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scheinen zu lassen. Die »additive Mittäterschaft« hat dagegen tatsächlich eine
grundsätzlich andere Struktur. Die Tatbeiträge ergänzen sich hier gerade nicht zu
einer gemeinschaftlichen Deliktsverwirklichung im engeren Sinne. Soweit tatsächlich ein additives Zusammenwirken der Tatbeiträge erfolgt, findet dies vielmehr losgelöst von der konkreten Erfolgsherbeiführung im Hinblick auf die statistische Erhöhung der Erfolgswahrscheinlichkeit statt. Dieses additive Zusammenwirken hat daher auch – anders als das Zusammenwirken bei der korrelativen
Mittäterschaft – keinen faktischen, sich im äußeren Geschehen manifestierenden
Charakter. Es bleibt vielmehr ein rein mathematisch-statistisches Element. Wie
bereits dargelegt wurde, erhöht die Tatsache, dass neben dem Schützen A noch
weitere 19 Schützen auf das Opfer schießen, tatsächlich nicht die Wahrscheinlichkeit, dass A das Opfer trifft.319 Die dargestellte Struktur der hier untersuchten
Fallgruppe schließt nicht per se aus, diese als gemeinschaftliches Begehen aufzufassen. Auf ein solches kann aber keinesfalls alleine daraus geschlossen werden, dass seitens des Attentäter-Kollektivs sicher ohne weiteres von einem »gemeinschaftlichen Handeln« oder einer »gemeinschaftlichen Vorgehensweise« gesprochen werden könnte. Die in den vorstehenden Zitaten implizierte Evidenz des
Vorliegens einer gemeinschaftlichen Tatbegehung kann somit nicht in der Struktur der »additiven Mittäterschaft« begründet sein, deren grundsätzliche Andersartigkeit gegenüber dem Regelfall der Mittäterschaft von der herrschenden Lehre
ja auch anerkannt wird. Vielmehr verstärkt sich der Eindruck, dass die nahezu
selbstverständliche Einordnung dieser Fallgruppe als Mittäterschaft einem zunächst eher dogmatisch undefinierten Bedürfnis nach der Vollendungsstrafbarkeit aller Beteiligten entstammt.
III. Strafbarkeitslücken bei fehlender Vollendungsstrafbarkeit aller
Beteiligten?
An dieser Stelle soll für einen Moment, weitgehend losgelöst von dogmatischen
Erwägungen, auf die Frage eingegangen werden, inwieweit die Erfassung der
»additiven Mittäterschaft« durch § 25 Abs. 2 tatsächlich mit Blick auf die Vermeidung inakzeptabler Strafbarkeitslücken notwendig erscheint. Ist die mittäterschaftliche Bestrafung aller Attentäter tatsächlich kriminalpolitisch so wünschenswert bzw. sogar zwingend erforderlich? Welche Funktion des § 25 Abs. 2
ist von Herzberg in dem bereits angeführten Zitat angesprochen? Sicherlich ist es
nicht die Funktion des § 25 Abs. 2, dem Richter über etwaige Beweisprobleme
hinsichtlich der Kausalität hinwegzuhelfen.320 Auch kann die Rechtsfigur der
Mittäterschaft nicht dazu dienen, im Einzelfall unerwünschte Ergebnisse unter
Ausschaltung des Zweifelsgrundsatzes zu vermeiden. Gleichwohl ist nicht von
der Hand zu weisen, dass derartige Aspekte in der Diskussion um die vorliegende
319 A. II. 2. b).
320 Vgl. auch Puppe FS – Spinellis S. 925.
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Fallgruppe eine nicht unbeträchtliche Rolle spielen. Zum Teil könnte sogar der
Eindruck entstehen, dass ein aus vorwiegend kriminalpolitischen Aspekten für
erforderlich gehaltenes Ergebnis quasi im Nachhinein begründet wird, wobei
gleichzeitig versucht wird, die jeweilige Begründung als im Einklang mit den allgemeinen, im Zusammenhang mit anderen Fallkonstellationen entwickelten
Grundsätzen darzustellen.321 So fällt auf, dass die Vertreter der herrschenden Tatherrschaftslehre in der vorliegenden Fallgruppe die Mittäterschaft mit einem Argument begründen (ex-ante-Risikoerhöhung), das in den herkömmlichen Fallgruppen allenfalls eine untergeordnete Rolle spielt.322 Bleiben wir aber noch einen Moment bei der Frage des kriminalpolitischen Bedürfnisses nach einer Vollendungsstrafbarkeit aller Beteiligten im Attentats-Fall. Bereits hingewiesen
wurde darauf, dass es weder Aufgabe noch Ziel eines rechtsstaatlich geordneten
Strafrechts sein kann, den Zufall als Faktor bei der Begründung von Strafbarkeit
vollständig zu eliminieren.323 Einem solchen Bedürfnis, das ebenso wie das Bedürfnis nach der Vollendungsstrafbarkeit aller Attentäter im ersten Moment
durchaus nachvollziehbar sein mag, kann und darf, auch mit einem Hinweis auf
kriminalpolitische Aspekte, nicht nachgegeben werden. Aber gibt es überhaupt
die von den Vertretern der »additiven Mittäterschaft« oft behaupteten oder zumindest implizierten Strafbarkeitslücken, sofern man nicht per se von einer Strafbarkeit aller Attentäter auch ohne Kausalitätsnachweis ausginge? Ein Aspekt, der
in diesem Zusammenhang kaum Erwähnung findet, ist derjenige, dass § 23 Abs.
2 ausdrücklich eine fakultative Strafmilderung vorsieht. Vereinzelte Ansichten,
nach denen für bestimmte Fallkonstellationen eine obligatorlische Strafmilderung vorzusehen wäre324, finden weder im Gesetzeswortlaut eine tragfähige
Grundlage noch besteht ein sachliches Bedürfnis, die Milderung für bestimmte
Versuchstypen als zwingend zu betrachten. Es ist also keineswegs so, dass bei
Fehlen der Voraussetzungen einer Vollendungsstrafbarkeit zwingend ein milderer
Strafrahmen Anwendung findet. Bei bloßer Versuchsstrafbarkeit, deren Voraussetzungen für alle Beteiligten, sofern diese plangemäß ihre Schüsse abgeben, als
gegeben vorausgesetzt werden können, kann der volle Strafrahmen der §§ 212
bzw. 211 ausgeschöpft werden, sofern der Richter dies als schuldangemessen erachtet.
Zusammenfassend lässt sich also Folgendes sagen: Die für die hier untersuchten Fälle häufig behauptete Evidenz einer gemeinschaftlichen Begehung im
Sinne des § 25 Abs. 2 ist angesichts der gegenüber der im Vergleich zum Regelfall
der Mittäterschaft eindeutig andersartigen Struktur der »additiven Mittäterschaft« eher fernliegend. Offenbar resultiert die häufig von vorneherein nicht in
Zweifel gezogene Annahme von Mittäterschaft jedenfalls auch aus einem allgemeinen Bedürfnis nach der Vollendungsstrafbarkeit aller Beteiligten. Solche kri-
321 Die Schwächen der einzelnen Begründungen wurden bereits aufgezeigt.
322 Dazu noch ausführlich unten C. II. 1. f) (1) (2) (a).
323 A. VI. 3.
324 Vgl. die Nachweise bei LK – Hillenkamp § 23 Rn. 17 ff., der solche Auffassungen ebenfalls
ablehnt.
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minalpolitischen Erwägungen, deren Berechtigung, wie gezeigt, ohnehin zweifelhaft ist, können im Rahmen einer rechtsstaatlich konsequenten Täterschaftsdogmatik nur eine begrenzte Rolle spielen.
IV. Kausalitätsprobleme bei der »additiven Mittäterschaft«?
Damit ist auch bereits deutlich geworden, dass die Problematik der hier untersuchten Fallgruppe sich nicht allein auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen
Mittäterschaft bei schlichten Erfolgsdelikten und Kausalität des Einzelbeitrages
reduzieren lässt, auch wenn dies sicherlich als eine der zentralen, durch die vorliegende Fallgruppe aufgeworfenen Fragen anzusehen ist. In diesem Zusammenhang ist zunächst festzustellen, dass in der bisherigen Diskussion die jeweils eine
bzw. andere Extremposition – Mittäterschaft erfordert Kausalität des Einzelbeitrages bzw. diese ist entbehrlich – zumeist ohne eingehende Begründung als Postulat behauptet wird325, was zu einer Lösung des Problems wenig beiträgt. Auch
muss darauf hingewiesen werden, dass, angenommen man käme zu dem Ergebnis, Mittäterschaft erfordere keinen kausalen Beitrag des Einzelnen, man hieraus
nicht zwingend schließen könnte, dass für die vorliegende Fallgruppe Mittäterschaft zu bejahen wäre.326 Im Übrigen ist noch Folgendes zu beachten: In der hier
untersuchten Fallgruppe ist die Frage der Kausalität materiell–rechtlich, soweit
der Einzelbeitrag betroffen ist, im Grunde unproblematisch. Schwierigkeiten ergeben sich alleine daraus, dass der Fall so konstruiert wird, dass die Kausalität
nicht nachweisbar ist, was allenfalls ein prozessuales Problem darstellt.327 Doch
was bedeutet es überhaupt, wenn im Zusammenhang mit der vorliegenden Fallgruppe von Kausalitätsproblemen gesprochen wird? Kann einem Angeklagten
keine Straftat nachgewiesen werden, sei es eben wegen nicht nachweisbarer Erfolgskausalität, so kann dies in einem rechtsstaatlichen Strafverfahren zunächst
eigentlich kein »Problem« darstellen. Eine solche Formulierung impliziert vielmehr, dass ein bestimmtes Ergebnis, namentlich die Bestrafung des Angeklagten,
gewünscht bzw. als gerecht vorausgesetzt wird. Nur unter Zugrundelegung dieser
Prämisse kann es gerechtfertigt sein, die fehlende Nachweisbarkeit eines Tatbestandsmerkmales als »Problem« zu bezeichnen. Ein solcher Wunsch nach einem
bestimmten Ergebnis kann sich vor allem aus allgemeinen Strafbedürftnis- bzw.
Gerechtigkeitserwägungen ergeben. Derartigen Erwägungen soll hier die Berechtigung nicht abgesprochen werden. Es ist auch zuzugeben, dass die vorliegende
Fallgruppe durchaus verstärkt Anlass zu solchen Überlegungen bietet. Gleich-
325 Darauf weist auch Knauer S. 133 hin.
326 Umgekehrt wäre eine »additive Mittäterschaft« natürlich ausgeschlossen, sofern man
einen kausalen Beitrag jedes Mittäters für erforderlich hielte.
327 Dies ist ein nicht zu vernachlässigender Unterschied zu den sog. »Gremiumssachverhalten«, wo tatsächlich ein materiell-rechtliches Kausalitätsproblem vorliegt. Dies wird häufig offenbar übersehen, wenn die »additive Mittäterschaft« im Zusammenhang mit »Gremiumssachverhalten« diskutiert wird.
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References
Zusammenfassung
Das Werk behandelt die Abgrenzung von Mittäterschaft und Teilnahme, eine angesichts der Verbreitung des Tatherrschaftsgedankens rückläufige Diskussion. Losgelöst vom Begriff „Tatherrschaft“ wird die Mittäterschaft – anhand der sog. „additiven Mittäterschaft“ – konsequent auf ihre gesetzliche Regelung in § 25 Abs. 2 StGB zurückgeführt. Die entwickelte Lösung, eine teilweise Renaissance der formal-objektiven Theorie, mag dem Einwand fehlender argumentativer Flexibilität und somit mangelnder Praxistauglichkeit ausgesetzt sein. Demgegenüber steht die Rückbesinnung auf eine echte Tatbestandsbezogenheit, die den dahinterstehenden verfassungsrechtlichen Garantien die notwendige Geltung verschafft.