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Kapitel 3 Die Pflegeleistung als gesellschaftliche Aufgabe
I. Der Umfang von Dienstleistungen im Sinne des § 2057 a BGB und die
gesellschaftliche Bedeutung von Pflegeleistungen
§ 2057 a BGB ist Teil der Erbrechtsvorschriften, in dem die Rechtsverhältnisse der
Erben untereinander geregelt werden. Diese Stellung im Gesetz ist schon deshalb
konsequent, da Sonderleistungen erbringende Abkömmlinge nur bei der Auseinandersetzung mit den übrigen Erben (Abkömmlingen), d. h. im engsten Kreis der
Familie ihren Anspruch geltend machen können. Eine Auswirkung auf Dritte, wie z.
B. Nachlassgläubiger, hat der Ausgleichungsanspruch nicht, da nach § 2046 BGB
vor der eigentlichen Auseinandersetzung die Nachlassverbindlichkeiten aus dem
Nachlass zu berichtigen sind.
Der eng begrenzte Kreis der ausgleichsberechtigten und- verpflichteten Personen,
aus dem derzeit sogar die Ehepartner ausgeschlossen sind, ist jedoch nur damit zu
begründen, dass die in § 2057 a BGB normierten Sonderleistungen typischerweise
auch nur von Abkömmlingen, d. h. den nächsten Verwandten, erbracht werden.
Erhebliche Geldleistungen an den Erblasser ohne jede Verpflichtung zur
Gegenleistung (§ 2057 a Satz 2 BGB) werden regelmäßig nicht nur eine positive,
durch gegenseitige Zuneigung bestimmte Beziehung erfordern. Vielmehr wird die
Bereitschaft für eine solche, die eigenen wirtschaftlichen Interessen ignorierende
Sonderleistung ihre Triebfeder meist in der bestehenden Blutsverwandtschaft oder
dem gelebten und erlebten Familienverbund haben. Die Zahl solcher Geld und Güter
umfassenden Transfers ist nicht unbedeutend. Im Jahre 2004 erbrachten 5 % aller
40- bis 50-Jährigen - die potenziellen Leistungserbringer im Rahmen des § 2057 a
BGB - in der BRD solche Leistungen an ihre Eltern oder Schwiegereltern.57 Die
verwandtschaftliche Beziehung und die darin begründete moralische Verantwortung
wird auch bei den weiteren tatbestandlichen Sonderleistungen des § 2057 a BGB
„Bremisches Höfegesetz“ dort § 15 „...der Anerbe hat nach Abzug eines ihm als Voraus
verbleibenden Vierteils die übrigen ¾ des schuldenfreien Hofeswertes in die Erbmasse
einzuschließen. Ist ein Abkömmling des Erblassers Anerbe, so steht ihm neben dem Voraus ein
Anspruch auf Ausgleichung nach § 2057 a des Bürgerlichen Gesetzbuches nicht zu.“
In der „Hessischen Landgüterverordnung“ ist ein Voraus nicht vorgesehen. Allerdings regelt §
25 Abs. 2 der Hessischen Landgüterverordnung zur testamentarischen Erbeinsetzung des
Hoferben... „Kann vorbehaltlich des Pflichtteilsrechtes der Beteiligten bestimmt werden, zu
welchem Betrage der Gutswert bei der Erbteilung angerechnet wird, dass und in welcher Höhe
der Gutsübernehmer bei der Teilung ein Voraus erhalten oder in einer sonstigen Weise
bevorzugt werden soll.“ Auch im § 21 des “rheinland-pfälzisches Landesgesetz über die
HöfeO“ ist Voraus ist nicht vorgesehen. Die Abfindungsansprüche der weichenden Erben
bestimmen sich nach dem Ertragswert (§ 2049 BGB). Einen Hinweis auf § 2057 a BGB gibt es
nicht.
57 Lüscher, ZEV 2004, 2, 6
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wie Mitarbeit im Haushalt, Beruf oder Geschäft des Erblassers, das beherrschende
Motiv sein. Auch die Zahl dieser mithelfenden Angehörigen in Beruf und Geschäft
ist bemerkenswert. Im Jahr 2004 betrug die Zahl der Selbstständigen im Bereich der
Land- und Fortwirtschaft 289.000, die Zahl der helfenden Familienangehörigen in
diesem Wirtschaftszweig 137.000. Im produzierenden Gewerbe gab es im Jahr 2004
in der BRD 767.000 Selbstständige, denen 72.000 helfende Familienangehörige zur
Seite standen. Im Handel, Gastgewerbe und Verkehr arbeiteten im Jahr 2004
1.043.000 Selbständige; die Zahl der helfenden Familienangehörigen betrug
117.000. Im Bereich „Sonstiger Dienstleistungen“ halfen 77.000 Familienangehörige den 1.753.000 Selbstständigen. Instrumentelle Dienstleistungen beinhaltende Hilfen an (Schwieger-)Eltern von 27,1 % der Altersgruppe der 40- bis 50-
Jährigen (einschließlich Mitarbeit im Haushalt).58
Insbesondere bei der Erbringung von Pflegeleistungen im nichtprofessionellen
Bereich wird der Kreis der nächsten Verwandten als Leistungsträger nur selten
gesprengt werden. Schon das Eingeständnis von Hilflosigkeit erfordert die Notwendigkeit, aber auch die Möglichkeit des Hilfebedürftigen, sich gegenüber der
Pflegeperson zu „öffnen“ und ihr Vertrauen entgegenbringen zu können, denn
Pflege tangiert die Intimsphäre und dokumentiert eigene Unzulänglichkeit und
Schwächen. Die Bereitschaft, solche Schwächen zu offenbaren und dabei auch den
Intimbereich nicht gefährdet zu sehen, fällt möglicherweise am leichtesten gegen-
über Personen, die ohnehin schon lange die Pflegeperson kennen und gegenüber
denen ein wie auch immer geartetes Affektionsinteresse kaum besteht, nämlich den
eigenen Abkömmlingen.
Auch vor dem Hintergrund der Frage, wer eigentlich bereit sein könnte, Pflegeleistungen für andere neben beruflichen Verpflichtungen zu erbringen, erscheint
zunächst die Eingrenzung des § 2057 a BGB auf den Personenkreis der
Abkömmlinge folgerichtig. Auch die Pflegeperson hat bei der Pflege eine normale
körperliche Distanz zu überwinden und hat dies mit dem der hilfebedürftigen Person
zu vermittelnden Gefühl der Normalität und des Vertrauten zu leisten, was am
ehesten innerhalb der engsten menschlichen Beziehung, der zwischen Eltern und
Abkömmlingen, möglich wird.
In § 2057 a BGB regelt der Gesetzgeber damit ein Rechtsverhältnis, das nach
seiner Vorstellung im Jahr 1969 auf den Personenkreis der engsten Familienangehörigen beschränkt werden konnte, weil die von der Norm erfassten Sonderleistungen gegenüber dem Erblasser üblicherweise nur von Abkömmlingen erbracht
wurden und der Ehegatte ohnehin dazu bereit war. Bezogen auf das Tatbestandsmerkmal der Pflege ist heute diese Intention zu überdenken, denn angesichts
rückgängiger Geburtenzahlen und der von Berufstätigen heute geforderten Mobilität scheint es zumindest zweifelhaft, ob es die Abkömmlinge sind oder sein
werden, die heute oder in der Zukunft Pflegeleistungen gegenüber Eltern oder
„fremden“ älteren Personen erbringen. Zudem sollte geprüft werden, ob die in §
2057 a Abs. 1 Satz 2 BGB angesprochene Pflegearbeit, die ohne jedes Rang-
58 Lüscher, ZEV 2004, 2, 6 unter Hinweis auf den 3. Altenbericht der Bundesregierung
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verhältnis zu den anderen Sonderleistungen mit diesen quasi „auf eine Schnur gezogen“ wird, nicht schon deshalb tatbestandlich ein besserer Rang zugesprochen
werden sollte, da mit der Pflege des Erblassers – anders als bei den übrigen zur Ausgleichung berechtigenden Leistungen - neben dem Wirken für den Erblasser auch
eine gesellschaftsrelevante Aufgabe – eine Schlüsselherausforderung - unserer Gesellschaft erfüllt wird.59
Die gesellschaftliche Bedeutung von Pflegeleistungen resultiert aus dem
grundlegenden Ansatz, Pflegebedürftigkeit und Alter nicht vorschnell als Synonym
zu setzen60 und das Alter ausschließlich als Belastung zu sehen. Vielmehr geht es selbstverständlich auch beeinflusst durch immer bescheidenere staatliche Ressourcen – um ein Denken in termini von Potenzialen im Alter und der Schaffung von
Möglichkeiten einer weitgehend selbstständigen Lebensführung.61 Dabei kann nicht
verkannt werden, dass die Problemlagen alter Menschen auch ihren Ausdruck in
Hilfe- und Pflegebedürftigkeit finden. Es ist jedoch ein Unterschied, ob solche
Problemlagen als Defizitbild des Alters und damit als gesellschaftliche Belastung
gesehen werden oder als gesellschaftliche Herausforderung, selbst bei Pflegebedürftigkeit Selbstständigkeitspotenziale zu erkennen und zu fördern.62
Ein solches Denken, welches nicht auf ein Horrorszenario des Alters fixiert ist,
gewährleistet bei der Umsetzung in eine produktive Pflegearbeit auch am ehesten
eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und damit einen Vorteil für die gesamte
Gesellschaft – man denke nur an die Wirtschaftskraft der Älteren.63 In der gesellschaftlichen Diskussion dominiert die These von der demografisch bedingt
wachsenden finanziellen Belastung der Gesellschaft. Dagegen wird die gleichzeitig
wachsende Bedeutung der älteren Menschen als Wirtschaftsfaktor leicht übersehen.
Bedingt durch die gute und gegenüber früher deutlich verbesserte Einkommens- und
Vermögenssituation der heutigen Seniorengeneration ist es gerechtfertigt, dass diese
Konsumentengruppe immer mehr in den Blickpunkt rückt.64
Es sind – nicht nur, aber auch – alte Menschen an der Wertschöpfung und der die
Zurverfügungstellung der im gesamten Leben angesparten Finanzmittel beteiligt.
Die herausragende Rolle von Pflegeleistungen könnte dazu führen, dass ihnen auch
erbrechtlich ein höherer Stellenwert einzuräumen ist, als es bisher mit § 2057 a BGB
geschieht. Diese Überlegung ist auch deshalb wesentlich, da der Gesetzgeber mit der
Schaffung des § 2057 a BGB vordergründig keineswegs Pflegeleistungen gegenüber
dem Erblasser als gesellschaftlich herausragende, erbrechtlich zu würdigende
Aktivitäten bewertet hat, sondern dass mit der Einführung des NEG die ehelichen
Abkömmlinge eine Benachteiligung gegenüber nichtehelichen Abkömmlingen
erfahren würden, wenn es zu Pflegeleistungen gegenüber den Eltern käme, die nach
59 Wahl/Schneekloth in Schneekloth/Wahl, MUG III, S. 18
60 Wahl/Schneekloth in Schneekloth/Wahl, MUG III, S. 15
61 Wahl/Schneekloth in Schneekloth/Wahl, MUG III, S. 14
62 Wahl/Schneekloth in Schneekloth/Wahl, MUG III, S. 14
63 Gerling/Naegele/Scharfenorth, Sozialer Fortschritt 2004, 293, 294
64 Gerling/Naegele/Scharfenorth, Sozialer Fortschritt 2004, 293, 295
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damaligen Vorstellungen aufgrund eines nur bei ehelichen Kindern angenommenen
familiären Eingebundenseins nur von ehelichen Abkömmlingen erbracht wurden.
Gesellschaftsrelevante Überlegungen zu Hilfe- und Pflegebedürftigkeit und zu
Pflegeleistungen gab es nicht. Voraussetzung für die Überlegung, inwieweit es auch
Aufgabe des Erbrechtes sein sollte und könnte, Pflegeleistungen besser zu
„honorieren“, ist jedoch ein Wissen um die Datenlage, bezogen auf den demografischen Wandel des Hilfe- und Pflegebedarfs in Deutschland, der Lebens- und
Versorgungssituation älterer und speziell pflegebedürftiger Menschen und die
Trends hinsichtlich der Art und Ausgestaltung von häuslicher, ambulanter Hilfe und
Pflegearrangements. Dabei wird unterstellt, dass Pflegeleistungen im Sinne des §
2057 a BGB regelmäßig häusliche Pflegeleistungen sein werden, mithin solche, die
gegenüber dem späteren Erblasser in dessen gewohnter Umgebung, d.h. seiner
angestammten Wohnung geleistet werden.
II. Sichtweisen von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit im Alter
Die gesellschaftliche Diskussion um Pflege und Pflegebedarf ist in Deutschland mit
den Erkenntnissen des demografischen Wandels entfacht worden und dies vor dem
Hintergrund schwindender staatlicher Ressourcen. Wenn immer mehr Mitbürger ein
pflegebedürftiges Alter erreichen, drohen von Seiten des Staates – will man Pflege
als gesellschaftliche Aufgabe verstehen – Finanzierungsengpässe, die - überspitzt
formuliert – einen „Krieg der Generationen“ heraufbeschwören könnten.65 In der
wissenschaftlichen Diskussion wird bei der Erörterung von Pflege- und Hilfebedürftigkeit zwischen einem dritten und vierten Alter unterschieden.66 Das „dritte
Alter“ zwischen 65 und 80 Jahren hat dabei mehr Ähnlichkeit mit dem mittleren
Erwachsenenalter als mit dem „eigentlichen“ Alter.67 In dieser Lebensphase ist in
Deutschland das Alter von mehrheitlich hoher Gesundheit, funktionaler Kompetenz
und hoher außerhäuslicher Mobilität geprägt, mithin einem aktiven Lebensstil.
Hilfe- und Pflegebedürftigkeit sind in diesem Alter weit weniger festzustellen als im
„vierten Alter“ (jenseits von 80 Jahren), was darauf zurückzuführen ist, dass die
unvollendete Architektur der menschlichen Ontogenese68 in der letzten Lebensphase
der Hochaltrigkeit Grenzbereiche erlebt, in der die Evolution keine Optimierung
zulässt.69
Aus diesem Grund wird die gesellschaftliche Kultur vor allem im hohen Alter,
insbesondere bei Hilfe- u. Pflegebedürftigkeit, enorm gefordert.70 Gerade im
65 Wahl/Schneekloth in Schneekloth/Wahl, MUG III, S. 15
66 Wahl/Schneekloth in Schneekloth/Wahl, MUG III S.15
67 Vgl. Baltes, S. 191, 203f.
68 Baltes, S. 191, 203
69 Wahl/Schneekloth in Schneekloth/Wahl, MUG III, S. 16
70 Wahl/Schneekloth in Schneekloth/Wahl, MUG III, S. 16
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Wenn Abkömmlinge durch ihre unentgeltliche Mitarbeit im Haushalt, Beruf oder Geschäft des Erblassers oder durch erhebliche Geldleistungen in besonderem Maße zur Nachlassmehrung – oder dessen Erhalt – beigetragen haben, kann dies einen Ausgleichungsanspruch bei der Erbauseinandersetzung rechtfertigen.
Selbst die möglicherweise Jahrzehnte zurückliegenden Leistungen der Kinder im Rahmen der §§ 1619, 1620 BGB stehen der Ausgleichungspflicht nicht entgegen.
In den erbrechtlichen Fokus gelangen immer häufiger Pflegeleistungen von Abkömmlingen gegenüber ihren Eltern. Diese rechtfertigen nach der derzeitigen Gesetzeslage nur dann einen Ausgleichungsanspruch wenn die Pflege und der Verzicht auf berufliches Einkommen erfolgt (§ 2057 a Abs. 1 S. 2 BGB). Diese Situation soll nach dem Willen der Bundesregierung (Regierungsentwurf vom 30.01.2008) durch die Schaffung eines § 2057 b BGB-E geändert werden.
Pflege wird mittlerweile als gesellschaftliche Aufgabe verstanden. Es wird nunmehr auch erkannt, dass alle gesetzlichen Erben – also auch der Ehepartner – an der Ausgleichung beteiligt werden sollen, was nach der bisherigen Gesetzeslage nicht der Fall war und zu Ungereimtheiten führte.
Weil es immer mehr ältere Menschen in unserer Gesellschaft gibt und diese im Falle einer Pflegebedürftigkeit nach Möglichkeit in ihrem häuslichen Bereich gepflegt werden möchten und dabei der Unterstützung ihrer Kinder und Ehepartner bedürfen, kann angenommen werden, dass die Ausgleichungspflicht auf Grund von Sonderleistungen nach §§ 2057 a, 2057 b BGB-E in Zukunft häufiger bei der Erbauseinandersetzung zu beachten sein wird.