsvorgängen auszuüben und somit die entsprechende Erteilungsvereinbarung zu treffen. Ebenso wenig ist es dem Veranstalter einer musikalischen Aufführung oder dem demjenigen, der gesendete Musik öffentlich wiedergibt,
möglich, die ihm unbekannten Rechtsinhaber zu ermitteln, um die notwendige Nutzungslizenz einzuholen. Das Bedürfnis, dem hier gedient wird, ergibt sich aus dem
sozialen Gedanken, jedem den Schutz zu gewähren, dessen er bedarf.2 Damit war
der Weg für die Gründung der Verwertungsgesellschaften vorgezeichnet, die zwar
der Initiative der Kreativen entsprangen, dennoch staatsentlastend eine umfassende
und unbürokratische Lizenzerteilung zu kalkulierbaren Kosten gewährleistete und
dabei die angemessene Beteiligung des Werkschöpfers an der Nutzung seines Werkes sicherstellte. An der Tätigkeit der Verwertungsgesellschaften, die vornehmlich
in der Wahrnehmung gesetzlicher Vergütungsansprüche liegt, haben also sowohl
Rechteinhaber als auch Verwerter ein nachhaltiges Interesse, da die Zentralisierung
des Inkassos und der Abschluss von Gesamt- bzw. Rahmenverträgen ihren gesetzlichen Vergütungsanspruch mit vertretbarem Verwaltungsaufwand sicherstellen.3
Die Entstehungsgeschichte der kollektiven Wahrnehmung war zunächst eine
Domäne der Musik in Europa des 19. Jahrhunderts. Sie geht nämlich auf die Gründung der Société des Auteurs, Compositeurs et Éditeurs de Musique (SACEM) am
28. Februar 1851 in Frankreich zurück. Ihre Hauptaufgabe bestand in der Erhebung
von Tantiemen bei Aufführungen nicht-dramatischer Werke im Interesse der Komponisten, Textdichter und der mit ihnen vertraglich verbundenen Musikverleger.
Anstoß für die Gründung der ersten Wahrnehmungsorganisation gab ein Urheberrechtsprozess: Das Tribunal de Commerce de la Seine verbot dem Direktor des Pari-
1 Dietz, GRUR 1972, 11, 13.
2 Herschel, UFITA Bd. 50 (1967), 22, 26.
3 Rossbach, Vergütungsansprüche, 1990, S. 213.
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ser Konzert-Cafés Ambassadeurs mit seinem Urteil vom 8. September 1847 Stücke
des Komponisten Bourget ohne dessen Genehmigung zu spielen. Damit wurde zum
ersten Mal das französische Gesetz von 1781 in der gerichtlichen Praxis durchgesetzt, das dem Autor das ausschließliche Recht zur öffentlichen Aufführungen seiner
Werke zuerkannte.4
Die Entwicklungen in Frankreich dienten als Vorbild für Bestrebungen in vielen
Ländern. 1882 folgte die Gründung der italienischen Società Italiana degli Autori et
Editori (SIAE), 1895 der österreichischen Gesellschaft der Autoren, Komponisten
und Musilverleger (AKM) und 1899 der spanischen Sociedad General de Autores y
Editores (SGAE). Die britische Performing Rights Society (PRS) wurde Anfang
1914 gegründet.5 Ein Meilenstein der kollektiven Wahrnehmung von Urheberrechten in Deutschland ist das Gründungsdatum der Genossenschaft deutscher Tonsetzer
(GDT). Am 14. Juli 1903 von bedeutenden Komponisten, unter anderen Richard
Strauß, ins Leben gerufen, entstand mit der GDT der erste auf ministerielle Genehmigung rechtsfähige wirtschaftliche Verein, der sich dem Schutz dramatischmusikalischer Rechte widmete.
Zögerlich folgten die restlichen europäischen Länder. Erst in den fünfziger und
sechziger Jahren kamen die ersten Wahrnehmungsorganisationen für Musiker und
ausübende Künstler auf, was zweifellos auf die spätere Einbindung der verwandten
Schutzrechte in den Schutz des geistigen Eigentums zurückzuführen ist.
4 Zum Hintergrund des Gerichtsverfahrens und seinen Folgen, Melichar, Die Wahrnehmung
von Urheberrechten, 1983, S. 1. Kurzer Überblick über die Entstehungsgeschichte der Verwertungsgesellschaften in Europa bei Florenson, RIDA 196 (avril 2003), 3, 21 ff.
5 PRS ist die älteste der bestehenden Verwertungsgesellschaften Großbritanniens, allerdings
nicht die erste: bereits 1832 wurde Dramatic Authors’s Society als Verwertungsgesellschaft
der dramatischen Autoren gegründet, ging jedoch etwa 50 Jahre später in der Society of
Authors auf. Ihre Existenz wird sogar vom bekannten Schriftsteller Charles Dickens in seinem
Dickens’s Dictionary of London, 1879, dokumentiert. 1914 wurde im Common Law-Raum die
US-amerikanische ASCAP (American Society of Composers, Authors and Publishers) gegründet; die Gründung der ersten australischen Wahrnehmungsorganisation APRA (Australasian
Performing Rights Association) geht auf das Jahr 1926 zurück.
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2. Abschnitt: Überblick über die Tätigkeit bestehender Verwertungsgesellschaften
nach Wahrnehmungsrepertoire
A. Der musikalische Bereich
I. Der Wahrnehmungsbereich
Die Ursprünge der Institution der kollektiven Rechtewahrnehmung weltweit liegen
in der Entstehung der musikalischen Verwertungsgesellschaften. Diese nehmen
Nutzungsrechte an Musikwerken im Namen der als Mitglieder beigetretenen Komponisten, Textdichter, Bearbeiter und Musikverleger wahr. Die Verwertung von
urheberrechtlich geschützten Werken im Musikbereich bietet zwei Betätigungsgebiete für die Verwertungsgesellschaften: die Wahrnehmung der Aufführungs- und
Senderechte und die Wahrnehmung der mechanischen Vervielfältigungsrechte.
Die sog. “kleinen“ Rechte umfassen die Rechte zur „konzertmäßigen“ Live-
Aufführung von Musikwerken sowie zu sonstigen öffentlichen Wiedergaben mittels
technischer Vorrichtungen, nämlich mit Hilfe von analogen und digitalen Bild- und
Tonträgern - gleich welche Abspielvorrichtung benutzt wird (Kassettenrecorder,
Tonbandgerät, CD-, DVD- und MP3-Player, Computerfestplatte) - oder via Rundfunksendung einschließlich Web- und Simulcasting. Im Hinblick auf die Abgrenzung zwischen „kleinen“ und „großen“ Rechten6 – Letztere sind Gegenstand individueller Wahrnehmung – handelt es sich um ein kleines Recht, wenn Teile eines
musikdramatischen Werkes nur konzertant, beispielsweise im Rahmen eines Arienabends, aufgeführt bzw. durch Tonträger ohne jeglichen optischen Bezug wiedergegeben werden. Die Aufführungsrechte bei Bühnenmusiken, soweit sie nicht integrierender Bestandteil eines Bühnenwerks sind, werden kollektiv wahrgenommen; das
ist beispielsweise der Fall bei den sog. vertanzten Werken des kleinen Rechts, nämlich Choreographien, die zu vorbestehenden Musikwerken hinzugefügt werden.
Mechanische Rechte sind hingegen die Rechte der Übertragung von Werken auf
analoge oder digitale Bild- oder Tonträger sowie der Verbreitung dieser Werkexemplare durch Verkauf, Verleih oder Vermietung. Als mechanisches Recht wird
ebenso das Recht zur Aufzeichnung musikalischen Materials zum Zwecke der Ton-
6 Die „großen Rechte“ beziehen sich auf die Rechte zur bühnenmäßigen Aufführung dramatisch-musikalischer Werke (Oper, Musical, Operette, Ballett) sowie zur Sendung der Werke,
sofern sie zum Zweck der vollständigen Wiedergabe, zur Wiedergabe im Querschnitt oder in
größeren Teilen vergeben werden. Während die kleinen Rechte eine wirksame bzw. einheitliche Geltendmachung durch kollektive Wahrnehmung erfordern, werden die großen Rechte
durch Bühnenverlage und Bühnenvertriebe weiterhin individuell wahrgenommen; vgl. dazu
Ulmer, Urheber- und Verlagsrecht, 1980, S. 406 ff.
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References
Zusammenfassung
Die Anpassung der kollektiven Wahrnehmung von Urheberrechten durch die Verwertungsgesellschaften an das digitale Zeitalter gewinnt zunehmend an Brisanz. Diese rechtsvergleichende Studie nimmt den Urheberrechtswandel in vielen Ländern Europas unter die Lupe, um anschließend die rechtlichen Rahmenbedingungen und die Wahrnehmungspraxis ausgewählter Verwertungsgesellschaften zu untersuchen. Nachgezeichnet werden dabei die Konturen einer gemeinschaftsweiten Rechtewahrnehmung, vor allem im Bereich der Online-Lizenzierung. Dazu wird der Frage nach Handlungsoptionen für eine gestärkte Rolle der Verwertungsgesellschaften in einer stets wandelnden Medienlandschaft nachgegangen.