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4. Der Rechtsstaat – ein vergessenes Ideal
Der Rechtsstaat gilt als „Ideal der liberalen Bewegung“ (HAYEK 1971/2005, S. 274).
Häu? g wird er auch mit Begriffen verbunden wie „Herrschaft des Gesetzes“ (rule of
law) und „Regierung unter dem Gesetz“ (government under the law)1.
Mit der „liberalen Bewegung“ wird auf eine in der europäischen Kultur verhaftete
Gesellschaftsvorstellung verwiesen, welche normativ die individuelle Freiheit und
Selbstverantwortung betont. Ihr Ursprung ist im klassischen Athen (bei der Stoa) und
– als Übernahme- im römischen Kaiserreich (bei Cicero) zu ? nden. In Deutschland ist
das Freiheitsideal mit den Namen Immanuel Kant, Wilhelm von Humboldt und Friedrich Schiller eng verbunden.
Die Bewegung entwickelte sich im 17. Jahrhundert aus dem Widerstand gegen den
Absolutismus. Der Bewegung kam es darauf an, die staatliche Herrschaft zum Schutz
der Bürger unter das Gesetz als gerichtlich durchsetzbare Regel zu stellen (government under the law). In England entwickelte sich daraus die rule of law als ein Vorläufer des Ideals des Rechtsstaates.
Rechtsstaatlichkeit (Abschn. 2.4.2) ist durch ein zentrales ordnungsrelevantes Prinzip gekennzeichnet, die Gleichheit der Gesetze für alle Personen und Fälle (HAYEK
1953/2002, S. 40), die Isonomie. Sie kann als Teil dessen angesehen werden, was als
Universalisierbarkeit von Regeln unter Informationsaspekten bezeichnet wird (Abschn. 3.6.1). Das bedeutet, dass Rechtsregeln (1) allgemeingültig sind, also ausnahmslos und unbefristet auf alle Akteure Anwendung ? nden sollen, (2), offen sind, in dem
sie nur spezi? sche Handlungen untersagen und damit eine unbekannte Zahl von Handlungsmöglichkeiten zulassen sollen, (3) bestimmt sind, also nur solche Handlungen
untersagen sollen, die zu kennen oder festzustellen von den Betroffenen erwartet werden kann.
Ordnungsrelevant wird die Isonomie im Falle von gesellschaftlichen Ordnungen,
die aus dem Zusammenwirken oder der Interaktion von vielen Akteuren hervorgehen.
Durch Isonomie geprägte Regeln erlauben es dem einzelnen Akteur, verlässliche Erwartungen über das Verhalten anderer zu bilden, indem er ausschließen kann, mit welchem Verhalten nicht zu rechnen ist. Beispiel hierfür ist das Privatrecht, nach dem sich
das Verhalten der Akteure bei Markthandlungen richtet. Insofern hat das Privatrecht
eine koordinationsbezogene, kanalisierende Wirkung.
Für die Entwicklung von Wohlfahrtsstaaten war charakteristisch, dass das Prinzip
der Isonomie vielfach und häu? g durchbrochen wurde. Das geschah auch in Deutschland und wurde mit dem unbestimmten Ziel der „sozialen Gerechtigkeit“ begründet.
Ansatzpunkte für die im Namen dieses Ziels erhobenen politischen Forderungen sind
wahrgenommene oder behauptete Unterschiede zwischen Markteinkommen und da-
1 Auch LEONI (1951, S. 58) bezieht sich mit seinen Ausführungen zu „freedom and the rule of
law“ auf eine Vorarbeit von HAYEK (1955), mit der dieser seine „Verfassung der Freiheit“ und
seine dortigen Ausführungen zum Rechtsstaat (1971/2005, Kap. 13) ankündigt.
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mit verbundene Unterschiede zwischen sozioökonomischen Positionen von Personen
und Gruppen. Daraus ist nur zu leicht die Forderung nach einer Angleichung der Unterschiede durch Umverteilung ableitbar. Die Forderung selbst ist ökonomisch schlicht
unsinnig; denn in einer marktwirtschaftlichen Ordnung gibt es niemanden außer dem
Staat als Zahler von Transfers, der Einkommen verteilt. Das in einer Periode von einem Akteur erzielte Markteinkommen wurde nämlich durch Markthandlungen einer
Vielzahl anderer Marktteilnehmer mitbestimmt, die dabei aus Selbstinteresse bemüht
waren, allen Umständen Rechnung zu tragen, die sie für ihr Wirtschaften als wichtig
erachteten und die nur sie kennen konnten. Weil es sich bei der marktwirtschaftlichen
Ordnung um eine ungeplante, spontane Ordnung handelt, können die Einkommen als
Ordnungsfolgen niemandem als Verursacher angelastet werden. Ursächlich verantwortlich ist nur der einzelne Akteur im Sinne seiner Selbstverantwortung.
Unbeschadet dieses fundamentalen Einwands wird immer wieder versucht, als ungleich Beurteiltes durch Ungleichbehandlung mit Mitteln des Rechts anzugleichen.
Mit dieser Ungleichbehandlung oder Diskriminierung wird das Prinzip der Isonomie
im Namen der sozialen Gerechtigkeit durchbrochen. Sein ephemerer Gebrauch wurde
in Deutschland daran erkennbar, dass Gesetzesvorhaben erst mit einer so genannten
„sozialen Komponente“ zustimmungsfähig gemacht wurden. Vom Gesetzgeber angestrebte Veränderungen in den individuellen Lebensumständen hatten aus dem gleichen
Grund „sozialverträglich“ zu sein. Mit derartigen Gesetzen konnte auf Zustimmung
im Parlament und in der Bevölkerung gerechnet werden. Mit der Begründung, sie förderten die soziale Gerechtigkeit, wurde tabuisierend an einen verbreiteten Atavismus
appelliert, „das heißt auf die Anwendung von Gefühlen auf eine Großgesellschaft, die
wir in Hunderten von Tausenden von Jahren des Lebens in der kleinen Gruppe oder
Horde entwickelt hatten“. (HAYEK 1976/2004, S. 188).
Mit der problematischen Begründung, es diene der sozialen Gerechtigkeit, wird das
Formalrecht im Interesse von als schutz- der fürsorgebedürftig beurteilten Personen
und Gruppen materialisiert oder „sozial gebunden“, indem Handlungsrechte eingeschränkt (reguliert) und generell die Vertragsfreiheit (z.B. im Miet-, Arbeits- und Gewerberecht) zugunsten von Personen und Gruppen korrigiert wird. Das führt zu einer
„Reethisierung des Privat- und Wirtschaftsprivatrechts“ (REUTER 1994, S. 352ff.) sowie zu einer Änderung der Rechtsauffassung. Die Gleichbehandlung durch das Recht
ist der mit „sozial“ begründeten Diskriminierung gewichen. Die durch das Recht Begünstigten haben die ökonomischen Folgen der Diskriminierung zu ihren Gunsten zu
tragen, wie der gesetzliche Kündigungsschutz lehrt; die so Geschützten, z.B. ältere Arbeitnehmer, stellen bei ihrer Einstellung ein Risiko dar, womit sich die Chancen bei
einem Wechsel der Beschäftigung verringern, ohne dass dies bei den politisch Verantwortlichen so gesehen wird, die den Schutz im Namen der sozialen Gerechtigkeit und
mit dem Blick auf anstehende Wahlen verursacht haben. Der politische Missbrauch
dieser Gerechtigkeitsnorm zu Wahlkampfzwecken ist für Deutschland empirisch belegbar (VAUBEL 1991). Die so genannten sozialen Errungenschaften, die in den vergangenen Jahren Gegenstände von Reformbemühungen, weil nicht ? nanzierbar, waren,
lassen sich, beginnend mit dem Betriebsverfassungsgesetz von 1953 und endend mit
der gesetzlichen P? egeversicherung von 1995 als Wahlgeschenke der jeweils regieren-
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den Partei oder Koalition identi? zieren. Sie mussten, politisch riskant, wieder eingesammelt, zumindest aber im Wert gemindert werden, ohne dass dies weitere Wahlgeschenke durch bessere Einsicht der vormals Schenkenden verhindert hätte.
Die Ordnungsfolgen der Durchbrechung des rechtsstaatlichen Prinzips der Isonomie
wurden von den politisch Verantwortlichen willentlich oder unwillentlich vergessen.
Das liegt wohl daran, dass sich die ökonomischen Folgen dieses Prinzipienverstoßes
erst mit Verzögerung einstellen2 und es daher schwierig wird, sie auf den oder die politischen Verursacher zurückzuführen. Ferner wird eine solche Ursachenzurechnung
dadurch erschwert, dass Marktwirtschaften, systemtheoretisch betrachtet, interaktiv
komplex und offen sind. Deshalb lassen sich einfache Kausalitätsbeziehungen nur
schwer identi? zieren. Das begünstigt eine verschleiernde politische Diskussion über
Verursachung. Bemühungen, über ordnungspolitisches Fehlverhalten aufzuklären, werden mit dem auf Unkenntnis spekulierenden Attribut „neoliberal“ belegt (STREIT
2006). Sofern Personen und Gruppen von den Ordnungsfolgen negativ betroffen werden, kann wiederum das Schlagwort der sozialen Gerechtigkeit bemüht werden, um
ihnen ordnungswidrige Hilfe zukommen zu lassen. Eine Interventionsspirale zeichnet
sich ab, die geeignet ist, das marktwirtschaftliche System wachstums- und beschäftigungsschädigend zu erodieren und zu diskreditieren. Das dürften die laufenden Umfragen zur Wirtschaftsordnung Deutschlands belegen. Für die dabei auftretende Sprachverwirrung ist charakteristisch, dass die marktwirtschaftliche Ordnung mit der Sozialen
Marktwirtschaft als wirtschaftspolitische Konzeption selbst von Politikern vermutlich
aus Unkenntnis verwechselt wird. Dabei werden der Rechtsstaat und sein ordnungsrelevantes Prinzip, weil politisch opportun, verloren und vergessen.
Literatur
Hayek, F.A. (1953/2002), Entstehung und Verfall des Rechtsstaatsideals; in ders.: Grundsätze
einer liberalen Gesellschaftsordnung – Aufsätze zur Politischen Philosophie und Theorie,
Gesammelte Schriften in deutscher Sprache, hrsgg. v. V. Vanberg, Tübingen: Mohr Siebeck,
S. 39-62.
Hayek, F.A. (1955), The Political Ideal of the Rules of Law, Cairo: National Bank of Egypt.
Hayek, F.A. (1967/2003), Rechtsordnung und Handelnsordnung – Bd. A4 Aufsätze zur Ordnungsökonomik, Gesammelte Schriften in deutscher Sprache, Bd. A4, hrsgg. v. M.E. Streit,
Tübingen: Mohr Siebeck, S. 35-73.
Hayek, F.A. (1971/2005): Die Verfassung der Freiheit, Gesammelte Schriften in deutscher Sprache, Bd. B3, hrsgg. v. A. Bosch und R. Veit, Tübingen: Mohr Siebeck.
Hayek, F.A. (1976/2004), Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit; in: ders. Wissenschaft und
Sozialismus – Aufsätze zur Sozialismuskritik, Gesammelte Schriften in deutscher Sprache,
Bd. A7, hrsgg. v. M.E. Streit, Tübingen: Mohr Siebeck, S. 186-196.
2 Beispiele sind Erhaltungssubventionen, die auf Druck von Lobbyisten legitimiert werden, und
Regulierungen zu Gunsten einzelner Berufsgruppen. Sie bewirken auf mittlere Sicht eine Behinderung des Wettbewerbs mit negativen Wachstums- und Beschäftigungsfolgen.
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Leoni, B. (1951), Freedom and the Law, erw. 3. Au? ., Indianapolis: Liberty Fund.
Mestmäcker, E.J. (2007), A Legal Theory without Law, Walter Eucken Institut, Beiträge zur
Ordnungstheorie und Ordnungspolitik, Bd. 174, Tübingen: Mohr Siebeck.
Reuter, D. (1994), Freiheitsethik und Privatrecht; in: W. Möschel, M.E. Streit, U. Witt (Hrsg.):
Marktwirtschaft und Rechtsordnung, Baden-Baden: Nomos, S. 349-356.
Smith, A. (1759/2005), Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker,
hrsgg. v. E. W. Streissler, Tübingen: Mohr Siebeck.
Streit, M.E. (2005), Theorie der Wirtschaftspolitik, 6. Au? ., Stuttgart: Lucius & Lucius.
Streit, M.E. (2006), Der Neoliberalismus – Ein fragwürdiges Ideensystem? ORDO, Bd. 57,
S. 91-98.
Vaubel, R.. (1991), Der Missbrauch der Sozialpolitik in Deutschland – Historischer Überblick
und Politisch-Ökonomische Erklärung; in: G. Radnitzky. H. Bouillon (Hrsg.): Ordnungstheorie und Ordnungspolitik; Berlin, Paris, Tokyo: Springer.
Zippelius, R. (1978), Allgemeine Staatslehre, München, Beck.
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5. Ein Fall internationaler Ordnungspolitik:
Die europäische Integration
Als am 25.03.1957, also vor einem halben Jahrhundert, der Vertrag zur Gründung der
Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWGV), dem Vorläufer der Europäischen
Union, von Vertretern Belgiens der Bundesrepublik Deutschland, Frankreichs, Italiens, Luxemburgs und der Niederlande unterzeichnet wurde, war ein Beispiel internationaler Ordnungspolitik gesetzt, mit dem die gelenkten Marktwirtschaften der Signatarstaaten integriert werden sollten. Ökonomisch gesehen stellte die so geschaffene
Gemeinschaft der Sechs eine Zollunion dar, d.h. es wurden Freihandel zwischen den
Mitgliedsländern und ein gemeinsamer Außenzoll vereinbart. Damit sollten die handelschaffenden Wirkungen des Wettbewerbs und seine Entwicklungsimpulse erschlossen werden, die mit einem Wegfall der zwischenstaatlichen Handelshemmnisse verbunden sein dürften. Die erwartbaren handelsumlenkenden Wirkungen zu Lasten von
Drittländern wurden dabei in Kauf genommen, womit der Praxis nach dem Allgemeinen (weltweiten) Zoll- und Handelsabkommen (GATT) von 1948 entsprochen wurde.
Der ordnungspolitisch relevante Kern des EWGV bestand aus der Kodi? zierung von
Grundfreiheiten und von Wettbewerbsregeln (STREIT/MUSSLER, 1996/2001, S.
405). Die Grundfreiheiten betrafen die Regelungen über den freien Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten (Artt. 9-30ff.), die Freizügigkeit (Artt. 48-51), die Niederlassungsfreiheit (Artt. 67-73). Zusammen genommen konstituierten die Freiheiten das,
was der Gemeinsame Markt genannt wird. Eine interventionistische Ausnahme davon
ist noch heute der Gemeinsame Agrarmarkt (Art. 39 EWGV). Das zum Gemeinsamen
Markt komplementäre Wettbewerbsrecht des EWGV richtet sich gleichermaßen an die
Mitgliedstaaten wie an die privaten Wirtschaftssubjekte, vor allem an die Unternehmen in den Mitgliedstaaten. Soweit es sich an die Mitgliedstaaten selbst richtet, ergänzt es die Grundfreiheiten. Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundsätze des
Gemeinsamen Marktes wird durch zwei Regelungen bekräftigt, die eine Wettbewerbsverfälschung aufgrund von Interventionen der Mitgliedstaaten verhindern sollen. Einmal durch das Verbot mitgliedstaatlicher Beihilfen (Subventionen), die als wettbewerbsverfälschend anzusehen sind. Zum anderen geht es im Wesentlichen darum, die
Mitgliedstaaten an einer wettbewerbsrechtlichen Privilegierung ihrer öffentlichen Unternehmen zu hindern (Art. 90 EWGV). Demgegenüber sollen zwei Arten von Wettbewerbsregeln private Wettbewerbsbeschränkungen verhindern: (1) ein Verbot von
Kartellen und vergleichbaren Absprachen (Art. 85 EWGV) und (2) ein Verbot des
Missbrauchs marktbeherrschender Stellungen (Art. 86 EWGV). Die Wettbewerbsregeln sind insofern problematisch, als ungeklärt ist, ob sie auch für die Organe der Gemeinschaft (z.B. Kommission und Ministerrat) rechtsverbindlich sind. Darüber hinaus
lässt der Vertrag ungeklärt, ob sich die EG-Bürger auch auf die Grundfreiheiten rechtswirksam berufen können, wenn sie von den Gemeinschaftsorganen eingeschränkt werden.
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References
Zusammenfassung
Der Band 11 der Reihe enthält im ersten Teil Reflexionen des Autors zu Themen, die in seinem in 6. Auflage 2005 erschienenen Lehrbuch zur Theorie der Wirtschaftspolitik auftreten.
Im zweiten Teil findet sich eine Reihe von Kommentaren des Autors zur Ordnungspolitik in Deutschland, die zwischen 1987 und 2008 in überregionalen Tageszeitungen erschienen sind.
Der Autor ist Professor Emeritus am Max-Planck-Institut für Ökonomik in Jena.