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2. Teil: Vertiefende Problemanalyse
Es wurde bereits in der Einleitung darauf hingewiesen, dass die hier untersuchte
Fallgruppe im Vergleich zu anderen Konstellationen eher am Rande diskutiert
wird. Dies muss überraschen, denn bei näherer Betrachtung erweist sich, dass im
Zusammenhang mit der »additiven Mittäterschaft« eine Reihe von allgemeinen,
die Mittäterschaftsdogmatik betreffenden Problemen berührt werden. Dies betrifft etwa die Frage nach dem Verhältnis von Mittäterschaft und Kausalität des
Einzelbeitrages, insbesondere aber auch die Frage, auf welchem Wege eine notwendige Verbindung der Tatbeiträge der etwaigen Mittäter erfolgen kann. In letzterem Zusammenhang tauchen immer wieder Begriffe wie »Tätigkeitsanrechnung«, »Kollektivsubjekt« oder »Gesamttat«304 auf. All diese Begriffe spielen im
Rahmen der Mittäterschaftsdogmatik eine Rolle, ohne dass ihre dogmatisch exate
Verortung und Begriffsbestimmung jemals als Teil einer konsequenten Systematik erfolgt wäre. Die hier untersuchte Fallgruppe zwingt aber nun zur Entwicklung einer solchen konsequenten Systematik, da die bisherigen Lösungen nicht
überzeugen können. Dass eine solche, vertiefende Auseinandersetzung mit der
»additiven Mittätterschaft« bisher kaum erfolgt ist, liegt offenbar auch oder sogar
primär daran, dass der überwiegende Teil der Lehre für diese Fallgruppe im Ergebnis eine Vollendungsstrafbarkeit aller Beteiligten zur Vermeidung unvertretbarer Strafbarkeitslücken für erforderlich hält. Obwohl strukturelle Unterschiede
zu herkömmlichen Mittäterschaftskonstellationen behauptet werden, wird nicht
etwa die Gelegenheit genutzt, ausführlich zu untersuchen, inwieweit die allgemeine Struktur der Mittäterschaft eine Erfassung der hier untersuchten Fallgruppe zulässt. Vielmehr wird überwiegend ein anscheinend vorweggenommenes
Ergebnis mit möglichst geringem Aufwand zu begründen versucht, wobei sich
sämtliche in diesem Zusammenhang vertretenen Begründungen aber bei näherer
Betrachtung als unzureichend erwiesen haben. Diese Schwierigkeiten bei der Erfassung der »additiven Mittäterschaft« machen deutlich, dass die Konturen des
allgemeinen Mittäterschaftsbegriffes, insbesondere in objektiver Hinsicht, nicht
so deutlich sind, wie dies häufig den Anschein hat. An dieser Stelle soll daher die
Frage nach der Struktur der »additiven Mittäterschaft« untersucht werden (I.-II.)
sowie der Frage nachgegangen werden, inwieweit tatsächlich unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten ein dringendes Bedürfnis nach der Vollendungsstrafbarkeit
aller Beteiligten besteht (III.). Schließlich wird vertiefend die Frage behandelt,
welche Rolle einer etwaigen Kausalitätsproblematik in der vorliegenden Fallgruppe zukommt (IV.) und welche spezifischen Prbleme mit der Notwendigkeit
einer Verbindung der einzelnen Tatbeiträge zusammenhängen (V.).
304 Zu diesen Begriffen bereits A. XII.
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I. »Additive« und »korrelative« Mittäterschaft: Ein struktureller
Unterschied?
Es wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die sog. »additive Mittäterschaft« im Gegensatz zu den klassischen Mittäterschaftskonstellationen, zumeist
als sog. »korrelative Mittäterschaft« bezeichnet, »strukturell anders gelagert
ist«305. Während bei den Konstellationen der sog. »korrelativen Mittäterschaft«
die Tatbeiträge »ineinandergreifen«, würden bei der »additiven Mittäterschaft«
die Erfolgsaussichten durch »Kumulierung nebeneinander herlaufender Handlungen verstärkt«.306 Zum Zwecke einer genauen Analyse der behaupteten Strukturunterschiede bedarf das zu ihrer Kennzeichnung gewählte Begriffspaar »additiv/korrelativ« einer präzisen Bestimmung.
1. Korrelative Mittäterschaft als begriffliche Kennzeichnung des Regelfalls
der Mittäterschaft
Untersuchen wir zunächst den Begriff der »korrelativen Mittäterschaft« im Hinblick darauf, inwieweit er zur Charakterisierung der damit gemeinten Fallkonstellationen geeignet ist. Klassisches Beispiel hierfür ist ein Raub, bei dem A das Opfer qualifiziert nötigt, während B wegnimmt. Auf den ersten Blick erscheint es
naheliegend zu formulieren, dass hier die Tatbeiträge ineinandergreifen. Doch inwieweit »korrelieren« diese auch tatsächlich? »Korrelativ« bedeutet soviel wie
»sich gegenseitig bedingend«, bzw. »zueinander in Wechselbeziehung stehend«.307 »Korrelate« sind solche Dinge bzw. Begriffe, die einander zwingend
voraussetzen bzw. nur aufeinander bezogen Sinn ergeben.308 Ein Beispiel für eine
korrelative Beziehung in diesem Sinne wäre etwa das Begriffspaar »Mutter/Tochter«.
Unter Zugrundelegung dieses Begirffsverständnisses kann nicht ohne weiteres
gesagt werden, die Tatbeiträge von A und B im Raubbeispiel korrelieren. Per se
besteht nämlich zwischen qualifizierter Nötigung und Wegnahme keine als in diesem Sinne korrelativ zu charakterisierende Wechselbeziehung, denn eine Nötigung setzt nicht zwingend eine Wegnahme voraus, vielmehr ist beides aus sich
heraus und ohne das jeweils andere verständlich. Eine korrelative Beziehung ist
aber dann anzunehmen, wenn man die Beiträge zum Tatbestand des § 249 in
Bezug setzt. Im Hinblick auf den Tatbestand des § 249 setzen qualifizierte Nötigung und Wegnahme einander gegenseitig voraus, unter diesem Gesichtspunkt
sind sie mithin als Korrelate anzusehen. Der Begriff »korrelativ« kennzeichnet
die »herkömmlichen« Mittäterschaftskonstellationen also dann und nur dann
305 So wörtlich Roxin JA 1979, 519 (524); ähnlich ders. LK § 25 Rn. 159; in diese Richtung
ebenfalls etwa Bloy Beteiligungsform S. 372; Schaal Verantwortlichkeit S. 175.
306 Roxin AT § 25 III Rn. 230.
307 Vgl. Duden Fremdwörterbuch S. 31 bzw. 427.
308 Brockhaus Enzyklopädie 10. Bd. S. 523.
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zutreffend, wenn man die Tatbestandsverwirklichung als Bezugspunkt der Korrelation betrachtet.309 Es ist dann auch naheliegend, die so verstandene korrelative
Mittäterschaft als klassischen Fall der Mittäterschaft zu verstehen. Das Zusammenwirken mehrerer Handlungen in der Form, dass diese sich wechselseitig zur
Herbeiführung eines Erfolges – hier: der Tatbestandsverwirklichung – ergänzen,
dürfte, auch im alltagssprachlichen Sinne, als gemeinschaftliche Herbeiführung
bzw. Bewirkung dieses Erfolges zu verstehen sein. An dieser Stelle sei bereits auf
einen Aspekt hingewiesen, dem im weiteren Verlauf der Untersuchung noch entscheidende Bedeutung zukommen wird. Ergänzen wir das obige Raubbeispiel so,
dass der C während der Tat »Schmiere steht«, so stellt sich dessen Beitrag bei
stringenter Betrachtung nicht als Korrelat im Hinblick auf die Tatbestandsverwirklichung dar. Das »Schmierestehen« steht, nimmt man den Tatbestand des
§ 249 in den Blick, zu Wegnahme und qualifizierter Nötigung nicht in einer korrelativen Wechselbeziehung. Damit ist selbstverständlich noch kein abschließendes Urteil über den täterschaftsbegründenden Charakter des »Schmierestehens«
gefällt. Der Gedanke wird jedoch, wie gesagt, an späterer Stelle aufzugreifen
sein.310
2. Die Struktur der »additiven Mittäterschaft«
Wie ist nun die vermeintlich andersartige Struktur der »additiven Mittäterschaft«
gegenüber den soeben dargestellten Konstellationen beschaffen? Zum einen wird
die Struktur der »additiven Mittäterschaft« häufig darin gesehen, dass in dieser
Fallgruppe jeder der Mittäter für sich bereits bemüht ist, den tatbestandsmäßigen
Erfolg herbeizuführen.311 Dies mag man als Strukturmerkmal der Fallgruppe betrachten, wenngleich bereits darauf hingewiesen wurde, dass es vermutlich auch
und gerade die Absicht der Attentäter sein dürfte, ihr Opfer »im Kugelhagel«312,
mithin ggf. auch durch Zusammenwirken mehrerer Schüsse sterben zu lassen.
Bleiben wir einen Moment bei der letztgenannten Variante, in der das Opfer durch
das kumulative Zusammenwirken mehrerer Schüsse zu Tode kommt. Nach dem
soeben erläuterten Verständnis des Begriffs »korrelativ« müsste man sagen, dass
in dieser Variante diejenigen Tatbeiträge, deren Kumulation zum Erfolgseintritt
führte, im Hinblick auf diesen korreliert haben, denn im Hinblick auf den konkret
eingetreten Todeserfolg stehen die jeweiligen Schüsse zueinander in einer zwingenden Wechselbeziehung. Insoweit ist hier also die Kumulation als eine Form
der Korrelation, die »additive Mittäterschaft« als Unterfall der korrelativen Mittäterschaft anzusehen. Als zweites, offenbar für entscheidend erachtetes Merkmal
der »additiven Mittäterschaft« wird stets auf die gezielte Optimierung der Erfolg-
309 Dies ist wohl auch das Verständnis der herrschenden Lehre.
310 Vgl. C. II. 1. f) (1) (c).
311 Bloy Beteiligungsform S. 372; Roxin JA 1979, 519 (524)
312 Vgl. nochmals die entsprechende Formulierung im Herzbergschen Fallbeispiel.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Das Werk behandelt die Abgrenzung von Mittäterschaft und Teilnahme, eine angesichts der Verbreitung des Tatherrschaftsgedankens rückläufige Diskussion. Losgelöst vom Begriff „Tatherrschaft“ wird die Mittäterschaft – anhand der sog. „additiven Mittäterschaft“ – konsequent auf ihre gesetzliche Regelung in § 25 Abs. 2 StGB zurückgeführt. Die entwickelte Lösung, eine teilweise Renaissance der formal-objektiven Theorie, mag dem Einwand fehlender argumentativer Flexibilität und somit mangelnder Praxistauglichkeit ausgesetzt sein. Demgegenüber steht die Rückbesinnung auf eine echte Tatbestandsbezogenheit, die den dahinterstehenden verfassungsrechtlichen Garantien die notwendige Geltung verschafft.