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Für den Sonderbeschluss ordnet § 138 Satz 2 AktG die Anwendbarkeit der Hauptversammlungsvorschriften und damit auch der §§ 241 ff. AktG ausdrücklich an.62
Der Antrag, über den abgestimmt wird, muss bestimmt sein; nur dann führt die
Abstimmung zu einem rechtlich relevanten Willen.63 Um den Vorgang unter den
Begriff des Rechtsgeschäfts subsumieren zu können, bedarf der Beschluss zudem
zumindest einer auf den Antrag bezogenen Stimme.64 Dagegen gehört die Feststellung des Beschlussergebnisses, die § 130 Abs. 2 AktG für den Hauptversammlungsbeschluss vorschreibt, nicht zum Tatbestand.65 Sie ist, wie die Beschlussfassung in
anderen Organen zeigt, nicht funktionsnotwendig für die Bildung eines einheitlichen
Kollektivwillens.
Fehlt ein Element dieses Tatbestandes, liegt überhaupt kein Beschluss vor. Es
wurde kein bindender Kollektivwille gebildet, der der Gesellschaft zugerechnet
werden könnte. Ob ein derartiger Vorgang zum Gegenstand der aktienrechtlichen
Beschlussmängelklage gemacht werden kann, ist eine Frage der analogen Anwendung von § 249 AktG.66
III. Wirkung des Hauptversammlungsbeschlusses
1. Zurechnung zur Gesellschaft
Während Rechtsgeschäfte regelmäßig die Rechtsbeziehungen der beteiligten Personen untereinander regeln, trifft die Rechtswirkung von Beschlüssen nicht die Abstimmenden persönlich, sondern die handelnde Personenmehrheit.67 Die Abstimmung der Aktionäre gilt als Entscheidung des Kollektivorgans Hauptversammlung
und wird sodann der Gesellschaft als eigener Wille zugerechnet.68 Diese Zurechnung
als verbindlicher Wille der Gesellschaft unterscheidet den Hauptversammlungsbeschluss von einer bloßen unverbindlichen Meinungsäußerung der Aktionäre.69
62 Hüffer, AktG, § 138 Rn. 4; MünchKommAktG/Stein § 179 Rn. 210 f.
63 C. Schäfer, Die Lehre vom fehlerhaften Verband, 2002, S. 371; vgl. zum Antrag auf
Vertragsschluss MünchKommBGB/Kramer § 145 Rn. 4.
64 Ein Rechtsgeschäft muss mindestens eine Willenserklärung enthalten, vgl. Larenz/Wolf,
Allgemeiner Teil, 2004, § 22 Rn. 3. Auf die Wirksamkeit der Stimme kommt es indes nicht
an, siehe C. Schäfer, Die Lehre vom fehlerhaften Verband, 2002, S. 368 f.; Casper, Heilung,
1998, S. 47, 88; a.A. Semler/Asmus, NZG 2004, 881, 889 f.; vgl. zum sogenannten
stimmlosen Beschluss noch unten § 7 II bei Fn. 615.
65 Zöllner in Kölner Komm. AktG, § 133 Rn. 95; C. Schäfer, Die Lehre vom fehlerhaften
Verband, 2002, S. 369; Casper, Heilung, 1998, S. 31.
66 Dazu unten § 7 I, S. 133 ff.
67 Baltzer, Beschluß, 1965, S. 21 ff., 91; ähnlich Bednarz, NZG 2005, 418, 421; Larenz/Wolf,
Allgemeiner Teil, 2004, § 23 Rn. 21; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 2002, § 15 I 1 b
(S. 435); Schnorr, Teilfehlerhafte Gesellschaftsbeschlüsse, 1997, S. 101.
68 Hüffer, AktG, § 133 Rn. 2; Mülbert in Großkomm. AktG, Vor §§ 118-147 Rn. 19;
K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 2002, § 15 I 1 b (S. 435).
69 Vgl. Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, 1980, S. 176.
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Voraussetzung ist die Anerkennung dieser Abstimmung durch die Rechtsordnung. Eine Zurechnung der Beschlussfassung als verbindliche Entscheidung der
Gesellschaft kann mit anderen Worten nur stattfinden, soweit das Recht die Befugnis der Mitglieder zur Handlung für den Verband begründet.70 Erst eine Wertung des
Gesetzgebers knüpft an die Abstimmung der Aktionäre Rechtsfolgen für den Verband. Deswegen setzt die Willensbildung durch Beschluss die Existenz spezieller
Regelungen voraus, die die Abstimmung der Aktionäre dem Verband zurechnen.
Diese Zurechnungsvoraussetzungen legen fest, in welchem Rahmen eine Abstimmung der Mitglieder zu einer verbindlichen Willensbildung des Verbandes werden
kann.71
2. Verbandsinterne Bindungswirkung
Die Zurechnung des Beschlusses zur Gesellschaft führt zur Bindung des gesamten
Verbands an die getroffene Entscheidung.72 Diese Bindungswirkung trifft zum einen
alle Aktionäre, und zwar unabhängig von ihrer Teilnahme an der Abstimmung.73
Zum anderen bindet ein umsetzungsbedürftiger Beschluss das Verwaltungsorgan,
das für die Ausführung der Maßnahme zuständig ist. Eine derartige Folgepflicht von
Vorstand und Aufsichtsrat entfalten Beschlüsse indes nur, soweit das Aktiengesetz
der Hauptversammlung eine entsprechende Rechtsmacht eingeräumt hat.74 Anders
als in der Frühphase des Aktienrechts steht ihr seit dem AktG 1937 kein umfassendes Weisungsrecht gegenüber dem Vorstand mehr zu.75 § 83 Abs. 2 AktG stellt dies
klar, indem er die Ausführungspflicht des Vorstands ausdrücklich auf „von der
Hauptversammlung im Rahmen ihrer Zuständigkeit beschlossene Maßnahmen“
beschränkt.76
70 Baltzer, Beschluß, 1965, S. 12, 50; Schnorr, Teilfehlerhafte Gesellschaftsbeschlüsse, 1997,
S. 105.
71 Schnorr, Teilfehlerhafte Gesellschaftsbeschlüsse, 1997, S. 106, spricht plastisch vom „Nadel-
öhr der Zurechnungsvoraussetzungen“.
72 Eingehend Baltzer, Beschluß, 1965, S. 24, 91 ff.; Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil, 2004, § 23
Rn. 21 f.
73 Zum Mehrheitsprinzip unten IV, S. 29 ff.
74 Beispiele sind etwa die Anmeldung eines Beschlusses zur Eintragung in das Handelsregister
in den Fällen der §§ 181, 184, 294 AktG, die Abgabe von Willenserklärungen für die Gesellschaft und Fälle des § 119 Abs. 2 AktG, vgl. Spindler/Stilz/Fleischer, AktG, 2007, § 83
Rn. 7; Habersack in Großkomm. AktG, § 83 Rn. 11; MünchKommAktG/Hefermehl/Spindler
§ 83 Rn. 9 ff.
75 Vgl. MünchKommAktG/Hefermehl/Spindler § 76 Rn. 21; Kort in Großkomm. AktG, Vor
§ 76 Rn. 5 f.; Mertens in Kölner Komm. AktG, § 83 Rn. 1; Fleischer, FS Heldrich, 2005,
S. 597, 605.
76 Spindler/Stilz/Fleischer, AktG, 2007, § 83 Rn. 2.
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3. Außenwirkung des Hauptversammlungsbeschlusses
Auch wenn der Hauptversammlungsbeschluss zunächst nur die geschilderte verbandsinterne Wirkung hat, kann er doch vielfach die Interessen von Personen berühren, die außerhalb des Verbandes stehen.77 Eine unmittelbare Außenwirkung kommt
den Beschlüssen zwar grundsätzlich nicht zu; ein unmittelbarer Eingriff der Hauptversammlung in Rechtspositionen Dritter ist ebenso ausgeschlossen, wie ein Vertrag
zu Lasten Dritter keine Wirkung entfalten kann.78 Die Rechtsposition Außenstehender richtet sich vielmehr nach den zugrunde liegenden schuldrechtlichen Beziehungen zur Gesellschaft, deren Gestaltung dem Vorstand als Vertretungsorgan der Aktiengesellschaft zukommt. Nur ausnahmsweise ist die Vertretungsmacht des Vorstands an einen Zustimmungsbeschluss der Hauptversammlung gebunden. Der
Verzicht auf oder Vergleich über Ersatzansprüche,79 organisationsrechtliche Verträge mit anderen Unternehmen80 und die Gesamtvermögensübertragung81 erfordern
ebenso wie die Nachgründung82 auch im Außenverhältnis als Wirksamkeitsvoraussetzung einen Hauptversammlungsbeschluss. Eine unmittelbare Vertretungszuständigkeit hat die Hauptversammlung bei der Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern sowie
der Bestellung von Sonderprüfern und den besonderen Vertretern zur Verfolgung
von Ersatzansprüchen.83 Dagegen verbleibt es bei den übrigen Beschlüssen bei der
regelmäßigen lediglich verbandsinternen Wirkung; dies gilt insbesondere für die
Zuständigkeit nach § 119 Abs. 2 AktG84 und der Holzmüller-/Gelatine-
Rechtsprechung.85
Auch ohne eine unmittelbare Außenwirkung zu entfalten, können die Beschlüsse
der Hauptversammlung jedoch die Interessen Dritter berühren. Die Rechtsposition
der Gläubiger bestimmt sich zwar zunächst nur nach deren schuldrechtlicher Sonderverbindung mit der Aktiengesellschaft. Über ihre Zuständigkeiten im Bereich der
77 Vgl. allgemein den Vorschlag von Bachmann (Private Ordnung, 2006, S. 206), im Zivilrecht
zwei Kreise von Regelbetroffenen zu unterscheiden: Einerseits die unmittelbaren
Regeladressaten (d.h. hier: die Verbandsbeteiligten), andererseits die durch den Vollzug der
regelgeleiteten Ordnung betroffene Allgemeinheit.
78 M. Schwab, Das Prozeßrecht gesellschaftsinterner Streitigkeiten, 2005, S. 431 f.; Slabschi,
Anfechtungsklage, 1997, S. 55; vgl. auch MünchKommAktG/Fuchs § 192 Rn. 158; zur
Subsumtion dieser Fälle unter § 241 Nr. 3 AktG näher unten § 10 II 2, S. 199; allgemein zum
Vertrag zu Lasten Dritter Habersack, Vertragsfreiheit und Drittinteressen, 1992, S. 26;
Staudinger/Jagmann, Bearbeitung 2004, Vorbem. zu §§ 328 ff. Rn. 42; Martens, AcP 177
(1977), 113, 139, jeweils m. weit. Nachweisen.
79 §§ 50, 53, 93, 116, 117 AktG, vgl. Hüffer, AktG, § 78 Rn. 8; M. Schwab, Das Prozeßrecht
gesellschaftsinterner Streitigkeiten, 2005, S. 431.
80 Siehe § 293 AktG, § 13 UmwG; vgl. Noack, Fehlerhafte Beschlüsse, 1989, S. 52; M. Schwab,
Das Prozeßrecht gesellschaftsinterner Streitigkeiten, 2005, S. 432.
81 § 179a AktG, vgl. Hüffer, AktG, § 179a Rn. 1.
82 § 52 AktG, vgl. Hüffer, AktG, § 78 Rn. 8.
83 Hüffer, AktG, § 119 Rn. 12.
84 Hüffer, AktG, § 119 Rn. 15; MünchKommAktG/Kubis § 119 Rn. 27; Mülbert in Großkomm.
AktG, § 119 Rn. 58.
85 So BGHZ 83, 122, 132 – Holzmüller; BGHZ 159, 30, 38 – Gelatine.
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Finanzverfassung beeinflusst die Hauptversammlung jedoch die Fähigkeit der Aktiengesellschaft, ihre Verbindlichkeiten zu erfüllen. Deswegen können die Entscheidungen der Hauptversammlung spezifische Gläubigerinteressen beeinträchtigen; zu
denken ist etwa an Verstöße gegen die Kapitalerhaltungsvorschriften, aber auch die
Rechnungslegungsvorschriften.86 Ähnliches gilt für die Arbeitnehmerinteressen. Das
Vertragsverhältnis des einzelnen Arbeitnehmers ist dem Zugriff der Hauptversammlung zwar entzogen. Aufgrund ihrer Zuständigkeit für die Organisationsverfassung
der AG beeinflusst sie aber die mitbestimmungsrechtlichen Einflussmöglichkeiten
der Arbeitnehmer.87 Für die Teilnehmer am Kapitalmarkt haben vor allem Beschlüsse der Hauptversammlung besondere Bedeutung, die die Mitgliedschaft an der Gesellschaft ausgestalten.88 Zu denken ist etwa an die Übertragbarkeit der Aktie und
damit die Verkehrsfähigkeit des am Kapitalmarkt gehandelten Produkts.89
In all diesen Fällen lässt sich jedoch nicht von einem Recht der betroffenen Au-
ßenstehenden auf eine bestimmte Beschlussfassung der Hauptversammlung sprechen. Vielmehr liegt es allein in der Hand der Aktionäre, im Rahmen des rechtlich
Zulässigen über das Ob und den Inhalt des Beschlusses zu entscheiden. Mit anderen
Worten sind die berührten Drittinteressen für die Hauptversammlung nur relevant,
soweit der Gesetzgeber zwingende Vorschriften erlassen hat, die die inhaltliche
Gestaltungsfreiheit bei der Beschlussfassung begrenzen.90
IV. Mehrheitsprinzip
1. Begründung
Die Hauptversammlung fällt ihre Entscheidungen nach § 133 Abs. 1 AktG grundsätzlich durch Mehrheitsbeschluss.91 Angesprochen ist damit die Entscheidungsre-
86 Vgl. Kübler, Verrechtlichung, 1985, S. 167, 177, 183, 218; Wiedemann, Gesellschaftsrecht I,
1980, S. 554 ff., 574 ff.
87 Siehe beispielsweise die Satzungsbestimmungen in BGHZ 83, 106, 108; BGHZ 83, 151, 152;
BGHZ 89, 48, 49; eingehend noch unten in § 9, S. 181 ff.
88 Zum Zusammenspiel von Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht allgemein K. Schmidt,
Gesellschaftsrecht, 2002, § 1 II 3 a (S. 13 f.); Lutter, FS Zöllner, 1998, S. 363 ff.; Seibt, VGR
Bd. 3, 2001, S. 37 ff.; Mülbert, Aktiengesellschaft, 1995.
89 Vgl. zu einer Satzungsklausel, die zur Einschränkung der Übertragbarkeit der Aktien führt,
BGHZ 160, 253, 256 ff., dazu Bayer/Lieder, LMK 2004, 224; Kammel, WuB II A § 67 AktG
1.05; Noack, EWiR 2005, 49; Stupp, NZG 2005, 205. Zur satzungsmäßige Begründung von
Mehrstimmrechten entgegen § 12 Abs. 2 AktG Hüffer, AktG, § 12 Rn. 10.
90 Vgl. M. Schwab, Das Prozeßrecht gesellschaftsinterner Streitigkeiten, 2005, S. 291, 433 f.
91 Zwar erlauben die §§ 133 Abs. 1, 2. HS, 179 Abs. 2, Satz 2 und 3 AktG dem Satzungsgeber
eine Erhöhung des Mehrheitserfordernisses; die satzungsmäßige Festschreibung des
Einstimmigkeitsprinzips, das von der Regelungsermächtigung grundsätzlich gedeckt wäre,
dürfte in der typischen Publikumsaktiengesellschaft jedoch unzulässig sein, sofern sie eine
Beschlussfassung faktisch unmöglich macht, vgl. Hüffer, AktG, § 179 Rn. 20.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Im deutschen Aktienrecht führt nicht jeder Rechtsverstoß zur Nichtigkeit eines Hauptversammlungsbeschlusses. Regelmäßig soll bei der Verletzung eines Gesetzes oder der Satzung nur die bloße Anfechtbarkeit eintreten. In diesem Fall fehlen dem Beschluss nicht ipso iure die intendierten Rechtswirkungen, vielmehr bedarf es der Geltendmachung durch eine spezielle Klage, die personell und zeitlich eng begrenzt ist.
Trotz der zentralen Stellung dieser Unterscheidung ist die Abgrenzung von Nichtigkeitsmängeln und Anfechtungsmängeln bis heute nicht vollständig geklärt. Im Mittelpunkt des Interesses steht § 241 Nr. 3 AktG, der mit seinem weiten Wortlaut seit seinem Inkrafttreten im AktG 1937 für erhebliche Auslegungsschwierigkeiten sorgt. Ausgehend von der Entstehungsgeschichte und Systematik des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts entwickelt der Band ein besseres Verständnis dieser Vorschrift und ermöglicht dadurch eine klare Abgrenzung von Nichtigkeit und Anfechtbarkeit.
Die Arbeit wurde mit dem Harry Westermann-Preis 2008 ausgezeichnet.