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7. Bei der Haushaltskonsolidierung muss das deutsche
Konsensmodell scheitern – Paris und Bonn werden die
Maastricht-Kriterien wohl kaum strikt erfüllen.
Die Europäische Währungsunion steht vor der Verschiebung.
von Manfred E. Streit (Handelsblatt vom 04.09.1996)
Bei den jüngsten deutsch-französischen Konsultationen hat Bundeskanzler Kohl die
Absicht bekräftigt, am Zeitplan und an den Konvergenzkriterien für die Europäische
Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU) „ohne Wenn und Aber“ festzuhalten. In
den gemeinsamen Erklärungen wurden Visionen für das nächste Jahrtausend bemüht.
Die Haushaltsnöte, in denen sich die deutsche und die französische Regierung be? nden, konnten durch die wirtschaftspolitischen Wunschbilder aber nur mühsam überdeckt werden.
Dem Kanzler ist wohl bewusst, dass er gegenüber der deutschen Öffentlichkeit mit
einer strikten Einhaltung der Konvergenzkriterien im Wort steht. Dies kommt dem
Verzicht gleich, hinsichtlich der Kriterien Interpretationsspielräume zu nutzen, die der
Vertrag von Maastricht durchaus gewährt. Den französischen Partnern dürfte diese
Festlegung des Kanzlers nicht unbekannt sein. Die gemeinsame Bestandsaufnahme
müsste eigentlich ergeben haben, dass nur die Vertagung der EWWU bleibt. Denn es
ist abzusehen, dass Frankreich, aber auch Deutschland die ? skalischen Konvergenzkriterien bei strikter Auslegung nicht erfüllen werden. Die EWWU setzt eine Haushaltsdisziplin voraus, die selbst dem traditionell stabilitätsorientierten Deutschland
größte Schwierigkeiten bereitet. Es ist eine höchst undankbare Aufgabe, wohlfahrtsstaatliche Privilegien für mächtige Gruppen mit dem Argument der Haushaltskonsolidierung im Interesse der EWWU abzuschaffen.
In Frankreich haben bisherige und angekündigte Streiks einer Konsolidierung des
Budgets politische Grenzen aufgezeigt. In Deutschland zeigt die Diskussion um das
Sparpaket, wie klein der politische Spielraum für notwendige Einsparungen ist. Die
Interessengruppen haben sich inzwischen tief eingegraben und schrecken selbst vor
groben Entstellungen nicht zurück, um bescheidene Einsparungen und Deregulierungen zu verhindern.
Die Opposition sucht politische Vorteile aus der Unzufriedenheit von Reformbetroffenen zu ziehen. Bemühungen der Bundesregierung, aus dieser Politikfalle durch
eine konzertierte Aktion („Bündnis für Arbeit“) herauszukommen, sind misslungen.
Das deutsche Konsensmodell musste scheitern, weil sich die Unterhändler nicht – wie
sonst üblich – zu Lasten unbeteiligter Dritter einigen konnten. Eine höhere Besteuerung war mit dem Befund zum Standort Deutschland unvereinbar. Der Ausweg in eine
höhere Verschuldung verbot sich, um Glaubwürdigkeit in Sachen EWWU zu wahren.
Eine Lösung des Konsolidierungsproblems ist noch nicht in Sicht, wohl aber das Verfehlen der ? skalischen Konvergenzkriterien.
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Die Befürworter der Währungsunion mögen das bedauern. Sie müssen sich aber
fragen: Liegt der EWWU und dem Stufenplan eine nüchterne Analyse der Ausgangslage sowie der politischen Möglichkeiten der Mitgliedstaaten zugrunde? Die Antwort
lautet nein.
Die meisten EU-Mitgliedstaaten – auch Frankreich und Deutschland – stehen vor
einem unumgänglichen, politisch extrem schwierigen und langwierigen Umbau der
sozialen Sicherungssysteme sowie vor einem Abbau kostspieliger, standortschädigender Gruppenprivilegien in Form von Subventionen und Steuergeschenken. Anders
sind öffentliche Haushalte und Schattenhaushalte auf der Ausgaben- und Einnahmenseite nicht dauerhaft konsolidierbar.
Die Konsolidierung ist zugleich beschäftigungswirksam. Gelingt sie nicht, verringert sich auch nicht der Druck, der von der Beschäftigungsschwäche auf die öffentlichen Finanzen ausgeht. Werden bei all dem die Konvergenzkriterien nicht eingehalten,
ist das nur als Signal für die sehr kritische Lage anzusehen. Es wäre verfehlt, das dem
Signal zugrunde liegende Problem durch Aufweichen der Konvergenzkriterien ungelöst in die EWWU mitzuschleppen.
Deutschland steht dazu vor einem Sonderproblem. Für die Kosten der deutschen
Vereinigung war in den ohnehin konsolidierungsbedürftigen Haushalten von Bund
und Ländern kein Platz geschaffen worden. Auch sind die Kosten höher als erwartet.
Dazu haben viele Gruppen, allen voran Gewerkschaften und Arbeitgeber, beigetragen.
Die Kostenexplosion der Vereinigung und des aus den Fugen geratenen Wohlfahrtsstaates muss zunächst unter Kontrolle gebracht werden, wenn Deutschland nicht zur
Quelle von Instabilität in der EWWU werden soll.
Wie schnell dies geschehen kann, zeigen die Querelen um die Subventionskontrolle durch die EU-Kommission. Bewusst beschränkt der EG-Vertrag den Handlungsspielraum der Regierungen. Dennoch nimmt Sachsens Ministerpräsident Kurt Biedenkopf einen offensichtlich populären Bruch des Vertrages in Kauf, um mit den
Schwierigkeiten zurechtzukommen, die nicht zuletzt auf wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Fehler im Vereinigungsprozess zurückzuführen sind. Der vormalige
Bundeswirtschafts- und Finanzminister Karl Schiller (SPD) kam in seinem politischen
Testament zu einer nachdenkenswerten Schlussfolgerung mit Blick auf das Urteil des
Bundesverfassungsgerichtes zum Maastricht-Vertrag: „Man sollte uns Deutschen die
Möglichkeit geben, erst einmal unser eigenes Haus in Ordnung zu bringen. Das oberste deutsche Gericht hat uns in der Frage des Zeitpunktes einer Währungsunion genügend Flexibilität verschafft. Auch im Interesse des ganzen Europa sollten wir also den
Plan einer Währungsunion um eine Reihe von Jahren verschieben.“
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8. Ohne agrarpolitische Flurbereinigung ist die EU-Erweiterung
nicht zu schaffen. Alte Ursachen der BSE-Krise
von Manfred E. Streit (Handelsblatt vom 23.02.2001)
Die EU leidet bis heute unter einem ordnungspolitischen Geburtsfehler der europäischen Integration – dem schon im EWG-Vertrag von 1957 festgeschriebenen Agrardirigismus.
Europa leidet, ohne dass die verantwortlichen Politiker über die wirklichen Ursachen der BSE-Krise zu klagen wagen. Die Anlässe zur Klage reichen Jahrzehnte zurück. Milch- und Weinseen, Zucker- und Getreideberge sind schon lange ärgerliche
und kostspielige Symptome eines ordnungspolitischen Geburtsfehlers der europäischen Integration.
Der Fehler heißt Gemeinsame Agrarpolitik. Er geht zurück auf einen faulen Kompromiss, geschlossen zwischen den beiden wichtigsten Gründerstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), Deutschland und Frankreich: Ein EWG-weiter Gemeinsamer Markt gegen französischen Agrardirigismus – das war der Inhalt des
politischen Tauschgeschäfts, das sich im EWG-Vertrag von 1957 manifestierte.
Damals wurde die marktwidrige Grundlage für eine systematische Überproduktion
bei Agrarerzeugnissen gelegt: Einkommenspolitik zu Gunsten der Landwirte durch
Gewährung von (überhöhten) Garantiepreisen für deren Erzeugnisse unter dem Druck
einer mächtigen Agrarlobby.
Heute überlagert und verschleiert die BSE-Krise das Überschussproblem bei Rind-
? eisch. Sie äußert sich in dem, die Tierschützer alarmierenden Skandal, dass in
Deutschland hunderttausende von Rindern – EU-weit ist von 1,7 Millionen die Rede
– vernichtet und vom Markt für Rind? eisch genommen werden müssen. Damit sollen
die Rind? eischpreise gestützt werden, die durch Kaufzurückhaltung verängstigter, auf
ihre Gesundheit bedachter Verbraucher ins Rutschen geraten sind.
Der preisdrückende Angebotsüberhang bei Rind? eisch ist Folge von Jahre zurückliegenden Entscheidungen zur Aufzucht von Rindern im Vertrauen auf die herrschenden Garantiepreise, deren Anreizwirkung durch eine Mutterkuhprämie noch verstärkt
wurde. Eine schnelle Angebotsreaktion ist wegen der langen Produktionszeiten nicht
zu erwarten. Was bleibt, ist die skandalöse Vernichtung von Rindern – ein Vorgehen,
das bei überschüssigen Nahrungsmitteln in der EU schon seit Jahrzehnten üblich ist.
Nun suchen die verantwortlichen Politiker hier und da Millionen zusammen, um
damit die Bauern für die entstandenen Verluste zu entschädigen. Statt ihnen nun auch
ihre Futtermittel zu subventionieren, wäre es nur konsequent, wenn Ansprüche auf den
Garantiefonds der EU erhoben würden. Dieser wurde eigens geschaffen, um die marktwidrige Agrarpolitik ? nanziell abzusichern.
Nur zögernd wendet sich indes die EU-Kommission dem BSE-Problem zu. Dabei
erwähnt sie genauso wenig wie die Politiker in den EU-Mitgliedsstaaten die eigentliche Ursache, die Gemeinsame Agrarpolitik. Vielmehr will Brüssel die Mittel für die
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References
Zusammenfassung
Der Band 11 der Reihe enthält im ersten Teil Reflexionen des Autors zu Themen, die in seinem in 6. Auflage 2005 erschienenen Lehrbuch zur Theorie der Wirtschaftspolitik auftreten.
Im zweiten Teil findet sich eine Reihe von Kommentaren des Autors zur Ordnungspolitik in Deutschland, die zwischen 1987 und 2008 in überregionalen Tageszeitungen erschienen sind.
Der Autor ist Professor Emeritus am Max-Planck-Institut für Ökonomik in Jena.