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hätte.479 Deswegen überrascht es nicht, dass Zöllner betont, es komme auf die Erkennbarkeit oder Evidenz des Verstoßes nicht an.480
VI. Interessen nicht anfechtungsberechtigter Personen als öffentliche Interessen
Ausgehend vom zweiten Normteil differenzieren zahlreiche Literaturstimmen danach, welche Interessen die verletzte Vorschrift schützen soll.481
1. Begriff der öffentlichen Interessen
Im Anschluss an die Begründung zum AktG 1937 wird allgemein betont, der Begriff
der öffentlichen Interessen in § 241 Nr. 3 AktG sei weit auszulegen.482 Erfasst seien
nicht nur Vorschriften, die die öffentliche Ordnung gewährleisten sollen; die Vorschrift greife vielmehr über das öffentliche Recht hinaus.483 Ein zu weites Begriffsverständnis stößt indes ebenso auf Widerspruch: Denn ein gewisses öffentliches
Interesse liege jeder gesetzlichen Regelung zugrunde.484
Gelegentlich wird auch der Begriff des ordre public zur Konkretisierung der Vorschrift herangezogen.485 Der sog. ordre public international begrenzt die kollisionsrechtliche Anwendbarkeit ausländischen Rechts, wenn dessen Anwendung „mit
wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist.“486
Dieses Rechtsinstitut ist auf die Kollision zweier Rechtsordnungen zugeschnitten
und lässt sich nicht auf den Konflikt zwischen Beschluss und Gesetz übertragen.487
479 Vgl. die Begr. zum AktG 1937, abgedr. bei Klausing, Gesetz über Aktiengesellschaften und
Kommanditgesellschaften auf Aktien, 1937, S. 174.
480 Zöllner in Kölner Komm. AktG, § 241 Rn. 101.
481 Ähnlich noch vor der Kodifizierung der Nichtigkeit bereits die Denkschrift zum HGB 1897,
vgl. oben § 3 III 1 b, S. 65.
482 Siehe die Begr. zum AktG 1937, abgedr. bei Klausing, (Fn. 479), S. 174; Geßler, ZGR 1980,
427, 438; Baumbach/Hueck, 13. Aufl. 1968, § 241 Rn. 9; Hüffer, AktG, § 241 Rn. 18;
MünchKommAktG/Hüffer § 241 Rn. 58; Schilling in Großkomm. AktG, 3. Aufl. 1973, § 241
Anm. 21; K. Schmidt in Großkomm. AktG, § 241 Rn. 59; v. Godin/Wilhelmi, 4. Aufl. 1971,
§ 241 Anm. 10; Spindler/Stilz/Würthwein, AktG, 2007, § 241 Rn. 197; Zöllner, Schranken,
1963, S. 64, 377; ders. in Kölner Komm. AktG, § 241 Rn. 106.
483 MünchKommAktG/Hüffer § 241 Rn. 58; Schilling in Großkomm. AktG, 3. Aufl. 1973, § 241
Anm. 21; Spindler/Stilz/Würthwein, AktG, 2007, § 241 Rn. 197.
484 Zöllner, Schranken, 1963, S. 65.
485 Von einem „aktienrechtlichen ordre public“ bzw. einem „wirtschaftsrechtlichen ordre public“
spricht Hüffer, AktG, § 241 Rn. 16, 23; eingehend dazu auch Windbichler/Bachmann, FS
Bezzenberger, 2000, S. 797, 799 ff.
486 Art. 6 EGBGB, vgl. zur Auslegung MünchKommBGB/Sonnenberger Art. 6 EGBGB Rn. 49
ff.
487 Ebenso Windbichler/Bachmann, FS Bezzenberger, 2000, S. 797, 801; i.E. auch
Spindler/Stilz/Würthwein, AktG, 2007, § 241 Rn. 197.
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Dagegen betrifft der vor allem im französischen Recht gebräuchliche Begriff des
ordre public interne die Grenzen privatautonomer Gestaltungsmöglichkeiten.488 Die
notwendige aktienrechtsspezifische Ausfüllung dieses Begriffs begegnet jedoch den
gleichen Schwierigkeiten wie die unmittelbare Auslegung von § 241 Nr. 3 AktG.
Als Hauptfall des öffentlichen Interesses erscheint in der aktienrechtlichen Literatur der Schutz nicht anfechtungsbefugter Personen.489 Darauf soll im Folgenden
näher eingegangen werden.
2. Schutz der Gläubiger und Arbeitnehmer
Mit der These, im öffentlichen Interesse seien Vorschriften gegeben, die den Schutz
nicht anfechtungsbefugter Personen bezwecken, stimmt überein, dass § 241 Nr. 3
AktG als Beispiel den Gläubigerschutz herausstellt. Gläubiger haben gemäß der
fundamentalen Unterscheidung von verbandsinternen und verbandsexternen Personen, die der Begrenzung der Anfechtungsbefugnis in § 245 AktG zugrunde liegt,490
keine eigene Klagemöglichkeit gegen fehlerhafte Beschlüsse.
Kernfrage im Schrifttum ist deswegen, welche aktienrechtlichen Vorschriften in
diesem Sinne gläubigerschützend sind. Jenseits der eindeutigen Fälle der §§ 225,
233, 272, 303, 321 AktG und §§ 22, 133, 134, 204, 224, 249 UmwG stellt sich nämlich das Problem, dass sich letztlich jeder Norm, die das ordnungsgemäße Funktionieren der Aktiengesellschaft sicherstellt, eine positive Wirkung auch für die Gläubiger zuschreiben lässt.491 Hält man sich an die Formulierung des Gesetzes, die
verletzte Vorschrift müsse wenn nicht ausschließlich, so doch überwiegend zum
Schutz der Gläubiger gegeben sein, gerät man indes bei Normen in Auslegungszweifel, die gleichrangig auch verbandsinternen Interessen dienen. Die Bedeutung einer
Regelung für den Gläubigerschutz ist jedoch nicht geringer, wenn sie gleichermaßen
den Aktionären zugute kommt. Dagegen lässt ich auch nicht einwenden, die Durchsetzung einer aktionärsschützenden Vorschrift sei in jenen Fällen bereits über die
Anfechtungsbefugnis der Aktionäre gesichert.492 Diesen ist es ja gerade freigestellt,
ob sie von ihrem Klagerecht Gebrauch machen, oder es – aus welchen Gründen auch
immer – bei der Wirksamkeit des Beschlusses belassen.493 Deswegen haben sich
zahlreiche Autoren dem Auslegungsvorschlag Zöllners angeschlossen, der Gläubigerschutz müsse andere Zwecke der Norm nicht überwiegen, sondern wesentliche
488 Vgl. MünchKommBGB/Sonnenberger Art. 6 EGBGB Rn. 19.
489 Siehe MünchKommAktG/Hüffer § 241 Rn. 59: „ohne Eintritt der Nichtigkeit könnte die
Schutzfunktion der Norm jedenfalls nicht beschlußrechtlich verwirklicht werden“;
K. Schmidt/Lutter/M. Schwab, AktG, § 241 Rn. 20; Spindler/Stilz/Würthwein, AktG, 2007,
§ 241 Rn. 194, 204; Zöllner in Kölner Komm. AktG, § 241 Rn. 110.
490 Oben § 4 II 1, S. 85.
491 Vgl. MünchKommAktG/Hüffer § 241 Rn. 55; Spindler/Stilz/Würthwein, AktG, 2007, § 241
Rn. 195, zur Entscheidung des OLG Düsseldorf, AG 1976, 215 betreffend § 134 AktG.
492 Überzeugend Zöllner in Kölner Komm. AktG, § 241 Rn. 103.
493 § 4 III 2, S. 94.
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Bedeutung für die Vorschrift haben.494 Anders als es der Wortlaut nahe legt, sei also
kein relativer, sondern ein absoluter Maßstab anzuwenden.
Mit dem Schutz nicht anfechtungsbefugter Personen als Funktion von § 241 Nr. 3
AktG wird schließlich auch bei Vorschriften argumentiert, die Arbeitnehmerinteressen dienen.495 Hintergrund ist, dass eine Anfechtungsklage der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat in diesen Fällen regelmäßig an den qualifizierten Voraussetzungen des § 245 Nr. 5 AktG scheitern dürfte.496
3. Schutz künftiger Aktionäre
Während die Literatur mit der erläuterten Auslegung die Nichtigkeit bei einer Verletzung von Vorschriften zum Schutz der Gläubiger und Arbeitnehmer unschwer
begründen konnte, bleibt die Frage offen, inwieweit auch Regelungen unter § 241
Nr. 3 AktG fallen können, die auf eine rein verbandsinterne Zwecksetzung beschränkt sind. Zum Teil wird in Fortführung dieses Ansatzes argumentiert, erfasst
seien jedenfalls Vorschriften, die künftige Aktionäre schützen sollen,497 weil auch
sie keine Möglichkeit hätten, den Beschluss anzufechten. Hier sind zwei Aspekte zu
unterscheiden. Einerseits wird der Schutz künftiger Aktionäre abstrakt als Funktionsschutz des Kapitalmarkts verstanden; aufgrund der engen Verknüpfung von
Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht498 könnte man dieses überindividuelle Schutzgut als öffentliches Interesse im Sinne des § 241 Nr. 3 AktG einordnen.499 Soweit
jedoch der konkrete Schutz des künftigen Aktionärs angesprochen ist, hat Zöllner
argumentiert, in dem Aktienerwerb liege eine freiwillige Unterwerfung unter die
Satzung der AG und die Beschlüsse der Hauptversammlung, die ebenso wie die
494 So Zöllner, Schranken, 1963, S. 378; ders. in Kölner Komm. AktG, § 241 Rn. 103 f.; dem
folgend Hüffer, AktG, § 241 Rn. 17; MünchKommAktG/Hüffer § 241 Rn. 55; Schilling in
Großkomm. AktG, 3. Aufl. 1973, § 241 Anm. 20; Spindler/Stilz/Würthwein, AktG, 2007,
§ 241 Rn. 195. Geßler, ZGR 1980, 427, 436 will demgegenüber im Einzelfall prüfen, „ob die
Vorschrift auch nur wegen der durch sie geschützten Interessen der Gläubiger unabhängig
vom Schutz der Aktionäre erlassen worden wäre.“
495 Vgl. Martens, ZGR 1983, 237, 244 f.; T. Raiser, NJW 1981, 2166, 2167;
MünchKommAktG/Hüffer § 241 Rn. 63; Windbichler/Bachmann, FS Bezzenberger, 2000,
S. 797, 799.
496 Näher zu den Verstößen gegen das Mitbestimmungsgesetz unten § 9, S. 181 ff.
497 Vgl. im Anschluss an die Begr. zum AktG 1937, abgedr. bei Klausing, (Fn. 479), S. 174,
MünchKommAktG/Hüffer § 241 Rn. 59; Baumbach/Hueck, 13. Aufl. 1968, § 241 Rn. 9;
Schilling in Großkomm. AktG, 3. Aufl. 1973, § 241 Anm. 21; v. Godin/Wilhelmi, 4. Aufl.
1971, § 241 Anm. 10; grundlegend zuvor A. Hueck, Anfechtbarkeit und Nichtigkeit, 1924,
S. 77.
498 Vgl. K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 2002, § 1 II 3 a (S. 13 f.); Lutter, FS Zöllner, 1998,
S. 363 ff.; Seibt, VGR Bd. 3, 2001, S. 37 ff.; Mülbert, Aktiengesellschaft, 1995.
499 So Hüffer, AktG, § 12 Rn. 10 zur satzungsmäßigen Begründung von Mehrstimmrechten
entgegen § 12 Abs. 2 AktG: Der Beschluss sei wegen des „kapitalmarktpolitischen
Regelungszusammenhangs“ nichtig nach § 241 Nr. 3, 3. Fall AktG.
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Unterlassung der Anfechtungsmöglichkeit einer Billigung der vorgefundenen Beschlusslage entspreche.500
Seine Grenze hat das erläuterte Verständnis des öffentlichen Interesses jedenfalls
erreicht, soweit der Zweck der betroffenen Vorschrift auf den Schutz der gegenwärtigen Aktionäre beschränkt ist; diese Fälle wären aufgrund der Anfechtungsmöglichkeit der weitergehenden Nichtigkeitssanktion pauschal entzogen.501
VII. Eingriffe in die Mitgliedschaft
In Einzelfällen wird die Nichtigkeit nach § 241 Nr. 3 AktG explizit mit der Begründung gefordert, der Beschluss greife rechtswidrig in die Mitgliedschaft des Aktionärs ein.502 Diese Argumentation lässt sich jedoch kaum generalisieren. Denn aus
anderen, allgemeineren Ausführungen, etwa von Habersack, ergibt sich stattdessen,
dass im Aktienrecht die Anfechtbarkeit die zumindest regelmäßige Rechtsfolge
einer Verletzung des Mitgliedschaftsrechts durch einen Hauptversammlungsbeschluss ist.503 Auch wenn beispielsweise der unzulässige Ausschluss des Bezugsrechts einen schweren Eingriff in die Mitgliedschaft darstellen mag, dürfte die bloße
Anfechtbarkeit als Rechtsfolge in diesem Fall allgemein anerkannt sein.504
VIII. Unverzichtbarkeit der Rechtsposition
Zöllner hat vorgeschlagen, zur Nichtigkeit führe auch die Verletzung von Vorschriften, die nur den Schutz der gegenwärtigen Aktionäre bezwecken, soweit jene auf
den Schutz nach dem Willen des Gesetzgebers nicht verzichten dürften.505 Dies
500 Vgl. Zöllner in Kölner Komm. AktG, § 241 Rn. 115; dem folgend Spindler/Stilz/Würthwein,
AktG, 2007, § 241 Rn. 204; im Kern stellt sich die Frage, ob das abstrakte Vertrauen in die
Gesetzmäßigkeit der Satzung höher zu bewerten ist als das Vertrauen in die Wirksamkeit der
aus dem Handelsregister ersichtlichen Satzungsbestimmungen; vgl. dazu auch Casper,
Heilung, 1998, S. 73 f.
501 Kritisch deswegen Geßler, ZGR 1980, 427, 439.
502 MünchKommAktG/Altmeppen § 292 Rn. 77: Der Beschluss sei „nichtig (§ 241 Nr. 3), weil
der Kernbereich der Mitgliedschaft jedes Aktionärs verletzt wird.“ Vgl. auch Bayer, WuB II
A. § 241 AktG 1.92, Anm. zu LG Stuttgart, WM 1992, 58: „Als unvereinbar mit dem Wesen
einer Aktiengesellschaft sind alle Beschlüsse zu qualifizieren, die in gesetzwidriger Weise in
die Grundstruktur der Aktiengesellschaft eingreifen und zugleich die Mitgliedschaftsrechte
der Aktionäre gefährden oder gar verletzten.“
503 Siehe Habersack, Mitgliedschaft, 1996, S. 226 ff.
504 Vgl. nur Hüffer, AktG, § 186 Rn. 25, 42.
505 Zöllner in Kölner Komm. AktG, § 241 Rn. 111, 116; ders., Schranken, 1963, S. 377; im
Grundsatz zustimmend MünchKommAktG/Hüffer § 241 Rn. 61; ähnlich bereits
Baumbach/Hueck, 13. Aufl. 1968, § 241 Anm. 9; Schilling in Großkomm. AktG, 3. Aufl.
1973, § 241 Anm. 21; vgl. jetzt auch K. Schmidt/Lutter/M. Schwab, AktG, § 241 Rn. 20.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Im deutschen Aktienrecht führt nicht jeder Rechtsverstoß zur Nichtigkeit eines Hauptversammlungsbeschlusses. Regelmäßig soll bei der Verletzung eines Gesetzes oder der Satzung nur die bloße Anfechtbarkeit eintreten. In diesem Fall fehlen dem Beschluss nicht ipso iure die intendierten Rechtswirkungen, vielmehr bedarf es der Geltendmachung durch eine spezielle Klage, die personell und zeitlich eng begrenzt ist.
Trotz der zentralen Stellung dieser Unterscheidung ist die Abgrenzung von Nichtigkeitsmängeln und Anfechtungsmängeln bis heute nicht vollständig geklärt. Im Mittelpunkt des Interesses steht § 241 Nr. 3 AktG, der mit seinem weiten Wortlaut seit seinem Inkrafttreten im AktG 1937 für erhebliche Auslegungsschwierigkeiten sorgt. Ausgehend von der Entstehungsgeschichte und Systematik des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts entwickelt der Band ein besseres Verständnis dieser Vorschrift und ermöglicht dadurch eine klare Abgrenzung von Nichtigkeit und Anfechtbarkeit.
Die Arbeit wurde mit dem Harry Westermann-Preis 2008 ausgezeichnet.