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öffentlichen Interessen „erhoben“ werden, indem der Staat die Wahrnehmung des
Interesses übernimmt und dessen Durchsetzung im Konfliktfall gewährleistet.519
Übertragen auf die Kategorien des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts sind
damit Konstellationen angesprochen, in denen der Gesetzgeber das Interesse eines
Beteiligten besonderes anerkennt und die Durchsetzung nicht der auf die Verbandsbeteiligten beschränkten Anfechtung überlassen will.
Aus diesem Begriffsverständnis folgt indes noch nicht das maßgebliche Kriterium, das eine Zuordnung der beeinträchtigten Interessen zu der einen oder anderen
Seite ermöglicht. § 241 Nr. 3 AktG gibt nicht zu erkennen, dass die Vorschrift diese
Entscheidung im Sinne einer Delegation auf die Rechtsprechung übertragen will, die
dadurch ermächtigt wäre, über die Wirksamkeit eines Beschlusses im Einzelfall zu
entscheiden.520 Vielmehr ist eine Konkretisierung des Begriffs des öffentlichen Interesses mittels einer Auslegung der übrigen aktienrechtlichen Vorschriften erforderlich.
II. Nichtigkeit und Anfechtbarkeit im Vergleich
1. Rechtswidrigkeit und Unwirksamkeit von Hauptversammlungsbeschlüssen
Für den Fall, dass ein Beschluss die gesetzlichen Vorgaben verfehlt, differenziert
das Aktienrecht zwischen der Nichtigkeit, der Anfechtbarkeit und der schwebenden
Unwirksamkeit. Bei allen Unterschieden ist diesen Rechtsfolgen gemeinsam, dass
sie stets den gesamten Beschluss erfassen. Eine relative Unwirksamkeit nur gegen-
über bestimmten Personen nach dem Vorbild des § 135 BGB ist dem aktienrechtlichen Beschlussmängelrecht fremd.521 Der Funktion des Beschlusses, einen dem
519 Vgl. Wahl in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Vorbem. § 42 Abs. 2 Rn. 56 ff.; zu
einer Kompetenztheorie des öffentlichen Interesses weiterentwickelt von Uerpmann, Das
öffentliche Interesse, 1999, insb. S. 39, 109 ff.
520 Es fehlt damit die Delegationsfunktion einer Generalklausel im klassischen Sinne, vgl. dazu
allgemein Kamanabrou, AcP 202 (2002), 662, 666 f.; Ohly, AcP 201 (2001), 1, 7; eingehend
Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 49 ff. – Anders das Verständnis des
Nichtigkeitstatbestandes im schweizerischen Aktienrecht; nach Forstmoser/Meier-
Hayoz/Nobel, Schweizerisches Aktienrecht, 1996, § 25 Rn. 101, stelle Art. 706b OR eine
Ermächtigungsnorm dar, mit der der Gesetzgeber die rechtssetzende Aufgabe an den Richter
delegiert habe.
521 Auch Noack lehnt eine relative Nichtigkeit für das Beschlussmängelrecht ausdrücklich ab; für
die von ihm vorgeschlagene Kategorie der „internen Nichtigkeit“ gelte ebenfalls, dass der
fehlerhafte Beschluss gegenüber allen Mitgliedern, nicht nur gegenüber dem betroffenen
Mitglied ohne Wirkung ist, vgl. Noack, Fehlerhafte Beschlüsse, 1989, S. 64; siehe zur Kritik
an dessen Konzeption Casper, ZHR 163 (1999), 54, 64 f.; Koch, Anfechtungsklageerfordernis, 1997, S. 76 f.; K. Schmidt in Großkomm. AktG, § 241 Rn. 9; M. Schwab,
Das Prozeßrecht gesellschaftsinterner Streitigkeiten, 2005, S. 427 f. Allgemein zur
personellen Relativierung der Unwirksamkeit im Bürgerlichen Recht Beckmann, Nichtigkeit
und Personenschutz, 1998, im Anschluss an U. Hübner, FS H. Hübner, 1984, S. 487 ff.
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Verband zurechenbaren kollektiven Willen der Aktionäre zu bilden,522 entspricht es
einzig, dass der Beschluss entweder insgesamt wirksam oder insgesamt unwirksam
ist.523 Aus diesem Grund hat jede Unwirksamkeit eines Hauptversammlungsbeschlusses dramatische Folgen für die gesamte Aktiengesellschaft. Der Nichtigkeit
steht deswegen immer ein Bedürfnis nach der Bestandkraft der Beschlüsse entgegen,
um die Handlungsfähigkeit der Gesellschaft zu erhalten.524 Diese widerstreitenden
Belange hatte der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Beschlussmängelrechts zu
berücksichtigen. Das geltende Aktienrecht löst diesen Konflikt durch die Unterscheidung zwischen Nichtigkeitsmängeln, die grundsätzlich525 unbeschränkt geltend
gemacht werden können, und bloßen Anfechtungsmängeln, deren Geltendmachung
in mehrfacher Hinsicht beschränkt ist. Die Untersuchungen in den vorangegangenen
Kapiteln führten zu einigen Erkenntnissen, die im Folgenden für die Abgrenzung der
Rechtsfolgen fruchtbar zu machen sind.
Bereits die allgemeinen Erläuterungen zur Wirkung eines Beschlusses zeigten einen wichtigen Unterschied zur allgemeinen Rechtsgeschäftslehre: Die Teilnehmer
an der Beschlussfassung zielen nicht einfach auf die Regelung ihrer persönlichen
Rechtsbeziehungen untereinander; vielmehr bilden sie einen Willen, der der handelnden Personenmehrheit und schließlich der betreffenden Gesellschaft zugerechnet wird.526 Voraussetzung ist deswegen, dass den Handelnden eine besondere
Rechtsmacht eingeräumt ist, um diese Wirkung für den Verband hervorzubringen.
Übersetzt in die gesellschaftsrechtliche Systematik heißt das, dass der betreffende
Beschlussinhalt zum ersten in den Zuständigkeitsbereich der jeweiligen Gesellschaft
und zum zweiten in die Zuständigkeit gerade des handelnden Organs, vorliegend
also der Hauptversammlung fallen muss.527 Dies sei an zwei Beispielen erläutert:
(1) Nach § 119 Abs. 2 AktG setzt ein Beschluss der Hauptversammlung über eine
Geschäftsführungsmaßnahme die Vorlage der Entscheidung durch den Vorstand
voraus.528 Den Aktionären steht es jedoch frei, auch ohne Vorlage des Vorstands
über eine Geschäftsführungsmaßnahme abzustimmen. In dieser Abstimmung lässt
sich jedoch allenfalls ein unverbindliches Meinungsbild oder aber eine Absprache
unter den Aktionären persönlich sehen. Dagegen scheidet die Zurechnung zum Verband, wie sich im Umkehrschluss zu § 119 Abs. 2 AktG ergibt, mangels Zuständigkeit der Hauptversammlung aus.529
522 Vgl. oben § 1 II und III 1, S. 25, 26.
523 In diesem Sinne bereits die Allgemeine Begründung zum Entwurf der Novelle 1884, abgedr.
bei Schubert/Hommelhoff, Hundert Jahre modernes Aktienrecht, 1985, S. 468; vgl. auch
RGZ 85, 311, 313 f., dazu K. Schmidt, FS Stimpel, 1985, S. 217, 238.
524 Vgl. § 4 III 1, S. 92 ff. Dieses Regelungsziel lag bereits dem ADHGB 1884 zugrunde, siehe
dazu § 3 II 3, S. 61.
525 Eingehend zum Bestandsschutz nichtiger Beschlüsse § 7 V, S. 142 ff.
526 Vgl. § 1 III 1, S. 26.
527 Vgl. die Theorie des Beschlusses bei Baltzer, Beschluß, 1965, insb. S. 47 f.
528 Von der Frage ungeschriebener Hauptversammlungszuständigkeiten für Grundlagenentscheidungen kann vorliegend abgesehen werden.
529 Zur Rechtsfolge des gleichfalls gefassten Beschlusses unten § 10 II 1, S. 196 ff.
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(2) Zweites Beispiel ist ein Beschluss der Aktionäre über die gemeinsame Verwendung der an sie ausgeschütteten Dividende. Die Abstimmung könnte die zustimmenden Aktionäre persönlich verpflichten, wäre aber kein der Gesellschaft
zurechenbarer, allseits verbindlicher Hauptversammlungsbeschluss.530 Das bedeutet:
Den Mitgliedern muss jeweils eine besondere Rechtsmacht eingeräumt sein, um für
den Verband zu handeln; die Voraussetzungen für die Zurechnung ergeben sich aus
dem Gesetz. Für die Zurechnung maßgeblich ist der betreffende Beschlussinhalt.
Gerade das intendierte Beschlussergebnis muss im Zuständigkeitsbereich der
Hauptversammlung liegen. Ist der beabsichtige Beschlussinhalt aber schlechthin der
Zuständigkeit der Hauptversammlung entzogen, stehen die Aktionäre vor einer un-
überwindlichen Hürde; es besteht kein gesellschaftsrechtlich zulässiger Weg, den
Beschluss in Geltung zu setzen. Davon lassen sich weitere Wirksamkeitsvoraussetzungen formeller Art unterscheiden oder besondere Zustimmungserfordernisse, die
das Gesetz für den betreffenden Entscheidungsgegenstand aufstellt.
2. Beschränkungen der Anfechtbarkeit gegenüber der Nichtigkeit
Wie § 241 Nr. 5 AktG klarstellt, steht die Nichtigkeit infolge eines rechtskräftigen
Anfechtungsurteils der ipso iure-eintretenden Nichtigkeit nach Nr. 1 bis 4 gleich.
Aufgrund des Anfechtungsklageerfordernisses setzt die Nichtigkeit auf Sekundärebene jedoch die erfolgreiche Klageerhebung voraus. Die Beschränkungen der Anfechtbarkeit gegenüber der Nichtigkeit resultieren also aus den Beschränkungen der
Anfechtungsklage, die in § 4 III bereits eingehend dargestellt wurden. Auf drei wesentliche Aspekte ist nun zurückzukommen.
a) Subjektivrechtlicher Charakter des Anfechtungsrechts
§ 245 AktG verleiht bestimmten Personen die Anfechtungsbefugnis. Nur sie haben
die Rechtsmacht, durch eine einseitige Handlung eine Rechtsänderung, nämlich die
Vernichtung des Beschlusses herbeizuführen, wobei die eigentliche Wirkung nicht
schon mit Ausübung des Rechts selbst, sondern erst mit Rechtskraft des daraufhin
ergehenden Urteils eintritt. Das Anfechtungsrecht ist nach der zivilrechtlichen Begrifflichkeit ein Gestaltungsklagerecht531 und hat als solches den Charakter eines
530 Dieses Beispiel bereits bei A. Hueck, Anfechtbarkeit und Nichtigkeit, 1924, S. 60.
531 BGH, AG 1992, 448, 449; MünchKommAktG/Hüffer § 245 Rn. 9; K. Schmidt, FS Semler,
1993, S. 329, 333; ders., FS Stimpel, 1985, S. 217, 223; Boujong, FS Kellermann, 1991, S. 1,
10; allgemein zum Gestaltungsklagrecht Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil, 2004, § 15 Rn. 71 f.;
Medicus, Allgemeiner Teil, 2002, Rn. 84 f.
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subjektiven Rechts.532 Mit dieser dogmatischen Einordnung verbinden sich zwei
Folgerungen.533
(1) Die Einräumung eines subjektiven Rechts führt stets zu einer selektiven Berücksichtigung von Interessen. Die Rechtsmacht ist bestimmten Personen (und nur
diesen) zugewiesen, während alle anderen von dieser Möglichkeit ausgeschlossen
sind.534 Als Exklusivität des Anfechtungsrechts lässt sich demnach bezeichnen, dass
die Anfechtungsbefugnis gemäß § 245 AktG auf Verbandsbeteiligte beschränkt
ist.535 Verbandsexterne Dritte können bloße Anfechtungsmängel nicht geltend machen und somit ihr Interesse an der Unwirksamkeit des Beschlusses nicht durchsetzen.536
(2) Die Figur des subjektiven Rechts bringt auf der anderen Seite zum Ausdruck,
dass der jeweilige Rechtsinhaber grundsätzlich frei über die Wahrnehmung seiner
Befugnis entscheiden kann.537 Auch in der Zuweisung einseitiger Rechtsmacht kann
deswegen ein Element der Privatautonomie liegen:538 Dies rechtfertigt sich, ebenso
wie die Gestaltungsfreiheit, aus der besonderen Sachnähe der unmittelbar Beteiligten, in deren Hände die Entscheidung über die Klagerhebung gelegt ist. Den Anfechtungsberechtigten steht es frei, nicht jeden (eventuellen) Rechtsverstoß zum Anlass
für einen Rechtsstreit und gegebenenfalls die Vernichtung des Beschlusses zu nehmen. Weil sich der Ausgang des Rechtsstreits häufig nicht sicher abschätzen lässt,
vor allem aber wegen der negativen Folgen jeder Beschlussnichtigkeit für die gesamte Gesellschaft mag es in vielen Fällen eine rationale Entscheidung sein, von der
Klageerhebung abzusehen.539 Selbst wenn die Wahrnehmung des Anfechtungsrechts
532 Spindler/Stilz/Dörr, AktG, 2007, § 245 Rn. 2, 8; MünchKommAktG/Hüffer § 245 Rn. 2;
K. Schmidt in Großkomm. AktG, § 245 Rn. 4.
533 Auch wenn man den Beschlussmängelstreit mit M. Schwab (Das Prozeßrecht
gesellschaftsinterner Streitigkeiten, 2005, S. 287 ff.; dazu bereits oben § 4 I in Fn. 335) als
„objektives Rechtsbeanstandungsverfahren“ und das Anfechtungsrecht als „prozessuale
Befugnis“ versteht, bleibt es im Kern bei der hier skizzierten wesentlichen Charakteristik des
Anfechtungsrechts: Die Einleitung des Verfahrens und damit die Vernichtung des
Beschlusses sind an die Initiative derjenigen Personen geknüpft, denen § 245 AktG die
Anfechtungsbefugnis zuerkennt.
534 Vgl. etwa Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil, 2004, § 14 Rn. 17.
535 Das unterscheidet die Anfechtungsklage von der echten Popularklage, vgl. zur Abgrenzung
Halfmeier, Popularklagen im Privatrecht, 2006, S. 15 f.
536 Auch die Nichtigkeitsklage ist zwar nach § 249 Abs. 1 Satz 1 AktG den Verbandsbeteiligten
vorbehalten; im Unterschied zur Anfechtungsklage stellt sie jedoch nicht das einzige Mittel
dar, um die Rechtswidrigkeit des Beschlusses geltend zu machen, so dass die personelle
Beschränkung dieser Klagemöglichkeit Bedeutung nur für das Verfahren und die
Urteilswirkung hat, vgl. bereits § 4 II 1 bei Fn. 344 und § 4 III 2 bei Fn. 395 f.
537 Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil, 2004, § 14 Rn. 5; zu den Schranken des subjektiven Rechts
sogleich im Text sub b.
538 Staudinger/Roth, Bearbeitung 2003, § 142 Rn. 4; Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil, 2004, § 14
Rn. 9.
539 Das Problem des Missbrauchs des Anfechtungsrechts resultiert aus dem Umstand, dass es für
einzelne Aktionäre rational erscheinen kann, dennoch von ihrem Klagerecht Gebrauch zu
machen und das damit verbundene Erpressungspotential auszunutzen; vgl. zur grob
eigennützigen Rechtsausübung MünchKommAktG/Hüffer § 245 Rn. 53 ff.
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aus bloßer Rechtslethargie unterbleibt, akzeptiert der Gesetzgeber das Verhalten der
Berechtigten. Anders gewendet ist das Recht zur Durchsetzung der verletzten Vorschriften gegenüber abweichenden Beschlüssen auf die Mitwirkung der Anfechtungsberechtigten angewiesen; mangels positiver Verpflichtung zur Anfechtung ist
es aber aus Sicht der Rechtsordnung Zufall, ob die Klageerhebung erfolgt oder
nicht.540
In dieser Abhängigkeit von den Interessen der Verbandsbeteiligten, die aus dem
subjektivrechtlichen Charakter des Anfechtungsrechts folgt, liegt also zugleich eine
Blindheit für Interessen Dritter und öffentliche Interessen. Als Sanktion erscheint
die Anfechtbarkeit deswegen nur angemessen, wenn der Gesetzgeber der Wirksamkeit des Beschlusses indifferent gegenüber steht, oder genauer: Wenn er zu akzeptieren bereits ist, dass sich die Aktionäre in ihrem eigenen Interesse gegen die Vernichtung des Beschlusses und damit in der Sache für die Abweichung von den gesetzlichen Vorgaben entscheiden.
b) Beschränkung des Anfechtungsrechts als Ausdruck der Treuebindung
Die skizzierte dogmatische Einordnung als subjektives Recht lenkt den Blick auf die
Grenzen des Anfechtungsrechts. Jedem subjektiven Recht sind Schranken gesetzt,
die sich aus den §§ 226, 138, 826 BGB, vor allem aber aus der Generalklausel in
§ 242 BGB ableiten lassen. Die treuwidrige Ausübung eines Rechts ist unzulässig.541
Das aktienrechtliche Beschlussmängelrecht geht darüber weit hinaus. Es sieht drei
ausdrückliche Regelungen vor, mit denen die Möglichkeit des Anfechtungsbefugten
begrenzt ist, die Rechtswidrigkeit eines Beschlusses geltend zu machen. (1) Das
Klageerfordernis bürdet dem Aktionär nicht nur die Initiativlast auf, sondern vor
allem das Prozessrisiko. (2) Die Anfechtungsfrist in § 246 Abs. 1 AktG zwingt ihn
zudem, innerhalb eines Monats die Entscheidung zu treffen, ob er gegen den Beschluss vorgehen will. (3) Nach § 245 AktG ist die Anfechtung regelmäßig ausgeschlossen, wenn der Aktionär nicht an der Hauptversammlung teilgenommen und
gegen den Beschluss Widerspruch eingelegt hat.542
Wie die Analyse dieser Vorschriften in § 4 III ergeben hat, können die Wertungen
der allgemeinen Rechtsausübungsschranken diese drastische Verkürzung des Aktionärsrechts nicht rechtfertigen. Die Begrenzungen beruhen vielmehr auf der besonderen Bindung des Mitglieds an die Interessen der Gesellschaft. Sie sind deswegen
nicht als Ausdruck des allgemeinen Grundsatzes von Treu und Glauben, sondern als
540 Vgl. zu diesem Aspekt des subjektiven Rechts Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993,
S. 490.
541 Dazu Bork, Allgemeiner Teil, 2006, Rn. 348 ff.; Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil, 2004, § 16
Rn. 16 ff.; Medicus, Allgemeiner Teil, 2002, Rn. 136 f.; vgl. auch MünchKommAktG/Hüffer
§ 245 Rn. 7.
542 Dies gilt nicht für die Anfechtungsbefugnis des Vorstands nach § 245 Nr. 4 AktG und der
Organmitglieder nach § 245 Nr. 5 AktG.
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Konkretisierung der spezifischen Treupflicht des Gesellschafters aufzufassen.543 Das
ist gewissermaßen die Kehrseite der exklusiven Zuweisung des Anfechtungsrechts
an die Aktionäre: Nur den Verbandsbeteiligten, die der besonderen Treuebindung
unterliegen, ist es zumutbar, den Rechtsschutz zugunsten des Interesses an der
Handlungsfähigkeit der Gesellschaft zurückzustellen. Den Beschränkungen des
Anfechtungsrechts liegt mit anderen Worten ein verbandsinterner Interessenausgleich zwischen Gesellschafts- und Gesellschafterinteresse zugrunde. Daraus folgt
aber wiederum, dass die bloße Anfechtbarkeit als Rechtsfolge nur für solche
Rechtspositionen der Aktionäre angemessen erscheint, die einer derartigen Abwägung offen stehen; in allen anderen Fällen lässt sich nur die Nichtigkeit rechtfertigen. Das deutet darauf hin, dass das Anfechtungsrecht zur Durchsetzung von Vorschriften dient, bei denen es im Kern um das Teilhaberecht der Aktionäre geht.
c) Beschlusswirksamkeit bei Nichtanfechtung
Die subjektivrechtliche Konstruktion des Anfechtungsrechts führt drittens zu der
Möglichkeit, dass sämtliche Aktionäre (sowie der anfechtungsberechtigte Vorstand
und die Organmitglieder) die Klageerhebung unterlassen. Mit Ablauf der einmonatigen Anfechtungsfrist wird der eigentlich rechtswidrige Beschluss dann endgültig
wirksam. Die Gesellschaft kann den Beschluss zur Grundlage ihres weiteren Handelns machen; es besteht damit die gleiche Rechtslage, wie wenn die Beschlussfassung zulässig gewesen wäre.544 Sind sich die Verbandsbeteiligten einig, können sie
sich mit anderen Worten über die betroffenen Gesetzesbestimmungen hinwegsetzen.
Diese Aussicht, sich selbst im Nachhinein folgenlos von der Norm dispensieren zu
können, ist für die Abgrenzung von Nichtigkeit und Anfechtbarkeit entscheidend.
Zwischen der grundsätzlichen Zulässigkeit des beabsichtigten Beschlussergebnisses
und der Fehlerfolge besteht ein wertungsmäßiger Zusammenhang. Allein hierin liegt
das gesuchte, normativ verankerte Kriterium zur Entscheidung, ob eine Vorschrift
i.S.d. § 241 Nr. 3 AktG „im öffentlichen Interesse“ gegeben ist oder nur Aktionärsinteressen dient. Es sind also zwei Fälle zu unterscheiden:
543 Vgl. bereits oben § 4 III 2, 3 und 4, S. 94, 96, 98, jeweils m. Nachw.; zur Anfechtungsfrist
vor allem M. Schwab, Das Prozeßrecht gesellschaftsinterner Streitigkeiten, 2005, S. 397. –
Zum Verhältnis zwischen der gesellschaftsrechtlichen Treupflicht und der allgemeinen Regel
des § 242 BGB vgl. Bachmann, Private Ordnung, 2006, S. 212 m. Nachw. zum
Diskussionsstand.
544 Dies gilt jedenfalls dann, wenn die gegebenenfalls notwendige Eintragung des Beschlusses
ins Handelsregister erfolgt ist. Die Eintragung scheitert grundsätzlich nicht an der bloßen
Anfechtbarkeit des Beschlusses, vgl. K. Schmidt in Großkomm. AktG, § 243 Rn. 72.
Fallgruppen der sogenannten Eintragungswidrigkeit anfechtbarer Beschlüsse diskutieren
Hüffer, AktG, § 243 Rn. 56; Spindler/Stilz/Würthwein, AktG, 2007, § 241 Rn. 100 ff., § 243
Rn. 18 ff.; Noack, Fehlerhafte Beschlüsse, 1989, S. 12, im Anschluss an Lutter, NJW 1969,
1873 ff. Ob dafür angesichts der hier vorgeschlagenen Abgrenzung von Nichtigkeit und
Anfechtbarkeit noch Raum ist, erscheint fraglich; die Fälle dürften jedenfalls selten sein.
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(1) Im einen Fall hätte es die Hauptversammlung in der Hand gehabt, den entsprechenden Beschluss auf rechtmäßige Weise zu fassen: Die zulässige Beschlussfassung ist also lediglich von Entscheidungen der Aktionäre abhängig. Damit gibt
der Gesetzgeber zu erkennen, dass die betreffenden Vorschriften ausschließlich
Interessen der Aktionäre schützen.545 Dritte haben dagegen kein rechtlich anerkanntes Interesse, den Beschluss zu verhindern. Für die Nichtigkeit des Beschlusses ist
deswegen kein Bedarf; es ist allein Sache der Verbandsbeteiligten, für die Vernichtung des Beschlusses zu sorgen und auf diesem Wege die Beachtung der gesetzlichen Vorgaben durchzusetzen. Diesem Recht steht jedoch die Treupflicht entgegen,
weswegen das Anfechtungsrecht den geschilderten Beschränkungen der §§ 245, 246
Abs. 1 AktG unterworfen ist.
(2) Anders sind dagegen Fälle zu beurteilen, in denen die Geltung der betreffenden Vorschrift der Disposition der Aktionäre entzogen ist. Hätte kein zulässiger
Weg bestanden, einen derartigen Beschluss zu fassen, ist diese Entscheidung des
Gesetzgebers auch auf der Ebene des Beschlussmängelrechts zu respektieren. Das
Gesetz hat der Hauptversammlung die Rechtsmacht vorenthalten, die beabsichtigte
Regelung zu fassen, und bringt dadurch ein öffentliches Interesse an dieser Vorschrift zum Ausdruck. Auch wenn die Norm vorwiegend verbandsinterne Belange
betrifft, zeigt die zwingende Anordnung, dass die Aktionäre auf diesen Schutz nicht
verzichten können. Dies war bereits das Verständnis des Schrifttums im Vorfeld des
AktG 1937.546 Die Nichtanfechtung des Beschlusses kann deswegen nur zur Wirksamkeit solcher Beschlüsse führen, die mit Zustimmung aller Aktionäre hätten gefasst werden können.
III. Zusammenfassung: Nichtigkeit nach § 241 Nr. 3 AktG
Fasst man diese Erkenntnisse zusammen, ergibt sich folgende Regel für die Auslegung von § 241 Nr. 3 AktG: Nichtig ist ein Beschluss, dessen Inhalt die Hauptversammlung auch bei allseitiger Zustimmung und Beachtung aller Verfahrensvorschriften nicht in Geltung setzen könnte. Dieser Nichtigkeitstatbestand ist mit ande-
545 Vgl. bereits A. Hueck, Anfechtbarkeit und Nichtigkeit, 1924, S. 71, zum Anfechtungsrecht in
der Vorläufervorschrift in § 271 HGB 1897: „Ein Beschluß mit dem gleichen Inhalt hätte ja
gültig gefaßt werden können, wenn nur die für die Satzungsänderung notwendige Mehrheit
zugestimmt hätte, oder doch, wenn er einstimmig von sämtlichen Aktionären gefaßt worden
wäre. Er verstößt also nur deshalb gegen das Gesetz, weil eine größere oder geringere Zahl
von Aktionären gegen den Beschluß oder aber überhaupt nicht gestimmt hat. Die verletzte
Gesetzesvorschrift bezweckt mithin offenbar nur den Schutz der fraglichen Aktionäre, und
der gegen das Gesetz verstoßende Beschluß bedeutet lediglich eine Verletzung der Interessen
dieser Aktionäre. Dann aber ist es, wie aus § 271 HGB zu folgern ist, deren Sache, sich
dagegen zu wehren.“
546 Vgl. A. Hueck, Aktienrechtsreform, 1933, S. 34 ff., hier S. 37: „Die Tatsache, dass dem freien
Willen der Aktionäre in dieser Weise Schranken gezogen sind, zeigt, daß zwar unmittelbar
Interessen der einzelnen Aktionäre im Vordergrund stehen mögen, dass aber zugleich an
ihrem Schutz nach Ansicht des Gesetzgebers ein öffentliches Interesse besteht.“
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Im deutschen Aktienrecht führt nicht jeder Rechtsverstoß zur Nichtigkeit eines Hauptversammlungsbeschlusses. Regelmäßig soll bei der Verletzung eines Gesetzes oder der Satzung nur die bloße Anfechtbarkeit eintreten. In diesem Fall fehlen dem Beschluss nicht ipso iure die intendierten Rechtswirkungen, vielmehr bedarf es der Geltendmachung durch eine spezielle Klage, die personell und zeitlich eng begrenzt ist.
Trotz der zentralen Stellung dieser Unterscheidung ist die Abgrenzung von Nichtigkeitsmängeln und Anfechtungsmängeln bis heute nicht vollständig geklärt. Im Mittelpunkt des Interesses steht § 241 Nr. 3 AktG, der mit seinem weiten Wortlaut seit seinem Inkrafttreten im AktG 1937 für erhebliche Auslegungsschwierigkeiten sorgt. Ausgehend von der Entstehungsgeschichte und Systematik des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts entwickelt der Band ein besseres Verständnis dieser Vorschrift und ermöglicht dadurch eine klare Abgrenzung von Nichtigkeit und Anfechtbarkeit.
Die Arbeit wurde mit dem Harry Westermann-Preis 2008 ausgezeichnet.