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Generell bestehen für die Rechtmäßigkeit des Beschlusses schließlich besondere
Verfahrensvorschriften. Sie sichern das verbandsinterne Teilhaberecht der Mitglieder ab und dienen vorrangig dem Minderheitenschutz und der Verbesserung der
Entscheidungsqualität;152 dagegen sollen sie nicht einen bestimmten Beschlussinhalt
verhindern.
All diesen Normen ist gemeinsam, dass das Gesellschaftsrecht einen zulässigen
Weg vorsieht, auf dem die Mitglieder das jeweilige Gestaltungsziel – jedenfalls bei
allseitiger Zustimmung und ordnungsgemäßem Beschlussverfahren – erreichen
können. Wird gegen eine dieser Vorschriften verstoßen, ist der Beschluss zwar fraglos rechtswidrig, denn sie lassen nicht jede entgegenstehende privatrechtliche Regelung zu. Es liegt aber in der Hand der Beteiligten, den Beschlussinhalt in Geltung zu
setzen. Dies unterscheidet die genannten Konstellationen vom völligen Fehlen der
rechtsgeschäftlichen Gestaltungsmacht und einem gemäß § 134 BGB verbotswidrigen Geschäft. Dort schließt das Gesetz die angestrebte rechtsgeschäftliche Regelung
schlechthin aus. Zur Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts kommt es mit anderen Worten
nur dann, wenn gegen eine stets zwingende Vorschrift verstoßen wird, von der keinerlei Abweichung möglich ist.153
IV. § 138 Abs. 1 BGB
Im bürgerlichen Recht ist schließlich ein Rechtsgeschäft nichtig, das gegen die guten
Sitten verstößt. Die Sittenwidrigkeit nach § 138 BGB ergibt sich aus einer Gesamtwürdigung, die den Inhalt, aber auch Motiv und Zweck des Rechtsgeschäfts zu berücksichtigen hat.154 Deswegen soll auch das Zustandekommen eines Beschlusses
das Sittenwidrigkeitsurteil begründen können.155 Allerdings ist die Funktion dieser
152 Vgl. § 1 IV 2, S. 30 ff.
153 Im Ergebnis ähnlich Casper, ZHR 163 (1999) 54, 67; Koch, Anfechtungsklageerfordernis,
1997, S. 45 f.; Noack, Fehlerhafte Beschlüsse, 1989, S. 22, 25; Schröder, GmbHR 1994, 532,
536; M. Schwab, Das Prozeßrecht gesellschaftsinterner Streitigkeiten, 2005, S. 425 f.; Lemke,
Aufsichtsratsbeschluß, 1994, S. 64 ff.; Prior, Vereinsbeschlüsse, 1972, S. 56; im Grundsatz
auch Baumbach/Hueck/Zöllner, GmbHG, Anh § 47 Rn. 2; gegen die Anwendung von § 134
BGB auf Vorschriften über das Zustandekommen von Beschlüssen bereits Raspe,
Anfechtbarkeit und Nichtigkeit von Gesellschafterbeschlüssen, 1932, S. 14 f.; a.A.
Wiedemann, Gesellschaftsrecht II, 2004, S. 323, der Gleichbehandlungs- und Treupflicht
sowie die Verfahrensregeln unter § 134 BGB subsumiert.
154 MünchKommBGB/Armbrüster § 138 Rn. 30; Jauernig, BGB, § 138 Rn. 8.
155 So Noack, Fehlerhafte Beschlüsse, 1989, S. 26; zu Recht einschränkend aber Lorenz, Der
Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, 1997, S. 245, demzufolge § 138 Abs. 1 BGB stets
auch gegen den Inhalt eines Rechtsgeschäfts gerichtet sei; allein die Art und Weise seines
Zustandekommens genüge für die Vorschrift deswegen nicht. In diesem Sinne bereits Flume,
Rechtsgeschäft, 1979, § 18, 2 a mit Bezug auf die Protokolle; überzeugend auch
Staudinger/Sack, Bearbeitung 2003, § 138 Rn. 3, mit der Kompromissformel, „dass sich die
Sittenwidrigkeit des Inhalts eines Rechtsgeschäfts nicht nur aus dem objektiven Inhalt als
solchem, sondern auch aus den Begleitumständen, insbesondere dem Zweck und den
Beweggründen, ergeben kann.“
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Vorschrift auf die Elimination solcher Rechtsgeschäfte beschränkt, die mit einem
sozialethischen Minimum unvereinbar sind.156 Mit Blick auf das Beschlussmängelrecht sind bei der Prüfung zwei Fallgruppen zu unterscheiden.
Erfasst sind zum einen Rechtsgeschäfte, die zu einer Schädigung Dritter führen;
besondere Bedeutung hat hierbei die Beeinträchtigung von Gläubigerinteressen.157
Indes findet § 138 Abs. 1 BGB nur Anwendung, soweit der Gesetzgeber das missbilligte Verhalten nicht durch ein Verbotsgesetz konkretisiert hat. Andernfalls ist
§ 138 Abs. 1 BGB durch § 134 BGB verdrängt mit der wichtigen Folge, dass allein
die Auslegung des Verbotstatbestandes über die Reichweite der Nichtigkeit entscheidet.158
Zum anderen schützt § 138 Abs. 1 BGB die am Rechtsgeschäft Beteiligten.159
Der auf das Vertragsrecht zugeschnittene Tatbestand dient als ultima ratio für Fälle,
in denen die Rechtsordnung eine Vereinbarung trotz der formal erfolgten Zustimmung des Betroffenen nicht akzeptieren kann. Auf die im Verbandsrecht bedeutsamen innergesellschaftlichen Konflikte passt diese Regelung allerdings nicht. Kennzeichnend für die hier relevanten Konstellationen ist nämlich, dass die Beschlüsse
nur korrekturbedürftig erscheinen, soweit Minderheitsgesellschafter dem Beschlussantrag die Zustimmung versagt haben.160 Es geht mit anderen Worten um die Formulierung von Grenzen der Mehrheitsmacht. Für diese Aufgabe erscheint § 138
Abs. 1 BGB auf Tatbestandsseite zu wenig ausdifferenziert,161 vor allem aber auf
Rechtsfolgenseite zu unflexibel. Denn die starre Nichtigkeitsfolge berücksichtigt
nicht die Möglichkeit der Betroffenen, der jeweiligen Regelung zuzustimmen. Deswegen hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass sich aus § 138 Abs. 1 BGB kein geeigneter Maßstab zur Lösung innergesellschaftlicher Konflikte gewinnen lässt.162
Stattdessen haben Rechtsprechung und Schrifttum aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz und der Treupflicht ein System der materiellen Beschlusskontrolle entwickelt.
156 So Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, 1980, S. 426; ähnlich MünchKommBGB/Armbrüster
§ 138 Rn. 1; Canaris, AcP 184 (1984), 201, 241, 244; Dauner-Lieb, AcP 201 (2001), 295,
325; Fastrich, Inhaltskontrolle, 1992, S. 20; andere Konzeption dagegen bei Staudinger/Sack,
Bearbeitung 2003, § 138 Rn. 26: Die Vorschrift greife nicht erst bei „Unerträglichkeit“,
sondern bereits bei „Ungerechtigkeit“.
157 MünchKommBGB/Armbrüster § 138 Rn. 96 ff.; Staudinger/Sack, Bearbeitung 2003, § 138
Rn. 348 ff.
158 Vgl. MünchKommBGB/Armbrüster § 138 Rn. 4, Staudinger/Sack, Bearbeitung 2003, § 138
Rn. 146.
159 Zur Ausnutzung von Übermacht MünchKommBGB/Armbrüster § 138 Rn. 86, zur Abwehr
von Freiheitsbeschränkungen ebenda Rn. 68; eingehend zur Sittenwidrigkeit gegenüber
Geschäftspartnern Staudinger/Sack, Bearbeitung 2003, § 138 Rn. 227 ff.
160 Siehe oben § 1 IV 2, S. 30 ff.
161 Zu zwischenzeitlichen Versuchen des Reichsgerichts, das Sittengebot für den
Minderheitenschutz zu präzisieren, siehe Kreß, Beschlußkontrolle, 1996, S. 7 f.; Noack,
Fehlerhafte Beschlüsse, 1989, S. 27 f.; Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, 1980, S. 426;
M. Winter, Treuebindungen, 1988, S. 38 ff.; Zöllner, Schranken, 1963, S. 288 ff.
162 Näher Kreß, Beschlußkontrolle, 1996, S. 7 ff.; M. Schwab, Das Prozeßrecht gesellschaftsinterner Streitigkeiten, 2005, S. 426; M. Winter, Treuebindungen, 1988, S. 40 f.
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V. Befund
Das Gesellschaftsrecht stellt zahlreiche formelle und materielle Rechtmäßigkeitsanforderungen für die Beschlüsse des Mitgliederorgans auf. Nach bürgerlichem Recht
würde eine Verletzung dieser Vorschriften nur in bestimmten Fällen zur Nichtigkeit
des Beschlusses führen: § 134 BGB und die Grenzen der Gestaltungsmacht greifen
lediglich ein, wenn die betreffende Norm die beabsichtigte rechtsgeschäftliche Regelung schlechthin ausschließt. Offen bleibt damit die Frage, welche Rechtsfolgen
sich nach Bürgerlichem Recht ergeben, wenn ein Beschluss gegen Verfahrensvorschriften verstößt. Besteht für die Abweichung von einer inhaltlichen Vorgabe ein
Zustimmungsvorbehalt, ist der Beschluss nach der allgemeinen Rechtsgeschäftslehre
nicht nichtig, sondern allenfalls schwebend unwirksam, solange die Zustimmung
nicht erteilt ist. Im Folgen ist zu klären, inwieweit das spezielle Rechtsfolgensystem
der §§ 241 ff. AktG, das der Gesetzgeber für Hauptversammlungsbeschlüsse geschaffen hat, von den skizzierten allgemeinen Regeln abweicht und diese ergänzt.
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References
Zusammenfassung
Im deutschen Aktienrecht führt nicht jeder Rechtsverstoß zur Nichtigkeit eines Hauptversammlungsbeschlusses. Regelmäßig soll bei der Verletzung eines Gesetzes oder der Satzung nur die bloße Anfechtbarkeit eintreten. In diesem Fall fehlen dem Beschluss nicht ipso iure die intendierten Rechtswirkungen, vielmehr bedarf es der Geltendmachung durch eine spezielle Klage, die personell und zeitlich eng begrenzt ist.
Trotz der zentralen Stellung dieser Unterscheidung ist die Abgrenzung von Nichtigkeitsmängeln und Anfechtungsmängeln bis heute nicht vollständig geklärt. Im Mittelpunkt des Interesses steht § 241 Nr. 3 AktG, der mit seinem weiten Wortlaut seit seinem Inkrafttreten im AktG 1937 für erhebliche Auslegungsschwierigkeiten sorgt. Ausgehend von der Entstehungsgeschichte und Systematik des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts entwickelt der Band ein besseres Verständnis dieser Vorschrift und ermöglicht dadurch eine klare Abgrenzung von Nichtigkeit und Anfechtbarkeit.
Die Arbeit wurde mit dem Harry Westermann-Preis 2008 ausgezeichnet.