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3. Aufbruch in das Unplanbare – Die Marktwirtschaft ist kein
vorausberechenbares Räderwerk. Ein Wettbewerbssystem
lässt sich nicht im politischen Handbetrieb steuern.
von Manfred E. Streit (F.A.Z. vom 18.04.1990)
Jeder möchte gerne wissen, was der nächste Tag bringt. Der Wunsch, die Zukunft
möglichst im Detail zu kennen, ist dann besonders verständlich, wenn es gilt, den Aufbruch in eine neue Lebenssituation zu wagen – in eine Zukunft, die nicht als Fortschreibung der Gegenwart gedacht werden kann. Es ist keineswegs nur die Gewöhnung an die vorgebliche Kalkulierbarkeit der Planwirtschaft, die die Landsleute in der
DDR immer wieder fragen lässt: wo werde ich arbeiten, was werde ich verdienen, wie
hoch wird meine Rente sein, was werde ich für die Wohnung zahlen müssen? Solche
Fragen werden auch im Westen gestellt. Und es ? nden sich immer wieder Propheten
und Politiker, die den Eindruck erwecken, als könnten sie die Antworten geben. Erweisen sich Auskünfte als falsch oder Versprechen als unerfüllbar, dann wird das
Misstrauen, das sich eigentlich gegen die anmaßenden Propheten richten müsste, auf
die Marktwirtschaft gelenkt. Persönliche Unsicherheit macht aggressiv, wenn der Eindruck entsteht, unvermeidliche Ungewissheit sei die Folge absichtsvoller Täuschung.
Manfred Streit, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Freiburg, skizziert die Beratungskompetenz der Ökonomen und die Vorhersehbarkeit von Ergebnissen eines Marktprozesses. Es führt keine utopische Hoffnung an der Erkenntnis vorbei, dass der Weg von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft ein Aufbruch ins Unplanbare ist.
Die bisherige wirtschaftspolitische Diskussion des Systemwechsels in der DDR hat
gezeigt, wie wenig und zugleich wie viel Ökonomen dazu zu sagen haben. Wenig Verlässliches kann geboten werden, wenn es darum geht, die geldwirtschaftlichen Folgen
einer Währungsübernahme genauer abzuschätzen, die Belastung durch strukturelle
Arbeitslosigkeit vorwegzunehmen, die Kosten der unumgänglichen Infrastrukturinvestitionen zu periodisieren oder die Geschwindigkeit anzugeben, auf die bei der Verringerung des Wohlstandsgefälles zur Bundesrepublik gehofft werden kann.
Dabei spielt der Umstand, dass noch nicht einmal eine verlässliche Bestandsaufnahme für die DDR möglich ist, weil ihr Rechnungswesen trotz sozialistischer Planung weit hinter den statistischen Standards westlicher Marktwirtschaften zurückbleibt, nur eine untergeordnete Rolle. Auch bei der Frage „Abrupter Systemwechsel
oder gleitender Übergang?“ vermochte niemand den Königsweg überzeugend zu identi? zieren.
Demgegenüber sind die Aussagen darüber, was ordnungspolitisch unerlässlich ist,
wesentlich dezidierter. Das liegt nicht nur daran, dass Erfahrungen im Westen als Anhaltspunkte zur Verfügung stehen. Und es ist auch nicht allein durch die Wiederentdeckung ordnungstheoretischer Erkenntnisse zu erklären. Ausschlaggebend ist vielmehr
etwas anderes: Der Ordnungsrahmen für eine funktionsfähige Marktwirtschaft ist an-
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gebbar. Von diesem Rahmen kann aber nicht mit Hilfe allgemeiner und quanti? zierbarer Gesetzmäßigkeiten auf die zu erwartenden konkreten ökonomischen Ergebnisse
im Zeitablauf geschlossen werden.
Es ist die mangelnde Planbarkeit des marktwirtschaftlichen Geschehens, die Irritationen auslöst. Mangelnde Planbarkeit und damit auch Kontrollierbarkeit der Ergebnisse eines Systemwechsels kollidiert mit dem Sicherheitsstreben vieler Bürger. Dementsprechend schwer fällt es Politikern, auch bei Einsicht in diese Zusammenhänge
die Zusicherung der Gestaltbarkeit des ökonomischen Geschehens zurückzunehmen.
Mit dem Blick .auf die begrenzten Möglichkeiten der Ökonomen wird auch beklagt, dass es zwar hinreichende wissenschaftliche Erkenntnisse über die Funktionsweise der unterscheidbaren Wirtschaftsordnungen gebe, aber Vergleichbares zum Systemwechsel fehle. Hierin kommt ein doppeltes Missverständnis zum Ausdruck. Das
erste wurde bereits angesprochen: Der Wechsel zu einer Marktwirtschaft kann aufgrund der zentralen Eigenschaften dieser Ordnung nicht in seinen Ergebnissen im Einzelnen vorweggenommen werden.
Das zweite Missverständnis schleicht sich leicht ein. wenn der kategoriale Unterschied zwischen Interventionen in eine bestehende Marktwirtschaft und dem Übergang zu ihr nicht genügend bedacht wird. Mit den Begriffen von Karl Raimund Popper
könnte Wirtschaftspolitik in einer bestehenden Marktwirtschaft als Politik schrittweiser Reformen (social piecemeal engineering) klassi? ziert werden. Das ist zwar im
Hinblick auf die vielen marktwidrigen Interventionen ein extremer Euphemismus. Jedoch dürfte damit grundsätzlich die korrekte Kategorie benannt sein.
Demgegenüber entspräche die Auffassung, ein Systemwechsel sei in seinen Folgen
planbar, dem, was Popper als utopische Sozialtechnik kritisiert. Zu vieles muss zugleich
geändert werden, als dass die Folgen von Änderungen im Einzelnen absehbar sein
könnten. Auch der Rückgriff auf Erfahrungen mit Systemwechseln wie dem von 1948
auf dem Gebiet der späteren Bundesrepublik vermag nur begrenzten Aufschluss darüber
zu geben, was mit welchen Folgen wann getan werden sollte. Diese und vergleichbare
Situationen sind zwar für politische Entscheidungsträger einmalige Gelegenheiten für
Taten von historischem Rang. Die Entscheidung basiert jedoch mehr auf Intuition und
Mut, sich zu entscheiden, als auf kühlem Abwägen von Vor- und Nachteilen.
Der Systemwechsel ist die Stunde der Unternehmer
Der Systemwechsel ist die Stunde von Unternehmern. Das gilt in einem übertra genen
Sinne auch für politisch Handelnde. Erst recht und unmittelbar trifft es für den wirtschaftenden Bürger zu. Initiative, Fin digkeit und Improvisationskunst sind in dieser
Situation in besonderem Maße gefragt, und zwar bei Unternehmensleitungen, Arbeitnehmern und Konsumenten.
Wo diese Handlungserfordernisse situationsbedingt vorherrschen, sind die Handlungsfolgen notwendigerweise besonders schwer vorhersehbar. Auch aus dieser Perspektive werden die Grenzen ökonomischer Analysen deutlich. Unternehmerisches
Handeln kann gerade wegen dieser Erfordernisse nicht an dem üblichen Optimierungsdenken orientiert werden.
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Unternehmerisches Handeln setzt voraus, dass das ökonomische System der DDR
vom Wasserkopf zentraler Planbürokratie auf die Füße eigenverantwortlich wirtschaftender Bürger gestellt wird. Dazu müssen die wirtschaftlichen Freiheitsrechte gewährt
und garantiert werden. Eigenverantwortung setzt aber auch voraus, dass Eigentum an
Produktionsmitteln erworben, riskiert und in seiner Verwendung durch den Wettbewerbsprozess kontrolliert werden kann.
Die besten ordnungspolitischen Voraussetzungen nützen jedoch nichts, wenn es an
der für eine prosperierende Marktwirtschaft unerlässlichen Privatinitiative fehlt. Die
systemnotwendige Wirtschaftsgesinnung (Werner Sombart) könnte in der DDR zum
Engpassfaktor für einen ökonomischen Aufholprozess auf breiter Front werden. Mehr
als vier Jahrzehnte staatlicher Bevormundung und systematischer Unterdrückung individualistischer Lebensstile sind vermutlich nicht folgenlos geblieben.
Zum Optimismus gibt jedoch nicht nur das Signal für einen möglichst zügigen Systemwechsel Anlass, das die Bürger der DDR am 18. März gesetzt haben. Ökonomisch
dürfte zweierlei bedeutsam sein: Zum einen hat der Zusammenbruch des sozialistischen Systems derart offenkundige Investitionschancen entstehen lassen, dass die
durchschnittlichen Anforderungen an unternehmerische Qualitäten im Vergleich zu
ausgereiften Marktwirtschaften eher geringer sein können. Entwicklungstheoretisch
kann insofern auf den Vorteil vertraut werden, ein Nachzügler zu sein (Albert O.
Hirschman). Zum anderen ist inzwischen unbestritten, dass die DDR ein Direktinvestitionsland der ersten Güteklasse werden kann.
Der letzte Test für die Bereitschaft, den konsequenten Übergang zur Marktwirtschaft zu wagen, steht allerdings noch aus, Ein wesentlicher Unterschied zur Situation
in der späteren Bundesrepublik im Jahre 1948 darf nämlich nicht übersehen werden.
Damals war der „Schleier der Unwissenheit“ (John Rawls) vor den nach der Wirtschafts- und Währungsreform erreichbaren sozioökonomischen Positionen für die
meisten Bürger sehr dicht. Ferner konnte es für viele kaum noch schlimmer kommen.
Beides dürfte wesentlich mit erklären, warum das Versprechen breite politische Unterstützung fand, „Wohlstand für alle“ mit Hilfe einer marktwirtschaftlichen Ordnungspolitik zu schaffen.
Demgegenüber erfordert der Systemwechsel bei den aktiven Bürgern der DDR einen riskanten Neubeginn aus gefestigten, wenn auch bescheidenen sozioökonomischen Positionen heraus. Das wenige kann dabei durchaus Bremskraft entfalten. Aus
dem zum Teil schmerzlich erlebten Wohlstandsgefälle gegenüber der Bundesrepublik
kann aber auch ein mächtiger Anreiz entstehen, den Versuch zu machen, aus eigener
Kraft aufzuholen. Wie stark dieser Anreiz sein kann, demonstrierten diejenigen, die in
die Bundesrepublik abwanderten und dabei erhebliche Kosten der -Mobilität, auch
solche psychischer und gesellschaftlicher Art, in Kauf nahmen.
Erstaunlich ist dabei, wie gering diese Kosten häu? g in der Bundesrepublik eingeschätzt werden, obgleich gerade dort mangelnde räumliche und beru? iche Mobilität
immer wieder dazu führt, dass Beharrungsansprüche an die Struktur- und Regionalpolitik gestellt werden. Jedenfalls dürfte die Vermutung wenig realistisch sein, die bisher
gewährten Hilfen an Übersiedler stellten einen bedeutsamen Anreiz dar. Sie nehmen
sich erst recht bescheiden aus, gemessen an dem, was erwerbsfähige Übersiedler an
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Differenz in dem mittel- und langfristig erzielbaren Einkommen aufgrund des bestehenden Gefälles zur DDR erwarten dürften.
Bei den nicht aktiven Bürgern der DDR und bei den in ihrer Leistungsfähigkeit Beeinträchtigten dürfte sich leicht ein Gefühl des Ausgeliefertseins einstellen. Jedoch
heißt Übernahme der Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik auch Angleichung des
Systems der sozialen Sicherung. Soweit die damit entstehenden) Leistungsansprüche
nicht sofort durch Beitragsaufkommen auf dem Gebiet der DDR gedeckt werden können, bleibt nur die Übernahme der Lasten durch die Bundesrepublik. Jedoch darf die
Finanzierungswirkung für das System der sozialen Sicherung nicht übersehen werden,
die sich aus einem kräftigen Aufschwung in der DDR sowie den daraus resultierenden
Impulsen für die Wirtschaft der Bundesrepublik ergeben wird.
Wenn es Parallelen zur Währungsreform von 1948 gibt, dann ist eine davon im politischen Streit um die sozialen Folgen zu suchen. Die Parallele lässt sich kaum besser
verdeutlichen als mit entsprechenden Ausführungen Ludwig Erhards, als er am 21.
April 1948 vor der Vollversammlung des Wirtschaftsrates des Vereinigten Wirtschaftsgebietes für die Währungsreform warb: „Diese nach landläu? ger Auffassung harte
Lösung ist nach meiner Überzeugung zugleich die sozialste, wenn sie nur für die nicht
arbeits- oder einsatzfähigen Menschen die notwendigen sozialen Hilfen vorsieht. Es
ist kaum mehr als ein Irrtum, sondern vielmehr als eine bewusste Irreführung zu bezeichnen, wenn in deutlich agitatorischer Absicht dem Volke vorzugaukeln versucht
wird, als sollte die Währungsreform dazu dienen, die Armen noch ärmer, die Reichen
aber noch reicher werden zu lassen.“
Die Hypothek der sozialen Vorgaben
Ganz im Sinne dieser Erhardschen Kritik droht gegenwärtig das ohnehin vieldeutige
Prinzip der sozialen Gerechtigkeit zu einer Blockadeparole zu verkommen. Die Deklamation des Prinzips lässt sich nur zu leicht dazu missbrauchen, einseitig die in ihrem Ausmaß noch wenig vorhersehbaren, zum Teil vorübergehenden Belastungen des
Systems der sozialen Sicherung und der sozialstaatlichen Einrichtungen in der Bundesrepublik hervorzuheben.
Ferner kann es dazu dienen, in der DDR die zuvor beschriebene Bremskraft des
wenigen zu verstärken. Die dann mögliche Blockadewirkung wäre eine doppelte. Geschwächt würde nicht nur der Mut zum Aufbruch in der DDR, sondern auch die Solidarität in der Bundesrepublik, die sonst mit Hilfe des gleichen Prinzips so oft
beschworen wird. Einschneidende gesellschaftliche Veränderungen wie ein Systemwechsel sollten wegen der ohnedies verunsichernden Unwägbarkeiten am allerwenigsten für politisches Taktieren missbraucht werden.
Allerdings ist die Versuchung groß, offensichtliche Anpassungsschwierigkeiten in
der Bundesrepublik politisch zu verwerten. Das gilt vor allem für den Wohnungs- und
Arbeitsmarkt. Beide Märkte sind in hohem Maße mit sozialpolitischen Gründen reguliert worden. Kündigungsschutz, Mieten und Arbeitsbedingungen werden vor allem
im Interesse derjenigen gestaltet, die eine Wohnung beziehungsweise einen Arbeitsplatz haben. Das bedeutet notwendig, dass die Marktchancen derjenigen geschwächt
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werden, die eine Wohnung beziehungsweise einen Arbeitsplatz suchen. Als Folge davon haben Staat und Tarifvertragsparteien gegenüber diesem Personenkreis uneingestande P? ichten übernommen, deren Wahrnehmung ihnen große Schwierigkeiten bereitet. Die Problemgruppen bei den Arbeitslosen und der Mangel an Sozialwohnungen
beziehungsweise ihre Fehlbelegung signalisieren dies überdeutlich.
Hinzu kommt, dass der Wohnungsmarkt durch relativ lange Ausreifungszeiten gekennzeichnet ist. Schon das allein bedeutet entsprechend lange Reaktionszeiten auf
eine schockartig und unvorhersehbar gestiegene Nachfrage. Schließlich vermischen
sich negative Folgen sozialstaatlicher Regulierung und technisch-ökonomisch bedingte Reaktionsverzögerungen noch mit den Problemen einer raumordnungspolitisch unbewältigten Ballung.
Von den beiden kritisch belasteten Märkten konnte der Arbeitsmarkt noch relativ
elastisch reagieren. Hier trafen vor allem die quali? zierten und jüngeren Übersiedler
auf ein expandierendes Arbeitsangebot. Demgegenüber musste sich auf dem Wohnungsmarkt der ohnehin gestiegene Nachfrageüberhang weiter vergrößern. Geschlossen wurden die Augen vor den begrenzten Baukapazitäten, der kräftig gestiegenen
Baunachfrage und vor Kapitalmärkten, die ohnehin schon durch eine staatliche Nettokreditaufnahme belastet sind, welche mit der Wirtschaftslage und den stark steigenden
Steuereinnahmen bislang schwer zu vereinbaren ist. Auf diese Weise wird die private
Bautätigkeit zins- und preissteigernd zurückgedrängt. Der Nettoeffekt hinsichtlich des
erwartbaren zusätzlichen Wohnungsangebots dürfte zumindest fraglich sein.
Die wohnungswirtschaftlichen Probleme der Bundesrepublik sind jedoch weniger
als bescheiden, wenn sie an denen der DDR gemessen werden. Gleichwohl ist bemerkenswert, dass es durchaus Parallelen gibt; denn zu den Faktoren, die die Wohnungsmisere in der DDR erklären können, gehören neben dem Versagen der Kommandowirtschaft auch sozialpolitisch motivierte Fehlentscheidungen.
Welche Folgen zum Beispiel eine Beeinträchtigung der Reinvestition in Wohnungsbestände durch Höchstmieten haben kann, wird im Falle privater Wohnungsbauten in
der DDR drastisch demonstriert. Für die zukünftige Wohnungsmarktpolitik auf dem
Gebiet der DDR sind in jedem Fall die Voraussetzungen besonders ungünstig. Die
dringende Modernisierung eines heruntergewirtschafteten Bestandes, sozialpolitische
Vorgaben und berechtigte Interessen von Eigentümern stellen eine Hypothek dar, die
in erster Linie von zukünftigen staatlichen Budgets zu tragen sein wird.
Diese und andere Belastungen sind jedoch ? nanzierbar, wenn der wirtschaftliche
Aufbruch gelingt. Er setzt Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft auf dem Gebiet der
DDR, aber auch – und das wird gern übersehen – freien Wettbewerb voraus. Zu den
Bestimmungsgründen der Wettbewerbsfähigkeit gehört eine moderne Infrastruktur.
Inwieweit ihr Aufbau der Privatinitiative überlassen werden soll, ist eine ordnungspolitisch bedeutsame Frage.
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Die Produktivität als Maß der Löhne
Sie sollte nicht mit dem Blick auf institutionelle Vorgaben in der Bundesrepublik entschieden werden, sondern unter Berücksichtigung der Erkenntnisse aus der Diskussion über Deregulierung. Mehr Privatinitiative auch auf diesem Gebiet könnte helfen,
den Aufbau zu beschleunigen. In jedem Fall werden mit ihm bereits Beschäftigungsund Einkommenserzielungschancen eröffnet, die das Abwanderungsproblem verringern dürften.
In der Diskussion des Angebots einer Währungs- und Wirtschaftsunion durch die
Bundesregierung wird in besonderem Maße ein mögliches Dilemma hervorgehoben.
Eine wettbewerbsorientierte Lohnkostenentwicklung in der DDR könnte von der Einkommensentwicklung abweichen, die geeignet wäre, einer weiteren Auszehrung durch
Abwanderung entgegenzuwirken. Dabei wird leicht in statisches Denken verfallen.
Entscheidend ist nicht nur das Ausgangsniveau der Löhne. Es wird nach allen Indikatoren beträchtlich unter dem der Bundesrepublik liegen müssen. Vielmehr kommt es
darauf an, wie schnell Produktivitätsfortschritte erzielt werden können, die unter Wahrung der Wettbewerbsposition in Lohnerhöhungen weitergegeben werden können.
Bei der Einschätzung der Produktivitätsentwicklung ist davon auszugehen, dass
Bereichen, in denen durch Engpassmodernisierung und Neugründungen schnell Produktivitätsschübe erschlossen werden können, solche gegenüberstehen werden, in denen der Produktivitätsfortschritt zunächst langsamer einsetzt. Das bedeutet einerseits,
dass der Bedarf an Lohndifferenzierung in der DDR wesentlich größer sein dürfte als
das, was die Gewerkschaften in der Bundesrepublik zu tolerieren bereit sind.
Zum anderen dürften kräftige, produktivitätsorientierte Einkommensschübe in einzelnen Bereichen Signale der Hoffnung setzen, die einer weiteren Abwanderung entgegenwirken. Gefährdet werden könnte diese Entwicklung allerdings von einem
Lohnkostendruck durch die Gewerkschaften, die sich an den Löhnen in der Bundesrepublik orientieren. Aber schon ein Umstellungskurs für die Löhne, bei dem das Erfordernis der Wettbewerbsfähigkeit hinter sozialpolitische Wünsche zurückzutreten
hätte, würde den wirtschaftlichen Neubeginn schwer belasten.
Hinsichtlich des Wettbewerbs als Motor eines schnellen Aufbruchs zeichnen sich
auch Gefahren ab, denen vorgebeugt werden sollte. Zwei davon fanden bereits zumindest begrenzte Aufmerksamkeit: die westdeutsche Umarmung aus wettbewerbspolitischen Ausnahmebereichen heraus sowie die Af? nität von Konzern- und Kombinatsbürokratien.
Im ersten Fall geht es darum, dass es an wünschenswertem Wettbewerb des Auslandes bei Beteiligungen an zur Zeit noch staatlichen Monopolunternehmen der DDR
fehlt. In Bereichen wie der Versicherungswirtschaft scheinen Unternehmen aus der
Bundesrepublik einen Akquisitionsvorteil zu haben, der sich aus der bisherigen Beschränkung des Auslandswettbewerbs in diesem Sektor ergibt. Im zweiten Fall geht es
darum, dass die Kombinatsleitungen der DDR eine vorwettbewerbliche Einigung mit
Konzernen der Bundesrepublik suchen könnten. Damit könnte die Möglichkeit einer
wettbewerbsfördernden Ent? echtung nicht zuletzt zugunsten von früheren Eigentümern zumindest präjudiziert werden.
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Wettbewerbspolitisch bedeutsam ist in beiden Fällen, dass es hier nicht um Aktivitäten im Rahmen laufender Marktprozesse geht. Vielmehr sind die Ausgangsbedingungen für Wettbewerb vor allem eigentumsrechtlich erst zu schaffen. Hier kann nur
auf eine selbstbewusste Wettbewerbspolitik der DDR und da nach auf ein konsequentes Vorgehen der deutschen und europäischen Instanzen auch mit dem Blick auf den
gemeinsamen Binnenmarkt gehofft werden.
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4. Am Anfang steht die Freiheit – Das Credo der Freiburger
Schule gibt Orientierungen für die neunziger Jahre
von Manfred E. Streit (F.A.Z. vom 12.01.1991)
Die Ökonomen feiern: am 17. Januar wird in einem Festakt in der Albert-Ludwigs-
Universität in Freiburg des hundertsten Geburtstages von Walter Eucken gedacht. In
den vierziger Jahren war Eucken Mitbegründer und herausragender Kopf der „Freiburger Schule“ der Nationalökonomie. Die Lehre dieser Schule ist innerhalb der
deutschsprachigen Ökonomie als „Ordnungspolitik“ bekannt geworden: auf den
Grundlagen des Eigentums und des Vertragsrechts baut sich eine Wirtschaftsordnung
auf, an deren gedachtem Anfang die Freiheit steht; gestützt auf das Privatrecht, gestaltet die Gesellschaft sich selbst; der Staat kommt mit dem öffentlichen Recht dort ins
Spiel, wo es gilt, die Freiheit des einen vor der Inanspruchnahme der Freiheit des anderen zu schützen. Das in der praktischen Politik so erfolgreiche Konzept der Sozialen
Marktwirtschaft beruft sich auf Eucken, ergänzt aber den Freiburger Entwurf um das
– eigentlich fremde – Element des sozialen Ausgleichs durch den Staat. Manfred E.
Streit, Professor für Volkswirtschaftslehre in Freiburg, erläutert die Bedeutung der
Lehre Euckens für die wirtschaftspolitischen Herausforderungen dieser Jahre und für
die Diskussion über die Aufnahme wirtschaftlich bedeutsamer Staatsziele in die Verfassung.
Nach mehr als vier Jahrzehnten ist die Frage der Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft auf dramatische Weise wieder an die Spitze der politischen Agenda gerückt.
Zwar drängten sich im Verlauf der deutschen Vereinigung Verteilungsfragen in den
Vordergrund. Gleichwohl blieb das Denken in Ordnungen zentrales Erfordernis. Dabei
stellten die beiden Verträge zur Vereinigung eine besondere Herausforderung dar. Hier
ging es um mehr als Umtauschkurse und sozialverträgliche Übergangsregeln, von denen die Schlagzeilen meist beherrscht wurden. Es ging darum, einer vierzig Jahre bevormundeten Bevölkerung und den für sie Verhandelnden die Möglichkeiten und
Grenzen zu vermitteln, innerhalb derer ihren Hoffnungen und Befürchtungen Rechnung getragen werden konnte. Dabei war vor allem Ordnungspolitik gefragt.
Ob diese Vermittlung gelungen ist, kann bezweifelt werden; denn sowohl für die
po litische Funktionselite und die Medienvertreter als auch für die Bürger der alten
Bundesrepublik insgesamt dürfte ihre Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nach
ebenfalls vierzig Jahren in erster Linie unre? ektierte Alltagserfahrung sein. Gestaltet
wird sie nach dem großen Wurf zu Beginn nur noch in kleineren, oft unbemerkten
Schritten. Über diesen durchaus normalen Sachverhalt sollte der in? atorische Gebrauch des Wortes „ordnungspolitisch“ im wirtschaftspolitischen Tagesgeschäft nicht
hinwegtäuschen.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der Band 11 der Reihe enthält im ersten Teil Reflexionen des Autors zu Themen, die in seinem in 6. Auflage 2005 erschienenen Lehrbuch zur Theorie der Wirtschaftspolitik auftreten.
Im zweiten Teil findet sich eine Reihe von Kommentaren des Autors zur Ordnungspolitik in Deutschland, die zwischen 1987 und 2008 in überregionalen Tageszeitungen erschienen sind.
Der Autor ist Professor Emeritus am Max-Planck-Institut für Ökonomik in Jena.