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A2. Stabilisierung
6. Konjunktur: Ein schillerndes unzugängliches Phänomen
Ansatzpunkt für die vorangestellten Begründungen eines wirtschaftspolitischen Handlungsbedarfs (Abschn. 4.1)waren mittelfristige Sachwankungen in einer Reihe güterund geldwirtschaftlicher statistischer Aggregate, die mit der Industrialisierung beobachtet und deren vermutetes Muster als Konjunktur gedeutet wird. Die Suche nach
ökonomischen Erklärungen für dieses Muster war erfolglos. Es musste eingeräumt
werden, dass es eine überzeugende, empirisch bewährte Erklärung dessen nicht gibt,
was als Konjunkturgeschehen gilt. Dennoch wird in der wirtschaftspolitischen Diskussion wiederholt so getan, als existierte dieses Muster tatsächlich. Veränderungen in
statistischen Aggregaten wie Sozialprodukt, Beschäftigung Sozialversicherungsp? ichtiger, Auftragseingang bei der Industrie werden mit Begriffen bedacht, die konjunkturtheoretischen Vorstellungen entlehnt sind, wie z.B. Aufschwung, Abschwung, Rezession, Hochkonjunktur. Die Fixierung auf Symptome eines unbekannten und unfasslichen Phänomens erinnert sehr an ein „Grinsen ohne Katze“ in Anlehnung an Lewis
Carroll’s „Alice im Wunderland“. Wenn es dennoch zu als konjunkturpolitisch deklarierten Aktivitäten kommt, so dürfte dies politisch ökonomisch erklärbar sein. Das
Phänomen und seine statistischen Symptome sowie ein verbreiteter Glaube daran, der
durch die Große Depression in der Zwischenkriegszeit des vergangenen Jahrhunderts,
aber noch durch Erfahrungen in den beiden ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik
Deutschland und deren konjunkturelle Deutung geprägt ist, bewirkt die Unterstützung
von binnenwirtschaftlichem konjunkturpolitischem Aktionismus. Die stabilisierungspolitische Fixierung in der Folge des Stabilitäts-und Wachstumsgesetzes von 1967
dürfte auch erklären, warum die Beschäftigungsprobleme der 80iger und 90iger Jahre
des vergangenen Jahrhunderts in Deutschland stabilisierungspolitisch fehlgedeutet
und die Fernwirkungen früherer wirtschafts- und sozialpolitischer Fehlleistungen
übersehen wurden, die nunmehr Gegenstände mühsamer, politisch wenig einträglicher
Reformen sind. Was verwundert, ist, dass die konjunkturpolitischen Begrif? ichkeiten
weiterhin die laufende Diskussion des ökonomischen Geschehens dominieren. So
bleibt es beim „Grinsen ohne Katze“: „Well, I’ve often seen a cat without a grin, but
a grin without a cat. It’s the most curious thing I ever saw in all my life.”
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Literatur
Haberler, G. v. (1956), Bemerkungen zum gegenwärtigen Stand der Konjunkturtheorie, in: ders.
Prosperität und Depression – Eine theoretische Untersuchung der Konjunkturbewegung, Tübingen: Mohr Siebeck, S. 535-549.
Haberler, G. v. (1975), Wirtschaftswachstum und Stabilität, Wirtschaft und Wirtschaftpolitik im
Wandel, Zürich: Verlag Moderne Industrie, insbes. Kap. 3.
Leijonhufvud, A. (1981), Information and Coordination – Essays in Macroeconomic Theory,
New-York, Oxford, Oxford University Press.
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A3. Verteilung
7. Verteilungsprobleme – dubiose wirtschaftspolitische Anlässe
Unterschiede zwischen persönlichen Markteinkommen und die damit verbundenen
Unterschiede zwischen sozioökonomischen Positionen von Individuen und Gruppen
sind immer wieder Anlässe für politische Eingriffe mit dem Ziel der Angleichung, begründet mit klärungsbedürftigen Gerechtigkeitsvorstellungen. Die politische Zustimmung, auf die solche Interventionen stoßen, dürfte auf einem Motiv beruhen, welches
sich kon? iktträchtig durch die Geschichte der Menschheit zieht, dem Neid. Selbst geringe Unterschiede zwischen Markteinkommen lösen ihn aus. Nur wenig überzeugend
wird er mit dem Hinweis auf extrem niedrige Einkommen und damit verbundene Armut relativiert, wenn nicht bemäntelt.
Ein Angleichungsversuch, wie geartet auch immer, kann erst wirksam sein, wenn
die ursachentherapeutische Frage beantwortet wurde, wie es zu beobachtbaren Einkommensunterschieden überhaupt gekommen ist. Wie dargelegt (Abschn. 5.1.1), wurde das in einer Periode erzielte Markteinkommen eines Individuums von vielen anderen Individuen mitbestimmt, die aus Selbstinteresse bemüht waren, den ökonomischen
Umständen Rechnung zu tragen, die sie für ihr Wirtschaften als relevant ansahen und
die nur sie kennen konnten.
Die so entstandenen Einkommen sind transitorische Teilergebnisse einer Handelnsordnung (HAYEK 1967/2003), die sich aus dem Zusammenwirken vieler Marktteilnehmer und deren Transaktionen unter wandelbaren Bedingungen ergibt. Als solche
sind sie ebenso wenig endgültig wie die Umstände, aus denen sie hervorgingen. Jedoch unterscheiden sie sich wesentlich von Einkommen in einer geplanten Ordnung
oder Organisation. Dort gehen sie aus der Verteilung des Organisationsertrags unter
den Mitgliedern der Organisation durch die Organisationsspitze hervor. Insofern ist es
dubios, wenn im Falle einer marktwirtschaftlichen oder ungeplanten Ordnung eine
Verteilung von Einkommen thematisiert wird. Zumindest liegt dem eine falsche Vorstellung von beiden Arten der Ordnung zu Grunde (STREIT, 2006a).
Wie bereits betont, muss bei verteilungspolitischen Interventionen zunächst die ursachentherapeutische Frage nach Gesetzmäßigkeiten der Entstehung von Unterschieden zwischen persönlichen Markteinkommen beantwortet werden. In einem marktwirtschaftlichen System, das komplex ist, weil viele verschiedene Akteure durch
Transaktionen zusammenwirken und das zudem auch offen ist, weil die Akteure einfallsreich und damit überraschend handeln können, ein solches System kann nicht mit
Ursache- Wirkungsbeziehungen oder Kausalitäten abgebildet werden (STREIT,
1998/2001, 141), die Variable enthalten, welche als Instrumente zur Steuerung nutzbar
sind. Deshalb fehlt es auch an Ansatzpunkten für Interventionen in verteilungspolitischer Absicht.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der Band 11 der Reihe enthält im ersten Teil Reflexionen des Autors zu Themen, die in seinem in 6. Auflage 2005 erschienenen Lehrbuch zur Theorie der Wirtschaftspolitik auftreten.
Im zweiten Teil findet sich eine Reihe von Kommentaren des Autors zur Ordnungspolitik in Deutschland, die zwischen 1987 und 2008 in überregionalen Tageszeitungen erschienen sind.
Der Autor ist Professor Emeritus am Max-Planck-Institut für Ökonomik in Jena.