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sonderen Teils.137 Eine mittäterschaftsbegründende Teilhabe des Einzelnen an der
Tatherrschaft des Kollektivs sei dann anzunehmen, wenn »dessen Beitrag aufgrund des objektiven Zusammenhangs mit den übrigen Beiträgen die Tatherrschaft des Kollektivs hinsichtlich des Gesamterfolgs der Rechtsgutsbeeinträchtigung mit begründet«.138
2. Tatherrschaft des Kollektivs und »additive Mittäterschaft«
Gössel erachtet im hier untersuchten Attentats-Fall alle Schüsse als Ausdruck der
kollektiven Tatherrschaft, an der somit jeder einzelne Schütze durch Abgabe seines Schusses teilhabe.139 Auf die Frage der Wesentlichkeit des Tatbeitrages
komme es nicht an, da die Teilhabe an der kollektiven Tatherrschaft allein maßgeblich sei.140
3. Kritik
Gössel versteht den von ihm vertretenen Mittäterschaftsbegriff als »auf der
Grundlage der materiell-objektiven Täterschaftslehre« beruhend.141 Ebenfalls
hält er den Begriff der »funktionellen Tatherrschaft« im Zusammenhang mit der
Mittäterschaft für zutreffend.142 Für die Konstruktion einer Tatherrschaft des Kollektivs benötigt er jedoch nicht die Konstruktion der ex-ante-Wesentlichkeit des
Einzelbeitrages, so dass seine Auffassung zunächst nicht den soeben gegen die
herrschende Lehre dargelegten Bedenken ausgesetzt ist. Gleichwohl kann der von
Gössel vertretenen Auffassung zur hier untersuchten Fallgruppe nicht gefolgt
werden. Es bleibt schon generell unklar, was unter einer Tatherrschaft des Kollektivs zu verstehen ist bzw. worauf sich eine solche überhaupt beziehen muss.143
Dies wird bei der »additiven Mittäterschaft« in besonderem Maße deutlich. Die
kausale Erfolgsherbeiführung kann hier als Bezugspunkt der Tatherrschaft des
Kollektivs nicht gemeint sein, denn sie beherrschen nur diejenigen Beteiligten,
die zu ihr auch tatsächlich und nachweisbar beitragen. Angenommen sämtliche
20 Schützen würden das Opfer verfehlen, so dass dieses mit dem Leben davonkäme. In diesem Fall läge kein vollendetes Tötungsdelikt vor, so dass sicher niemand auf den Gedanken käme, eine Tatherrschaft des Attentäterkollektivs hinsichlich eines solchen Tötungsdeliktes anzunehmen. Trifft nun aber einer der
137 A.a.o. Rn. 6.
138 A.a.o. Rn. 26.
139 A.a.o. Rn. 37, 38.
140 A.a.o. Rn. 38.
141 A.a.o. Rn. 8.
142 A.a.o. Rn. 5.
143 Wie später unter C. II. 1. f) (c) noch zu zeigen sein wird, ist dies eine generelle Schwäche
sämtlicher Varianten der Tatherrschaftslehre.
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Schützen das Opfer tödlich, so liegt ein vollendeter Totschlag vor, hinsichtlich
dessen nach Gössel eine Tatherrschaft des Attentäterkollektivs anzunehmen wäre. Damit ist aber deutlich, dass diese Tatherrschaft dem Kollektiv allein durch
diejenigen Beteiligten vermittelt wird, die einen erfolgskausalen Beitrag leisten.
Hinsichtlich der übrigen Beiträge besteht kein, von Gössel selbst übrigens geforderter, objektiver Zusammenhang zu den tatsächlich erfolgskausalen Beiträgen.
Die ohnehin zweifelhafte Konstruktion eines Gesamtsubjektes144 kann allenfalls
eine Fiktion sein und vermag, im Übrigen ebenso wie ein gemeinschaftlicher Tatplan, keinesfalls einen solchen objektiven Zusammenhang zu vermitteln. Des
Weiteren kann es – um an die Formulierung von Gössel anzuknüpfen – eigentlich
nur die kausale Erfolgsherbeiführung sein, die den »Gesamterfolg der Rechtsgutsbeeinträchtigung« im Hinblick auf § 212 ausmacht und worauf sich somit die
Tatherrschaft des Kollektivs demnach beziehen müsste. In letzter Konsequenz
wird das Bezugsobjekt der Tatherrschaft des Kollektivs bei der »additiven Mittäterschaft« von Gössel also nicht hinreichend konkretisiert. Auch darüber hinaus
gibt es aber Gründe, das Kriterium der Tatherrschaft des Kollektivs als Voraussetzung der Mittäterschaft abzulehnen. Es stellt sich nämlich die Frage, welche
Beteiligten überhaupt zu einem solchen Kollektiv zusammengefasst werden können, dem sodann die Tatherrschaft zugesprochen wird. Hier droht die Gefahr einer zirkelschlüssigen Argumentation. Da das Vorliegen der Tatherrschaft des
Kollektivs, nach der Gösselschen Diktion, Mittäterschaft begründet, kann und
darf bis zu ihrer Feststellung nicht feststehen, wer überhaupt als Mittäter anzusehen ist. Es fehlt dann aber auch an einer sachlichen Berechtigung dafür, bestimmte Beteiligte überhaupt als ein Kollektiv hinsichtlich der Tatbegehung aufzufassen. Auf diesem Wege könnte man theoretisch beliebig viele Beteiligte zu
einem Kollektiv zusammenfassen, um dann die Herrschaft eines solchen Kollektivs für eine bestimmte Tat zu bejahen, so lange nur ein Beteiligter innerhalb des
Kollektivs die Tatbestandsmerkmale verwirklicht. Dieses Problem sei erneut anhand der »additiven Mittäterschaft« verdeutlicht. Wie soeben gezeigt wurde, wird
eine Herrschaft über die kausale Erfolgsherbeiführung als die im Rahmen des §
212 maßgebliche Rechtsgutsbeeinträchtigung erst durch die erfolgskausalen Tatbeiträge begründet. Fasst man nun alle, auch die nicht nachweisbar erfolgskausal
gewordenen Attentäter, als Kollektiv zusammen und spricht diesem Kollektiv
hinsichtlich des vollendeten Tötungsdeliktes die Tatherrschaft zu, so muss die
Frage gestellt werden, warum sich die nicht erfolgskausalen Beteiligten die erfolgskausalen Beiträge und die erst durch diese begründete Herrschaft über die
Tatbestandsverwirklichung zurechnen lassen müssen. § 25 Abs. 2 kann eine solche Zurechnung145 hier nicht rechtfertigen, da gerade das Vorliegen von dessen
Voraussetzungen geprüft werden soll. Hier liegt nun der Zirkelschluss, indem
schlicht die im Ergebnis vorweggenommenen Mittäter bereits zur Begründung
der Voraussetzungen der Mittäterschaft als Kollektiv zusammengefasst werden.
144 Dazu unten A. XII. 2.
145 Zur Frage, inwieweit eine Zurechnung der Tatbeiträge bei der Mittäterschaft überhaupt
eine Rolle spielt, siehe unten C. III. 4.
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Aus diesem Grund ist die Auffassung von Gössel, unbeschadet ihrer Undeutlichkeit hinsichtlich des Bezugsobjekts der kollektiven Tatherrschaft, abzulehnen.
Eine zufriedenstellende Lösung der »additiven Mittäterschaft« kann unter Zugrundelegung dieser Auffassung nicht erfolgen.
IV. Die Auffassung von Herzberg
Auch Herzberg, der als erster auf die hier untersuchte Fallgruppe aufmerksam
machte, gelangt zur Bejahung von Mittäterschaft aller Beteiligten. In seiner Mittäterschaftskonzeption stimmt Herzberg mit der Auffassung von Roxin »sachlich
weitgehend überein«146. Jedoch ist es gerade die hier vorliegende Fallgruppe, anhand der Herzberg die Unterschiede seiner Konzeption zur Tatherrschaftslehre
entwickelt.
1. Die Grundzüge der Herzbergschen Mittäterschaftskonzeption und ihre
Anwendung auf die »additive Mittäterschaft«
Mittäter ist nach Herzberg, »wer nach Versuchsbeginn einen vom gemeinsamen
Tatentschluss getragenen Tatbeitrag (Ausführungsbeitrag) leistet, der im Hinblick auf den erstrebten Erfolg den Leistungen des oder der anderen ungefähr
gleichwertig ist«.147 Die Gleichwertigkeit der Tatbeiträge soll nach Herzberg im
Wege einer ex-ante-Betrachtung erfolgen. Herzberg hält diese Konzeption bei der
Erfassung der »additiven Mittäterschaft« für vorzugswürdig gegenüber der Tatherrschaftslehre und dem Erfordernis des wesentlichen Tatbeitrages, da gerade
in dieser Fallgruppe der Beitrag des Einzelnen unwesentlich und entbehrlich sei.
Die von Herzberg zu keinem Zeitpunkt in Zweifel gezogene148 mittäterschaftliche
Strafbarkeit aller Beteiligten ließe sich daher allein durch das Kriterium der
Gleichrangigkeit der Tatbeiträge sachgerecht begründen.
2. Kritik
Zunächst ist mit Bezug auf das oben zur Tatherrschaftslehre Ausgeführte149 zu sagen, dass die Zugrundelegung einer ex-ante-Betrachtung zur Bestimmung der
Gleichrangigkeit der objektiven Tatbeiträge zur sachgerechten Erfassung des ob-
146 Herzberg Täterschaft S. 70.
147 A.a.o. S. 70.
148 In Täterschaft S. 57 bezeichnet Herzberg die mittäterschaftliche Strafbarkeit aller Beteiligten unabhängig von der Erfolgskausalität ihres Tatbeitrages ausdrücklich als »nicht
zweifelhaft«; vgl. auch Herzberg ZStW Bd. 99 (1987), 49 (54) sowie oben Einleitung.
149 A. II. 3.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Das Werk behandelt die Abgrenzung von Mittäterschaft und Teilnahme, eine angesichts der Verbreitung des Tatherrschaftsgedankens rückläufige Diskussion. Losgelöst vom Begriff „Tatherrschaft“ wird die Mittäterschaft – anhand der sog. „additiven Mittäterschaft“ – konsequent auf ihre gesetzliche Regelung in § 25 Abs. 2 StGB zurückgeführt. Die entwickelte Lösung, eine teilweise Renaissance der formal-objektiven Theorie, mag dem Einwand fehlender argumentativer Flexibilität und somit mangelnder Praxistauglichkeit ausgesetzt sein. Demgegenüber steht die Rückbesinnung auf eine echte Tatbestandsbezogenheit, die den dahinterstehenden verfassungsrechtlichen Garantien die notwendige Geltung verschafft.