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6. Formelkompromisse à la Maastricht verhindern eine
gedeihliche Entwicklung Europas –
Die verdrängte Osterweiterung der EU
von Manfred E. Streit (Handelsblatt vom 09.11.1995)
Die Notwendigkeiten, die sich für die Europäische Union aus einer Erweiterung nach
Osten, aber auch nach Süden ergeben, werden zurzeit verdrängt. Der politische Blick
bleibt nach innen gerichtet. Die Aufgabe, welche man vor sich herschiebt, ist keine
geringe. Sie besteht in der Einbeziehung von zwölf und mehr Staaten und erfordert
eine Neuordnung Europas im Interesse der Prosperität, der Stabilität und der Sicherheit auf dem Kontinent.
Für diese Aufgabe kann die Union nach Maastricht kaum als Modell dienen. Ihre
Organisationsstrukturen lassen sich nicht einfach fortschreiben. Absurde Ergebnisse
hinsichtlich der Größe des Parlaments und der Kommission sowie der Zahl der of? ziellen Sprachen wären die Folge. Lähmend wirken die gemeinsamen Politiken. Die Agrarpolitik ist schon für die Union der Fünfzehn ? nanziell untragbar geworden. Eine
durch Maastricht ermöglichte, interventionistische Industriepolitik würde weitere ? nanzielle Begehrlichkeiten wecken und den Aufholprozess der Beitrittsländer behindern.
Aufholchancen würden erst recht durch eine Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik vernichtet, die den Beitrittsländern durch Harmonisierung auf hohem Niveau Standortvorteile entzöge, um Besitzstände zu konservieren. Ebenso problematisch ist die Kohäsionspolitik. Würde sie auf die Beitrittsländer ausgedehnt, wären die Nettozahler
hoffnungslos überfordert. Da alle genannten Politiken gegen den weltweiten Wettbewerb durch Protektion abgesichert werden müssten, wäre eine entwicklungshemmende Verstärkung der Festung Europa unabdingbar.
Noch gehört die Währungsunion nicht zum acquis communautaire. Umso wichtiger
ist es, vor diesem Schritt eindringlich zu warnen, und dies erst recht, wenn es um die
Einbeziehung der Transformationsländer geht. Von den bereits gegen eine Währungsunion der Union der Fünfzehn vorzubringenden Bedenken wiegt eines mit Blick auf
die Transformationsländer besonders schwer: Mit ihrem Beitritt zur Währungsunion
würden für sie reale Wechselkursänderungen ausgeschlossen, mit denen Anpassungen
im Inneren abgefedert werden könnten.
Die gesamte Anpassungslast wäre mit Lohn- und Preis? exibilität sowie mit Faktorwanderungen zu bewältigen. Der verteilungs- und sozialpolitische Sprengstoff, der in
derartigen Anpassungserfordernissen liegt, ist offenkundig. Er liesse sich nur durch ordnungs- und allokationspolitisch höchst unbefriedigende Struktur- und Regionalhilfen
etwas abbauen. Zugleich verschärfte sich aber dann für die Union das Budgetproblem.
Ein anderes Gefahrenpotential wird bereits jetzt unterschätzt: die Aufspaltung einer
Währungsunion in Insider und Outsider. Die Ausgrenzungen, die zur Zeit mit Hilfe der
Konvergenzkriterien vorgenommen werden, verursachen neben kostspieligen Wechselkursausschlägen und Verunsicherungen auf den Kapitalmärkten auch politische
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Spannungen. Sie geben einen Vorgeschmack auf das, was zu erwarten ist, wenn die
Einsicht in das integrationspolitisch Zweckmäßige weiterhin durch Visionen verdrängt
wird.
Doch auch mit einer Lockerung der Aufnahmebedingungen einer Währungsunion
wäre niemandem gedient. Hinzu kommt, dass die ? skalpolitischen Stabilitätsbedingungen für die Zeit nach Beginn einer Währungsunion nicht gesichert sind. Wenn es
überhaupt noch eines Argumentes bedurft hätte, von einer Währungsunion Abstand zu
nehmen, dann ist es die Einbeziehung der Transformationsländer in den europäischen
Integrationsprozess.
Was ist zu tun? Knapp formuliert: Weniger an Integration von oben wäre zugleich
mehr. Ein gesamteuropäischer Wirtschaftsraum wäre mit einem Sicherheitssystem zu
kombinieren. Der Wirtschaftsraum könnte sich institutionell an dem orientieren, was
mit dem Vertrag von Rom und der Rechtsprechung durch den Europäischen Gerichtshof erreichbar ist, wenngleich ohne die unselige gemeinsame Agrarpolitik. Selbst dann
bliebe in der bisherigen Union noch sehr viel zu tun.
Dem kann nicht entgegengehalten werden, das sei ein Schritt zurück. Im Gegenteil,
es ist ein Schritt in ein Europa, dessen bewundernswerte kulturelle Vielfalt sich im
Vergleich zur Union der Fünfzehn wesentlich vergrößerte. Das gilt ebenso für die faszinierenden Unterschiede in den politischen und rechtlichen Traditionen, an die auch
in einer Reihe von Transformationsländern durchaus angeknüpft werden kann. Die
sich ausfächernden Entwicklungsunterschiede sind eine Herausforderung und Chance
für alle Beteiligten.
Für diesen integrationspolitischen Quantensprung kann der Vertrag von Maastricht
wegen seiner völlig anderen Prägung keine Blaupause abgeben. Vielmehr ist eine
nüchterne Revision geboten. Dafür sind weder emotionale Durchhalteappelle geeignet
noch Schreckensvisionen von einem Europa, das in Handelskriege, Abwertungswettläufe und Protektionismus zurückfällt. Wer zu solchen Diskussionsmitteln greift, suggeriert, dass ein Verzicht auf einzelne Vertragselemente – insbesondere die Währungsunion- eine Au? ösung des gesamten Vertragswerkes bewirken würde. Und er unterschlägt, dass die Union und ihre Mitgliedstaaten Verantwortung im Rahmen der
internationalen Wirtschafts- und Währungsordnung übernommen haben, der sie sich
nicht schadlos entziehen können.
Die Union kann bei der Neuordnung Europas nicht abseits stehen, um das Erreichte zu bewahren. Sie muss sich auf Ordnungsregeln einigen, die es allen erlauben, die
lebendige Vielfalt des alten Kontinents wohlstandserhöhend zu nutzen. Solche Regeln
sind im Vertrag von Rom klarer formuliert als im Vertrag von Maastricht. Eine Abkehr
von dessen Formelkompromissen und von der Ausweitung des Interventionsmandats
für die Union bedeutet keineswegs die Reduktion auf eine bloße Freihandelszone mit
einigen institutionellen Randverzierungen.
Mit einer solchen Argumentation wird nicht nur das vor Maastricht Erreichte geleugnet. Auch die Notwendigkeit von allgemeinen Regeln, um Vielfalt zu ermöglichen, wird verkannt. Letztlich führt dies zu einer Unterdrückung des Systemwettbewerbs zwischen Staaten und dessen kontrollierende Wirkung auf politisches Handeln.
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7. Bei der Haushaltskonsolidierung muss das deutsche
Konsensmodell scheitern – Paris und Bonn werden die
Maastricht-Kriterien wohl kaum strikt erfüllen.
Die Europäische Währungsunion steht vor der Verschiebung.
von Manfred E. Streit (Handelsblatt vom 04.09.1996)
Bei den jüngsten deutsch-französischen Konsultationen hat Bundeskanzler Kohl die
Absicht bekräftigt, am Zeitplan und an den Konvergenzkriterien für die Europäische
Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU) „ohne Wenn und Aber“ festzuhalten. In
den gemeinsamen Erklärungen wurden Visionen für das nächste Jahrtausend bemüht.
Die Haushaltsnöte, in denen sich die deutsche und die französische Regierung be? nden, konnten durch die wirtschaftspolitischen Wunschbilder aber nur mühsam überdeckt werden.
Dem Kanzler ist wohl bewusst, dass er gegenüber der deutschen Öffentlichkeit mit
einer strikten Einhaltung der Konvergenzkriterien im Wort steht. Dies kommt dem
Verzicht gleich, hinsichtlich der Kriterien Interpretationsspielräume zu nutzen, die der
Vertrag von Maastricht durchaus gewährt. Den französischen Partnern dürfte diese
Festlegung des Kanzlers nicht unbekannt sein. Die gemeinsame Bestandsaufnahme
müsste eigentlich ergeben haben, dass nur die Vertagung der EWWU bleibt. Denn es
ist abzusehen, dass Frankreich, aber auch Deutschland die ? skalischen Konvergenzkriterien bei strikter Auslegung nicht erfüllen werden. Die EWWU setzt eine Haushaltsdisziplin voraus, die selbst dem traditionell stabilitätsorientierten Deutschland
größte Schwierigkeiten bereitet. Es ist eine höchst undankbare Aufgabe, wohlfahrtsstaatliche Privilegien für mächtige Gruppen mit dem Argument der Haushaltskonsolidierung im Interesse der EWWU abzuschaffen.
In Frankreich haben bisherige und angekündigte Streiks einer Konsolidierung des
Budgets politische Grenzen aufgezeigt. In Deutschland zeigt die Diskussion um das
Sparpaket, wie klein der politische Spielraum für notwendige Einsparungen ist. Die
Interessengruppen haben sich inzwischen tief eingegraben und schrecken selbst vor
groben Entstellungen nicht zurück, um bescheidene Einsparungen und Deregulierungen zu verhindern.
Die Opposition sucht politische Vorteile aus der Unzufriedenheit von Reformbetroffenen zu ziehen. Bemühungen der Bundesregierung, aus dieser Politikfalle durch
eine konzertierte Aktion („Bündnis für Arbeit“) herauszukommen, sind misslungen.
Das deutsche Konsensmodell musste scheitern, weil sich die Unterhändler nicht – wie
sonst üblich – zu Lasten unbeteiligter Dritter einigen konnten. Eine höhere Besteuerung war mit dem Befund zum Standort Deutschland unvereinbar. Der Ausweg in eine
höhere Verschuldung verbot sich, um Glaubwürdigkeit in Sachen EWWU zu wahren.
Eine Lösung des Konsolidierungsproblems ist noch nicht in Sicht, wohl aber das Verfehlen der ? skalischen Konvergenzkriterien.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der Band 11 der Reihe enthält im ersten Teil Reflexionen des Autors zu Themen, die in seinem in 6. Auflage 2005 erschienenen Lehrbuch zur Theorie der Wirtschaftspolitik auftreten.
Im zweiten Teil findet sich eine Reihe von Kommentaren des Autors zur Ordnungspolitik in Deutschland, die zwischen 1987 und 2008 in überregionalen Tageszeitungen erschienen sind.
Der Autor ist Professor Emeritus am Max-Planck-Institut für Ökonomik in Jena.