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stimmtheit des Tatherrschaftsbegriffs. Gleichwohl wirkt es doch ziemlich konstruiert, wenn man behauptet, der maßgebliche Einfluss auf ein tatsächliches Geschehen (Deliktsverwirklichung) ginge von einem fiktiven Subjekt aus. Beeinflusst wird das tatsächliche Geschehen allein von den im ontologischen Sinne
handelnden Individuen. Durch die bloße Koordinierung des Handelns im Vorwege geht dieser Einfluss nicht auf ein durch diese Koordinierung womöglich erschaffenes Kollektivsubjekt über. Dabei mag es in der Sache durchaus nachvollziehbare Gründe geben, die dafür sprechen, bei der Mittäterschaft von einem
»Unrechtssystem«287 auszugehen, innerhalb dessen dann die Verantwortung des
jeweils Einzelnen bestimmt wird.288 Doch selbst wenn man einem etwaigen Kollektivsubjekt, quasi einer Art Deliktsmaschinerie, die Tatherrschaft bzw. die Fähigkeit hierzu zusprechen möchte, würde dies im hier relevanten Zusammenhang
keine weiterführenden Erkenntnisse bringen. Zum einen würde sich die bereits an
anderer Stelle angesprochene Frage stellen, worauf sich eine solche Tatherrschaft
des Kollektivs beziehen müsste.289 Zum anderen stellt auch eine wie immer verstandene Lehre vom Kollektivsubjekt für sich betrachtet keine allgemeine Mittäterschaftstheorie dar. Vielmehr setzt die Zugehörigkeit zum Kollektivsubjekt
eben voraus, dass bezüglich des in Frage stehenden Beteiligten die Voraussetzungen von Mittäterschaft vorliegen. Alles andere liefe auf einen Zirkelschluss hinaus.290 Die entscheidende Frage, die einer dogmatisch konsequenten und gesetzeskonformen Beantwortung bedarf, bleibt somit, unter welchen Voraussetzungen
mehrere Personen zu einem Unrechtssystem, einer Deliktsmaschinerie zusammengefasst werden können und dürfen. Hinsichtlich dieser Frage, die in der Sache die Frage nach den Voraussetzungen der Mittäterschaft ist, bietet die Lehre
vom Kollektivsubjekt keinerlei Erkenntnisgewinn.
Es bliebe allenfalls die Möglichkeit, eine im Einzelfall festzustellende, von
mehreren zunächst nicht näher definierten Beteiligten begangene Tat – man mag
von einer Kollektiv- oder Gesamttat sprechen291 – in den Blick zu nehmen und
sodann hinsichtlich der einzelnen Beteiligten deren Beteiligungsform mit Blick
auf diese Tat zu bestimmen. Dieser Grundgedanke liegt dem Ansatz von Dencker
zugrunde, auf den im Folgenden näher eingegangen wird.
3. »Additive Mittäterschaft« und das sog. »Haftungsprinzip Gesamttat«
Dencker lehnt in seiner Monographie »Kausalität und Gesamttat« die Anerkennung eines fiktiven Kollektivsubjekts ab. Die nach seiner Auffassung bei der Ver-
287 So Lampe ZStW Bd. 106 (1994), 683 (690).
288 Diese Vorstellung scheint, mehr oder weniger unausgesprochen, hinter der herrschenden
Lehre zu stehen.
289 Dazu oben A. III. 3.
290 Vgl. insoweit oben A. III. 3 und insbesonder A. XII. 1.
291 Vgl. Auch die Formulierung von Puppe ZIS 2007, 234 (240): »Es gibt also durchaus eine
‚Gesamttat’, aber es gibt keinen Gesamttäter«.
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antwortlichkeit mehrerer für ein Delikt gleichwohl erforderliche Schaffung von
sog. »Verbindungsregeln« zur Erklärung der zurechnungsbegründenden Kausalbeziehung habe nicht beim Zurechnungssubjekt, sondern bei ihrem Objekt, der
sog. »Gesamttat« stattzufinden.292 Hierzu sei es zunächst erforderlich, aus den
einzelnen Tatbeständen des Besonderen Teils, die nach der Auffassung von Denkker ausschließlich die individuelle Tatbestandsverwirklichung beschreiben293,
sog. »Gesamttatbestände« zu bilden.294 Demnach laute etwa § 212 als im Sinne
des § 25 Abs. 2 formulierter Gesamttatbestand: »Diejenigen, welche gemeinschaftlich einen Menschen töten......«295. Nach der Konzeption von Dencker soll
Mittäterschaft zunächst stets ein sog. »Gesamtprojekt« voraussetzen, welches als
intellektuelles Handlungsprojekt zu verstehen sei, das die Handlungen mehrerer
Individuen zu einer Gesamttat koordiniert.296 Mittäterschaft erfordere sodann
weiterhin für den Einzelnen eine sog. »Teiltat«, worunter Dencker eine wesentliche Handlung versteht, die für einen gesamttatbestandsmäßigen Sachverhalt ursächlich ist.297 Wie diese Wesentlichkeit im Einzelnen zu bestimmen ist, lässt
Dencker allerdings ausdrücklich offen. Dencker leitet aus seiner Konzeption ein
sog. »doppeltes Kausalitätserfordernis« ab, wonach der Einzelne durch seine
Teiltat ursächlich für die Gesamthandlung sein müsse und diese wiederum für den
tatbestandsmäßigen Erfolg.298 Auch dieses von Dencker entwickelte »Haftungsprinzip Gesamttat« ist aber durchgreifenden Bedenken ausgesetzt299 und kann somit zur Lösung der hier untersuchten Fallgruppe nicht zielführend beitragen. Das
von Dencker postulierte doppelte Kausalitätserfordernis ist nicht durchhaltbar.
Ebenso wie bei der Konstruktion eines Kollektivsubjekts muss auch hier darauf
hingewiesen werden, dass eine gedanklich konstruierte Gesamthandlung niemals
objektiv-ontologisch kausal300 für einen tatsächlich als Außenweltveränderung
eingetretenen Erfolg sein kann. Beim Attentats-Beispiel etwa sind es eben nur die
tödlichen Schüsse, die für den Todeserfolg objektiv-ontologisch kausal sind,
nicht etwa eine aus sämtlichen Schüssen konstruierte Gesamthandlung. Darüber
hinaus ist unklar, wie die von Dencker geforderte Ursächlichkeit der Teiltat für
die Gesamttat zu verstehen ist. Dies wird bei der Anwendung seiner Konzeption
auf die »additive Mittäterschaft« deutlich. Dencker geht davon aus, dass unter
Zugrundelegung der von ihm entwickelten Prinzipien die danach erforderliche
Ursächlichkeit für den gesamttatbestandsmäßigen Sachverhalt bei der »additiven
292 Dencker S. 120 ff.
293 A.a.o. S. 143.
294 A.a.o. S. 145 ff.
295 A.a.o. S. 148; hier fällt auf, dass diese Formulierung rein sprachlich betrachtet bei den
Tätern, nicht bei der Tat ansetzt, was in der Sache der Konzeption von Dencker widerspricht.
296 A.a.o. S. 160.
297 A.a.o. S. 164.
298 A.a.o. S. 219.
299 Soweit Dencker den gemeinsamen Tatentschluss als objektives Merkmal der Mittäterschaft betrachtet, ist diese Auffassung unter A. II. 4. d) bereits abgelehnt worden.
300 Zu dem hier zugrundegelegten Verständnis dieses Begriffes A. XII. 2. a).
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Mittäterschaft« »unproblematisch« ist.301 Doch bleibt hier letztlich die Frage offen, worin bei der »additiven Mittäterschaft« dieser »gesamttatbestandsmäßige
Sachverhalt« zu sehen ist. Würde man versuchen, exakt unter den von Dencker
für den § 212 vorgeschlagenen Gesamttatbestand - »Diejenigen, welche gemeinschaftlich einen Menschen töten« – zu subsumieren, so könnte man ebenso gut
behaupten, dies seien eben lediglich diejenigen, die einen erfolgskausalen Beitrag
geleistet haben. Zu der für die vorliegende Fallgruppe entscheidenden Frage, ob
die Abgabe eines nicht-kausalen Schusses zur gemeinschaftlichen Begehung des
Tötungsdelikts im Sinne des § 25 Abs. 2 gehört, trägt das Haftungsprinzip Gesamttat nichts bei. Die von Dencker vorgeschlagene Formulierung eines Gesamttatbestandes lässt beide Ergebnisse zu. Außerdem wäre die Kausalität der Teiltat
für die Gesamttat nach Denckers Konstruktion stets zu bejahen, da er die Gesamttat quasi als die Summe aller Teiltaten auffasst, womit selbstverständlich jede
Teiltat notwendige Bedingung für die Gesamttat ist. Somit könnte man theoretisch jeden Beitrag als für die Gesamttat kausal auffassen, indem man ihn einfach
zur Teiltat erklärt. Schließlich ist die Formulierung von Gesamttatbeständen, wie
sie von Dencker vorgeschlagen wird, mit Blick auf die Tatbestände des Besonderen Teils nicht zwingend notwendig. Dencker geht davon aus, dass die Mittäterschaft nicht durch schlichte Subsumtion unter die Tatbestände des Besonderen
Teils feststellbar ist, da diese ausschließlich individuelles Tun beschreiben.302
Dies scheint mit Blick auf den jeweiligen Wortlaut grammatikalisch zunächst einleuchtend. Gleichwohl kann hieraus nicht die zwingende Konsequenz einer Notwendigkeit der Formulierung von Gesamttatbeständen – als Lösung de lege ferenda – geschlossen werden. Vielmehr ergibt sich de lege lata eine konsequente
Lösung, wenn man das Zusammenspiel zwischen § 25 und den Tatbeständen des
Besonderen Teils wie folgt interpretiert: Jeder Tatbestand umschreibt auf der Tatbestandsseite stets das Verhalten eines Individuums. Dies steht im Einklang mit
§ 29 und der sich aus dieser Norm zwingend ergebenden Konsequenz eines Individuums auf der Rechtsfolgenseite. § 25 wird wie folgt in die Tatbestände des Besonderen Teils hineingelesen (als Beispiel diene wiederum § 212): »Wer selbst,
durch einen anderen oder mit mehreren gemeinschaftlich einen Menschen töte
...«. Auf diese Weise können sowohl § 25 Abs. 1 als auch Abs. 2 einheitlich, als
vor die Klammer gezogene Vorschriften des allgemeinen Teils auf die gesetzlichen Straftatbestände angewandt werden, ohne dass es einer Umformulierung bedürfte.303
301 Dencker S. 218.
302 Insoweit zustimmend auch Knauer 151 f.
303 Zu den drei Alternativen des § 25 als unterschiedliche Phänotypen täterschaftlicher Straftatbegehung ausführlich unten C. I. 3.
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XIII. Zwischenergebnis
Die vorstehende Auseinandersetzung mit den bisher zur »additiven Mittäterschaft« vertretenen Auffassungen hat ergeben, dass keine dieser Auffassungen
eine befriedigende Lösung der hier untersuchten Fallgruppe bietet. Dabei ist insbesondere deutlich geworden, dass häufig bereits die zugrunde liegenden Mittäterschaftskonstruktionen an sich nicht vollständig zu überzeugen vermögen und
somit bei der Suche nach einer dogmatisch konsequenten Lösung der hier untersuchten Fallgruppe nicht zum Ziel führen können. Auch im Zusammenhang mit
der Mittäterschaft allgemein und zum Teil auch im Rahmen der Befassung mit der
hier untersuchten Fallgruppe immer wieder auftauchende Begriffe wie »Tätigkeitsanrechnung«, »Kollektivsubjekt« und »Gesamttat« können zu einer Lösung,
isoliert betrachtet, nichts beitragen. Mithin erfordert die Erarbeitung einer Lösung für die »additive Mittäterschaft« die Ausarbeitung einer allgemeinen, von
der Fallgruppe abstrahiert entwickelten Mittäterschaftsdogmatik, die sodann
konsequent auf die vorliegende Fallgruppe angewendet werden kann. Bevor der
Verfasser diesen Versuch unternimmt (3. Teil), soll jedoch zunächst im Rahmen
einer vertiefenden Problemanalyse weiterführend aufgezeigt werden, dass bzw.
inwieweit die hier untersuchte Fallgruppe eine Auseinandersetzung mit den
Kernfragen der allgemeinen Mittäterschaftsdogmatik tatsächlich nahelegt.
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References
Zusammenfassung
Das Werk behandelt die Abgrenzung von Mittäterschaft und Teilnahme, eine angesichts der Verbreitung des Tatherrschaftsgedankens rückläufige Diskussion. Losgelöst vom Begriff „Tatherrschaft“ wird die Mittäterschaft – anhand der sog. „additiven Mittäterschaft“ – konsequent auf ihre gesetzliche Regelung in § 25 Abs. 2 StGB zurückgeführt. Die entwickelte Lösung, eine teilweise Renaissance der formal-objektiven Theorie, mag dem Einwand fehlender argumentativer Flexibilität und somit mangelnder Praxistauglichkeit ausgesetzt sein. Demgegenüber steht die Rückbesinnung auf eine echte Tatbestandsbezogenheit, die den dahinterstehenden verfassungsrechtlichen Garantien die notwendige Geltung verschafft.