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III. Rechtspragmatismus
Die beiden vorangegangenen Abschnitte haben den Einfluss der pragmatistischen
Philosophie auf das amerikanische Rechtsdenken bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts
aufzuzeigen versucht. Dieser Einfluss war so erheblich, dass der Rechtspragmatismus mit einiger Berechtigung in den Rang einer eigenen rechtstheoretischer Richtung erhoben werden kann. Allerdings herrscht einiges an Unklarheit darüber, was
genau den Rechtspragmatismus nun inhaltlich kennzeichnet, Diese Unklarheit zeigt
sich unter anderem daran, dass die Liste der Vertreter des „Legal Pragmatism“ bei
jedem Autor anders auszufallen scheint920. Um dem Begriff des Rechtspragmatismus schärfere Konturen zu verleihen, soll daher im folgenden zunächst versucht
werden, diejenigen inhaltlichen rechtstheoretischen Positionen festzumachen, die
den Legal Pragmatism charakterisieren und die in einer unmittelbaren Verbindung
mit der Philosophie des Pragmatismus stehen. Anschließend soll auf der Grundlage
dieser Positionsbestimmung der Rechtspragmatismus als Ausdruck einer „Revolt
against formalism“921 im Recht eingeordnet werden, der eine empiristische Wende
im amerikanischen Rechtsdenken bewirkte. Schließlich werden verschiedene Einwände diskutiert, die sich gegen ein pragmatistisches Rechtsverständnis ergeben.
1. Elemente der pragmatistischen Rechtstheorie
Die pragmatistische Rechtstheorie wird vor allem durch vier Elemente charakterisiert: Einen realistischen Rechtsbegriff, ein instrumentalistisches Verständnis von
Rechtsbegriffen und Normen, der Forderung nach einer primär an ihren sozialen
Folgen orientierten Rechtsanwendung, sowie der Auffassung, dass Rechtswissenschaft vor allem als eine Form empirischer Sozialwissenschaft betrieben werden
sollte.
920 So zählt Summers zu den „pragmatischen Instrumentalisten“ etwa neben Pound, Holmes
und Dewey auch zahlreiche Legal Realists wie etwa Llewellyn, während Cardozo auf seiner Liste fehlt, vgl. Summers (1983) S. 27 ff. Posner hingegen zählt Cardozo ganz selbstverständlich zu den Legal Pragmatists, Posner (2003) S. 182. Für Thomas Grey gehört auch
der Naturrechtler Lon Fuller zu den Rechtspragmatisten (Grey (1998) S. 257. Und für
Smith (1990) S. 410 ist selbst Ronald Dworkin ein verkappter Pragmatist, obwohl Dworkin
selbst seine Theorie des Rechts als einen Gegenentwurf zum Legal Pragmatism sieht, dazu
unten S. 317 ff. Zur Verwirrung um den Begriff des Rechtspragmatismus auch Cotter
(1996) S. 2071 ff.
921 So die Charakterisierung von White (1952).
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a) Realistischer Rechtsbegriff
Den Kern des Legal Pragmatism bildet ein realistischer Rechtsbegriff. Das Recht
wird nicht als ein System von Normen, Prinzipien und Begriffen betrachtet, sondern
als ein Gefüge realer Institutionen, Tatsachen und Entscheidungen, dessen Verhalten
sich beschreiben und voraussagen lässt. Erstmals und am prägnantesten von Holmes
formuliert („The prophecies of what the courts will do in fact ... are what I mean by
the law“922), ist der realistische Rechtsbegriff eine direkte Anwendung der pragmatischen Maxime von Peirce auf das Recht. Wichtig ist dabei, dass dieser realistische
Rechtsbegriff das Recht nicht in den einzelnen Entscheidungen und Anwendungsakten aufgehen lässt, sondern auf die hinter diesen stehenden Regelmäßigkeiten abzielt923.
b) Instrumentalismus
Charakteristisch für den Rechtspragmatismus ist sein Instrumentalismus, der in
zweierlei Erscheinungsformen auftaucht. Zum einen in der Auffassung, dass das
Recht kein autonomes Gebilde ist, sondern immer nur als Instrument zur Durchsetzung sozialer und politischer Zwecke dient. Ein solcher Instrumentalismus ist freilich nicht unbedingt spezifisch pragmatistisch, sondern in dieser Form z.B. auch in
utilitaristischen Rechtstheorien zu finden924.
Genuin pragmatistisch ist jedoch die Auffassung, dass auch Normen, Prinzipien
und Rechtsbegriffe einen instrumentellen Charakter haben. Ähnlich wie Hypothesen
im wissenschaftlichen Forschungsprozess beinhalten sie lediglich eine Prognose,
was vor dem Hintergrund bisherigen Erfahrungswissens die voraussichtlich sinnvollste Handlungsalternative darstellt925.
c) Folgenabwägung als zentrales Kriterium der Rechtsanwendung
Da Normen und Präzedenzfälle im Rechtspragmatismus nur den Charakter von
Hypothesen haben, besteht die Rechtsanwendung nicht mehr in erster Linie unter
922 Holmes (1992) S. 163.
923 Anders z.T. der reduktionistische Rechtsbegriff des Legal Realism, vgl. oben S. 296 f.
924 Vgl. dazu etwa Grey (1998) S. 256 f.
925 Die Umwertung der Norm in der pragmatistischen Rechtstheorie besteht in dieser Umdeutung von einer unbedingten Sollensvorschrift in eine prinzipiell falsifizierbare Hypothese.
Demgegenüber meint Löffelholz (1967) S. 69 ff., der Pragmatismus begreife die Norm lediglich als deskriptive Rechtsregel, der jeglicher präskriptiver Gehalt abgehe. Doch dies
trifft nur auf das Normverständnis einiger Legal Realists zu. Für den Rechtspragmatisten
behält die Norm zwar nicht als zwingende Handlungsanweisung aber doch als Handlungsvorschlag noch einen spezifisch normativen Sinngehalt.
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der Subsumtion eines Sachverhalts unter Normen, sondern die Prognose und Abwägung der möglichen Entscheidungsfolgen rückt in den Mittelpunkt. Rechtsanwendung ist somit ein auf die Zukunft, auf mögliche Konsequenzen ausgerichteter Prozess. Dieser rechtstheoretische Konsequentialismus findet seine Grundlage in der
Kernthese der pragmatistischen Philosophie, dass sich die Rationalität des Handelns
wesentlich danach bestimmt, dass es sich seiner möglichen praktischen Folgen bewusst ist.
d) Rechtswissenschaft als empirische Sozialwissenschaft
Aus dem realistischen Rechtsbegriff folgt unmittelbar ein spezifisches Verständnis
des Wesens und der Aufgaben von Rechtswissenschaft. Ihre Aufgabe besteht nicht
mehr darin, Normen, Prinzipien und Präzedenzfälle in ein geschlossenes Begriffssystem zu integrieren, mit dem Ziel, Einzelfälle im Wege bloßer Deduktion aus dem
System lösen zu können. Die Rechtswissenschaft hat vielmehr die Aufgabe, die vielfältigen sozialen und politischen Kontexte zu erforschen, in die das Recht eingebettet ist, und die die Entscheidungen der Rechtsanwender ebenso beeinflussen wie
umgekehrt deren Entscheidungen auf die soziale Wirklichkeit zurückwirken. Daher
besteht die wichtigste Aufgabe der Rechtswissenschaft darin, im Zusammenspiel mit
anderen Sozialwissenschaften ein Instrumentarium zu entwickeln, mit dem sich die
tatsächlichen sozialen Folgen von Entscheidungen prognostizieren lassen. Da diese
Konsequenzen sozialer und damit tatsächlicher Natur sind, ist es für ihre Prognose
und Abwägung unerlässlich, auch andere Sozialwissenschaften wie Ökonomie, Statistik und Soziologie heranzuziehen.
Dieses Verständnis von Rechtswissenschaft kann auf die pragmatistische Wissenschaftstheorie zurückgeführt werden, die ebenfalls einen primär empirischen Zugang
zu ihren Gegenständen postulierte, und die – in Anlehnung an die experimentelle
Methode der Naturwissenschaft – den Kern wissenschaftlicher Erkenntnis in der
Vorhersage von Handlungskonsequenzen verortete.
Legt man diese Elemente einer pragmatistischen Rechtstheorie zugrunde, so
kommt man zu dem Ergebnis, dass neben Dewey vor allem Holmes als ein prototypischer Rechtspragmatist zu gelten hat. Auch die Sociological Jurisprudence kann
vor diesem Hintergrund als ein Ausdruck pragmatistischen Rechtsdenkens gelten.
Für den Legal Realism gilt dies jedoch nur eingeschränkt. Er hat zwar wesentliche
Anregungen von Seiten der pragmatistischen Philosophie erfahren, andererseits sind
aber auch erhebliche Differenzen zwischen beiden zu konstatieren. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf seine reduktionistische Interpretation des realistischen
Rechtsbegriffs, sein Normverständnis und ein insbesondere bei Llewellyn zu beobachtendes Festhalten an einem strikten Dualismus von Sein und Sollen. Deshalb ist
auch die Einschätzung von Fikentscher problematisch, der im Legal Realism mehr
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als im Rechtsdenken von Holmes und Pound den konsequentesten Ausdruck pragmatistischen Denkens im Recht sieht926.
Nach den hier aufgeführten Merkmalen pragmatistischer Rechtstheorie weisen
Pound und vor allem Holmes aber wesentlich pragmatistischere Züge auf als der
Legal Realism, der sich eher als eine einseitige Zuspitzung einiger Elemente der
durch Holmes eingeleiteten empiristischen Wende in der amerikanischen Rechtswissenschaft darstellt.
2. Die empiristische Wende im amerikanischen Rechtsdenken
Der Rechtspragmatismus entstand als eine Reaktion auf die Krise, in die das amerikanische Rechtsdenken gegen Ende des 19. Jahrhunderts geraten war: Der an den
Universitäten gelehrte und an vielen Gerichten praktizierte juristische Formalismus
hatte zu einer Kluft zwischen dem Recht und der sozialen Wirklichkeit geführt. Dieser Form von Begriffsjurisprudenz, für die Rechtsanwendung vor allem eine Frage
korrekter logischer Begriffsoperationen war, entsprang eine Rechtsprechungspraxis,
die zunehmend als unflexibel, unzeitgemäß und oftmals auch als ungerecht empfunden wurde. Die Lochner-Entscheidung927 ist das prominenteste Beispiel für dieses
Auseinanderklaffen von Recht und sozialer Wirklichkeit.
a) Realistischer Rechtsbegriff statt des Dualismus von Sein und Sollen
Der Rechtspragmatismus hatte sich zur Aufgabe gesetzt, diese Kluft wieder zu
schließen. Er leitete dafür einen radikalen rechtstheoretischen Paradigmenwechsel
ein, der am deutlichsten in seinem realistischen Rechtsbegriff zum Ausdruck kam.
Die traditionelle Rechtstheorie hatte eine rationalistische Auffassung vom Wesen
des Rechts. Es war für sie in erster Linie ein Gefüge aus Normen, Prinzipien und
Begriffen. Dieser Sphäre des normativen Sollens stand die empirische Rechtswirklichkeit gegenüber und daher war das große Thema der rationalistischen Rechtstheorie, wie das Verhältnis von Sein und Sollen zu bestimmen war.
Diesem Rationalismus setzte der Rechtspragmatismus ein primär empirisches
Verständnis des Rechts entgegen, wie es sich in seinem realistischen Rechtsbegriff
ausdrückt. Das Recht war eine Form der Gestaltung der sozialen Umwelt, entsprechend war die Bedeutung des Rechtsbegriffs definiert durch die sozialen Konsequenzen, die die Rechtsanwendung hervorbrachte. Dieser Rechtsbegriff erwuchs
konsequent aus dem Boden der pragmatistischen Philosophie. Aus deren Perspektive
erschien die strikte Trennung von Sein und Sollen, die das rationalistische Rechtsverständnis charakterisierte, nur als ein weiterer überflüssiger Dualismus, der einer
926 Fikentscher (1975) S. 275 ff.; ähnlich Rea-Frauchiger (2006) S. 29.
927 Dazu oben S. 211.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der klassische Pragmatismus steht für einen amerikanischen Sonderweg in die philosophische Moderne. Auch die Entwicklung des amerikanischen Rechtsdenkens wurde durch den Pragmatismus von C.S. Peirce und John Dewey bis heute maßgeblich geprägt. Strömungen wie der "Legal Realism" oder die "Economic Analysis of Law" wären ohne das gedankliche Fundament der pragmatistischen Philosophie nicht denkbar.
Das Buch zeichnet den Einfluss des Pragmatismus auf die amerikanische Rechtstheorie über einen Zeitraum von 150 Jahren von Oliver Wendell Holmes" "The Common Law" bis zum modernen "Legal Pragmatism" eines Richard Posner nach. Der Verfasser veranschaulicht zudem den engen Zusammenhang, der zwischen der pragmatistischen Rechtstheorie und einem deliberativen Demokratieverständnis besteht. Für die Frage, wie das Spannungsverhältnis zwischen dem Willen des demokratischen Gesetzgebers und der Autonomie des Rechtssystems aufzulösen ist, kann der Pragmatismus neue Perspektiven liefern. Deshalb ist es lohnend, sich auch auf dem alten Kontinent mit ihm auseinanderzusetzen.