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Kapitel 7 Die Anfechtung der irrtumsbehafteten Erblasserverfügung
I. Der Irrtum des Erblassers
Mit der Errichtung einer Verfügung von Todes wegen gibt der spätere Erblasser die
Antwort auf die Frage, was mit seinem Vermögen geschehen solle, wenn er heute
verstürbe. Unverkennbar ist damit eine Verfügung von Todes wegen nicht unbedingt
das Ergebnis der Würdigung aller positiven oder negativen Lebenserfahrungen. Die
Tatsache, dass heute eine Verfügung von Todes wegen errichtet wird, zeigt, dass
insbesondere die aktuelle Lebensphase, die Gegenwart, von solcher Bedeutung ist,
dass sie eine erbrechtliche Würdigung erfahren soll. Der dann formulierte Erblasserwille ist damit eine erbrechtliche Momentaufnahme. Jahre oder auch nur
Monate zuvor hätte der Erblasserwille ein ganz anderer sein können und auch im
weiteren Leben des Testators wird es Zeiten geben, in denen er tatsächlich andere
Vorstellungen von seiner Erbfolge haben wird. Sowohl die Vorstellungen des Testators zu seiner Erbfolge vor und nach Errichtung der letztwilligen Verfügung sind
erbrechtlich unbeachtlich, jedenfalls dann, wenn der sich veränderte Erblasserwille
nicht in einer weiteren Verfügung von Todes wegen oder durch eine Anfechtungserklärung dokumentiert wird (im Falle des Erbvertrages § 2281 BGB). Die einmal
getroffene Verfügung von Todes wegen bleibt damit unter den genannten Einschränkungen wirksam, gleichgültig welcher Zeitraum zwischen der Errichtung und
dem Erbfall liegt und welche Zweifel den späteren Erblasser an der einmal getroffenen Entscheidung beherrschen.
Trotz der Momententscheidung des späteren Erblassers wird nicht bestritten
werden können, der Erblasser habe bei der Testamentserrichtung zumindest auch die
in die Zukunft gerichtete Vorstellung gehabt, seine aktuelle Lebenssituation, die ihn
zu der getroffenen Entscheidung veranlasst hatte, würde bestehen bleiben und er sei
bei seiner Entscheidung nicht durch die irrige Annahme oder Erwartung des Eintritts
und Nichteintritts eines Umstandes bestimmt worden (§ 2078 Abs. 1 Satz 2 BGB).
Für die Darstellung eines Irrtums des Erblassers zur Ausgleichungsberechtigung
kann folgender Sachverhalt dienen:
Der Vater V hat drei Kinder, er ist nicht verheiratet. Die Tochter lebt „gut
versorgt“ in Australien. Der Sohn S 1 ist ein Taugenichts, er ist arbeitsscheu und lebt
vom Unterhalt seiner Frau. Der Sohn S 2 lebt beim Vater, geht einer geregelten
Berufstätigkeit nach, teilt mit dem Vater die „Liebe zum Garten“, ist Junggeselle
und stets hilfsbereit. Der Vater hat die Vorstellung, dass er im Falle einer Pflegebedürftigkeit sicherlich vom Sohn S 2 betreut und gepflegt würde. Die Tochter A
wird ihn schon deshalb nicht pflegen können und wollen, da sie ihre Familie in
Australien zu versorgen hat. Vom S 1 erwartet der Vater schon gar keine
Unterstützung.
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Aus diesen Gründen bestimmt der Vater in seinem Testament seinen Sohn S 2 zu
2/3 zum Erben, seine Tochter A und Sohn S 1 zu je 1/6. Kurze Zeit nach der
Testamentserrichtung lernt der Sohn S 2 eine Partnerin kennen und zieht mit ihr
ohne erkennbaren Rückkehrwillen nach Südamerika. Der Vater wird einige Zeit
später zum Pflegefall. Als S 1 davon erfährt, kehrt er seinem bisherigen Leben den
Rücken und pflegt den Vater über Jahre liebevoll. Der Vater stirbt; zu einer
Änderung des Testamentes ist es nicht gekommen.
Die Vorstellungen des Vaters bei der Testamentserrichtung haben sich später als
irrig erwiesen. Die großzügige Erbeinsetzung des Sohnes S 2 hatte der Vater nur
getroffen, weil er annahm, dass ihn S 2 im Pflegefall mit Sicherheit betreuen würde.
Hätte der spätere Erblasser die Zukunft voraussehen können, wäre es zu einer anderen Verteilung der Erbquoten gekommen. Es darf angenommen werden, dass der
Vater V den Sohn S 2 nicht so großzügig und den Sohn S 1 mit mehr als nur 1/6 am
Nachlass beteiligt hätte. Die Erbeinsetzung der Tochter war dagegen irrtumsfrei. Der
Vater hatte aber tatsächlich kein neues Testament errichtet, und dies obwohl er
jahrelang die fürsorgliche Pflege durch den Sohn S 1 entgegengenommen hat. Dass
der Sohn S 1 im Erbfall über seine geringe Erbquote enttäuscht sein dürfte, liegt auf
der Hand und die Enttäuschung dürfte sich steigern, wenn er von den Hintergründen,
d. h. den Vorstellung des Vaters erfahren sollte, die diesen zu der Anordnung der
unterschiedlichen Erbquoten veranlasst hatten. Die Enttäuschung des Sohnes S 1
„mündet“ in der Frage, ob eine solche, durch Irrtum des Vaters zustande gekommene Verfügung von Todes wegen Bestand haben muss oder es erreicht werden
kann, dass der Nachlass des Vaters so unter den gesetzlichen Erben aufgeteilt wird,
wie es dem irrtumsfreien Willen, aber eben äußerlich unzulänglichen Vorstellungen
des Vaters entsprochen hätte und dadurch die vom Sohn S 1 statt des Sohnes S 2
nach § 2057 a BGB erbrachte Sonderleistung eine Würdigung erfährt.405
Die gesetzliche Möglichkeit, Verfügungen von Todes wegen, zu welchen der
Erblasser durch die irrige Annahme oder Erwartung des Eintritts oder Nichteintritts
eines Umstandes bestimmt wurde, einer Korrektur zu unterziehen, ist die Anfechtung. Anfechtbar sind stets nur letztwillige Verfügungen des Erblassers
(§§ 2078, 2079, 2269, 2281, 2285 BGB). Solche Verfügungen sind in einseitigen
Testamenten (§§ 2229 ff. BGB), in gemeinschaftlichen Testamenten (§§ 2265 ff.
BGB) oder in Erbverträgen (§§ 2274 ff. BGB) möglich. Ob aber die fehlende oder
falsche Vorausschau des Erblassers oder seine irrtumsbehaftete Motivation bei der
Errichtung seiner Verfügung von Todes wegen durch die Anfechtung dazu führen
kann, dem eine Sonderleistung erbringenden Abkömmling einen Ausgleichungsanspruch zu verschaffen, der durch die Verfügung keine Berücksichtigung gefunden
hat, bedarf zunächst einer Auseinandersetzung mit dem Anfechtungsrecht selbst.
405 BGH NJW 85, 20, 25; aaO 20, 26 = FamRZ 85, 806; AK-Finger, § 2078 Rn. 1
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II. Der Zweck der Anfechtung einseitiger Testamente
Der Erblasser kann seine einseitige Verfügung von Todes wegen selbst zu Lebzeiten
nur widerrufen und nicht anfechten und schon deshalb verfolgt die Anfechtung eines
einseitigen Testamentes nicht das Ziel, dem Erblasser die Möglichkeit der Befreiung
von der Bindung an eigene Erklärungen zu verschaffen.406 Zweck der Anfechtung ist
vielmehr, dass Dritte den im Testament des Erblassers formulierten Willen nicht
gegen sich gelten lassen müssen.407 Der Schutzzweck der Anfechtung liegt daher im
Interesse des Anfechtungsberechtigten.408 Konsequenterweise ist deshalb auch nur
derjenige anfechtungsberechtigt, dem die Anfechtung der Verfügung unmittelbar
zustatten kommen würde (§ 2080 Abs. 1 BGB). Mittelbar, wenn auch nur eingeschränkt, schützt das Anfechtungsrecht auch den wahren Erblasserwillen, wenn die
Verfügung von Todes wegen auf einem Motivirrtum des Erblassers beruht.
Allerdings führt die Anfechtung nicht dazu, dem wahren Erblasserwillen Geltung zu
verschaffen, denn die wirksame Anfechtung schafft nicht die erbrechtliche Lage, die
dem zwar nicht erklärten, aber irrtumsfreien Willen des Erblassers entsprochen
hätte.409 Die Anfechtung hat nur eine negative Wirkung. Sie beseitigt die angefochtenen Verfügungen, ohne dass sie durch eine dem wahren Willen des Erblassers
entsprechende „neue“ Verfügung ersetzt wird. Vielmehr tritt an die Stelle der
angefochtenen Verfügung die vom Gesetz geregelte Folge. Ob aber im Falle eines
Motivirrtums des Erblassers (§ 2078 Abs. 2 BGB) diese Rechtsfolge der Anfechtung der letztwilligen Verfügung dem wirklichen, irrtumsfreien Willen des
Erblassers entspricht, scheint mehr als fraglich. Gerade in Verfügungen von Todes
wegen wird eine Vielzahl von Motiven zusammenwirken410, und selbst dann, wenn
der mit der Verfügung von Todes wegen zum Ausdruck kommende Erblasserwille
einem Irrtum unterlegen war, kann nicht ohne weiteres angenommen werden, die
gesetzliche Erbregelung werde dem wahren, irrtumsfreien Willen des Erblassers
entsprechen. Schon deshalb müssen an den Beweis für einen Irrtum des Erblassers
hohe Anforderungen gestellt werden. Grundsätzlich wird man davon auszugehen
haben, dass die formgültige Erklärung des Erblassers seinem wahren Willen entspricht und auf irrtumsfreien Motiven beruht.
406 Staudinger-Otte, § 2080 Rn. 1; Juris Praxiskommentar-Lehrmann, § 2078 Rn. 35; Soergel-
Loritz, § 2078 Rn. 1; MünchKomm Leipold § 2078 Rn. 1
407 Michalski Rn. 371; Soergel-Loritz, § 2078 Rn.1; MünchKomm Leipold, § 2078 Rn. 1
408 MünchKomm-Leipold § 2078 Rn. 1
409 Mugdan, Mot. Zum BGB, Bd. V, S. 28, 30; a.A.: BGH FamRZ 1985,806; MünchKomm
Leipold § 2078 Rn. 4
410 MünchKomm-Leipold, § 2078 Rn. 6
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Wenn Abkömmlinge durch ihre unentgeltliche Mitarbeit im Haushalt, Beruf oder Geschäft des Erblassers oder durch erhebliche Geldleistungen in besonderem Maße zur Nachlassmehrung – oder dessen Erhalt – beigetragen haben, kann dies einen Ausgleichungsanspruch bei der Erbauseinandersetzung rechtfertigen.
Selbst die möglicherweise Jahrzehnte zurückliegenden Leistungen der Kinder im Rahmen der §§ 1619, 1620 BGB stehen der Ausgleichungspflicht nicht entgegen.
In den erbrechtlichen Fokus gelangen immer häufiger Pflegeleistungen von Abkömmlingen gegenüber ihren Eltern. Diese rechtfertigen nach der derzeitigen Gesetzeslage nur dann einen Ausgleichungsanspruch wenn die Pflege und der Verzicht auf berufliches Einkommen erfolgt (§ 2057 a Abs. 1 S. 2 BGB). Diese Situation soll nach dem Willen der Bundesregierung (Regierungsentwurf vom 30.01.2008) durch die Schaffung eines § 2057 b BGB-E geändert werden.
Pflege wird mittlerweile als gesellschaftliche Aufgabe verstanden. Es wird nunmehr auch erkannt, dass alle gesetzlichen Erben – also auch der Ehepartner – an der Ausgleichung beteiligt werden sollen, was nach der bisherigen Gesetzeslage nicht der Fall war und zu Ungereimtheiten führte.
Weil es immer mehr ältere Menschen in unserer Gesellschaft gibt und diese im Falle einer Pflegebedürftigkeit nach Möglichkeit in ihrem häuslichen Bereich gepflegt werden möchten und dabei der Unterstützung ihrer Kinder und Ehepartner bedürfen, kann angenommen werden, dass die Ausgleichungspflicht auf Grund von Sonderleistungen nach §§ 2057 a, 2057 b BGB-E in Zukunft häufiger bei der Erbauseinandersetzung zu beachten sein wird.