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II. Pragmatismus und amerikanische Rechtstheorie 1900-1950
Oliver Wendell Holmes hatte dem pragmatistischen Denken zum Durchbruch in der
Rechtstheorie verholfen und so die Grundlage für einen empirisch orientierten Gegenentwurf zum vorherrschenden Rechtsformalismus geschaffen. Danach gewann
dieses Denken weiter an Einfluss und dominierte spätestens seit den 20er Jahren des
vorigen Jahrhunderts die rechtstheoretische Diskussion in den Vereinigten Staaten.
Die Philosophie des Pragmatismus, die etwa zur gleichen Zeit ihre einflussreichste
Periode durchlebte, lieferte dabei der empirischen Rechtstheorie in vielerlei Hinsicht
das gedankliche Fundament. Zum Teil, etwa durch die rechtstheoretischen Arbeiten
John Deweys, wirkte sie auch direkt an der Formulierung des neuen – empirischen –
Rechtsparadigmas mit. Die einflussreiche Schule der Sociological Jurisprudence war
ihrem Selbstverständnis nach eine Anwendung pragmatistischer Ideen auf die
Rechtstheorie. Mit dem Legal Realism schließlich wurde der Rechtsformalismus
endgültig aus den Universitäten und Gerichtssälen verabschiedet und das empiristische Rechtsverständnis entfaltete seine radikalste Ausprägung.
1. John Dewey und die logische Methode im Recht
Nur ein verhältnismäßig kleiner Teil von Deweys umfangreichem Werk beschäftigt
sich explizit mit Fragen des Rechts und der Rechtstheorie831. Gleichwohl hat Dewey
einen großen Einfluss auf die amerikanische Rechtstheorie in der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts ausgeübt832, da sein pragmatischer Instrumentalismus eine ideale
Grundlage für eine empirische Theorie des Rechts abgab.
a) Deweys realistischer Rechtsbegriff
Dewey erkennt in Holmes folgerichtig einen Verbündeten, wenn es darum geht, das
Recht aus einer empirischen Perspektive zu betrachten. Ebenso wie Holmes vertritt
Dewey einen konsequent realistischen Rechtsbegriff:
831 Relevant sind hier vor allem die Aufsätze “Nature and Reason in Law” (MW 7.56 ff.);
“Justice Holmes and the Liberal Mind” (LW 3.177 ff.); „Logical Method and the Law“,
1924 = LML (MW 15.65 ff.) sowie „My Philosophy of Law“, 1941 = MPL (LW 14.115
ff.).
832 So führten die Rechtsrealisten Walther Wheeler Cook und Underhill Moore ihre Hinwendung zu einer empirischen Sichtweise auf das Recht auf den Einfluss von Dewey zurück,
vgl. Feldmann (2000) S. 110. Insbesondere Cook hatte zahlreiche Vorlesungen Deweys gehört und bezeichnete sie als „one of the most helpful things I have ever had“. Zum Einfluss
Deweys auf Cook und Moore vgl. insb. Schlegel (1995) S. 24 f; 225 ff..
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„law is through and through a social phenomenon; social in origin, in purpose or end, and in
application“833. Daraus folgt, dass “A given legal arrangement is what it does, and what it does
lies in the field of modifying and/or maintaining human activitites as going concerns”834.
Inhaltlich handelt es sich dabei um nichts anderes als eine verallgemeinerte Form
von Holmes’ Prediction-Theory-Of-Law, die ja ihrerseits wieder nur eine Anwendung der pragmatischen Maxime von Peirce auf den Begriff des Rechts war835: Das
Recht wird definiert durch die praktischen sozialen Konsequenzen, die es bewirkt.
Es ist keine metaphysische Entität, es ist nicht in einer deontologischen normativen
Sphäre verortet, sondern es ist eine Form sozialen Handelns.
Ebenso wie Holmes liegen die Quellen des Rechts auch für Dewey nicht außerhalb der Erfahrung. Beide begreifen das Recht als eine historisch gewachsene Verkörperung von Verhaltensgewohnheiten und Bräuchen836. Dewey gebraucht hierfür
das Bild eines Stromes, der durch ein Tal fließt und sich dabei im Lauf der Zeit sein
Flussbett formt. Während der Strom selbst den Zeitfluss der sozialen Ereignisse repräsentiert, bilden das Recht und sonstige Verhaltensgewohnheiten und Traditionen
die Uferbänke, die einerseits den Weg bestimmen, den das Wasser auf seinem Weg
durch das Tal nimmt, andererseits aber auch im Laufe der Zeit selbst erst durch dieses Wasser geformt werden837. Der soziale Entwicklungsprozess und die durch
Recht, Moral und Tradition ausgeformten Verhaltensgewohnheiten beeinflussen sich
so wechselseitig. Ebenso wie in seiner Erkenntnistheorie und seiner Moralphilosophie versucht Dewey auch in der Rechtstheorie, eine durch und durch naturalistische
Erklärung seines Gegenstandes zu liefern und so den Rückgriff auf Erklärungsmodelle außerhalb der empirischen Erfahrung überflüssig zu machen838. Damit wird
zunächst freilich nur aus der Perspektive eines externen Beobachters die historische
Entstehung des Rechts als sozialem Phänomen erklärt.
Aus der Perspektive derjenigen, die das Recht setzen und anwenden, stellt sich
aber darüber hinaus die Frage, welche Kriterien und Standards sie hierfür heranziehen sollen. Dewey meint, auch hierfür nicht auf außerempirische Quellen, etwa ein
Natur- oder Vernunftrecht, zurückgreifen zu müssen. Vielmehr sollen auch Rechtsetzung und –anwendung sich vor allem an den Folgen orientieren, die sie voraussichtlich herbeiführen werden: „the standard is found in consequences, in the function of what is going on socially“839. Dewey nimmt dabei keine Einschränkung im
Hinblick darauf vor, welche Art von Folgen für die Rechtsanwendung relevant sein
sollen. Grundsätzlich sind also soziale Folgewirkungen jeglicher Art zu berücksichtigen. Damit aber wird die Rechtsanwendung zu einem genuin politischen Gestaltungsakt, da nicht mehr nur rechtliche, sondern auch zahlreiche andere gesellschaftlich relevante Faktoren für die Entscheidung maßgeblich werden.
833 Dewey LW 14.117 (MPL).
834 Dewey LW 14.118 (MPL).
835 Dazu oben S. 214 ff.
836 Dewey LW 14.118 (MPL).
837 Dewey LW 14.118 f. (MPL).
838 Vgl. Dewey LW 14.120 (MPL).
839 Dewey LW 14.122 (MPL).
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Umso dringender stellt sich dann aber die Frage, nach welchen Maßstäben die
Entscheidung zu erfolgen hat. Dafür reicht es nicht allein aus, die sozialen Folgen
einer Entscheidung zu ermitteln, denn die Feststellung, welche Konsequenzen ein
bestimmter Akt nach sich ziehen wird, besagt noch nicht, wie diese Konsequenzen
zu beurteilen sind. Die faktischen Konsequenzen als solche ergeben noch keinen
normativen Standard, sondern es sind Kriterien und Maßstäbe erforderlich, die angeben können, ob diese Konsequenzen im konkreten Fall erwünscht oder unerwünscht sind. Wie auch in seiner Moralphilosophie lehnt Dewey freilich auch in
Bezug auf das Recht die Vorstellung ab, solche Kriterien und Standards könnten erfahrungsunabhängig vorgegeben sein840. Stattdessen geht er davon aus, dass diese
Kriterien sich ohnehin notwendigerweise im Zuge des sozialen Wandels ändern
werden und müssen. Deshalb ist es auch wichtig, dass die „standards of judgment“
selbst zum Gegenstand des Forschungsprozesses werden, d.h. dass sie gegebenenfalls auch selbst auf ihre sozialen Konsequenzen und deren Erwünschtheit hin hinterfragt werden. Wie schon in der Moralphilosophie841 führt diese Argumentation
deshalb nicht in einen infiniten Regress hinein, weil es auch im Recht immer um
Entscheidungen vor dem Hintergrund einer konkreten Problemsituation geht. Dewey
geht davon aus, dass sich anhand der Erfordernisse der konkreten Situation und dem
Umstand, dass in jeder Situation genügend Werte und Normen vorhanden sein werden, die unstreitig sind, immer ausreichende Kriterien vorhanden sein werden, um
die Konsequenzen der Entscheidungsalternativen abschließend zu beurteilen. Auch
Deweys Rechtstheorie liegt so ein Gedanke zugrunde, der schon für Deweys Theorie
der Forschung und seine Moralphilosophie wesentlich war. Nämlich dass es sich
beim (wissenschaftlichen, moralischen oder rechtswissenschaftlichen) Forschungsprozess um einen selbst lernenden und sich selbst steuernden Prozess handelt, der in
der Lage ist, seine Kriterien selbst ständig zu verbessern und sich ändernden Umweltbedingungen anzupassen842.
b) Die logische Methode im Recht
In seinem Aufsatz „Logical Method and the Law“ hat Dewey sich ausführlicher damit beschäftigt, welches Verständnis von Logik bei der Rechtsanwendung zugrunde
gelegt werden sollte. Dabei bezieht er sich ausdrücklich auf Holmes' Diktum „The
life of the law has not been logic. It has been experience.”843.
Dewey stellt zunächst fest, dass in der amerikanischen Rechtswissenschaft seiner
Zeit noch ein rein formales Verständnis von Logik dominiert: Es geht vor allem um
formale Widerspruchsfreiheit und die Konsistenz von Begriffen untereinander. Die
840 Dewey LW 14.121 f. (MPL).
841 Vgl. oben S. 79 ff.
842 Dewey spricht in Bezug auf die Rechtswissenschaft vom “never-ending process of improving standards of judgment”, LW 14.122 (MPL).
843 Dewey MW 15.69 (LML).
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Logik des Rechts ist in erster Linie eine Logik des Syllogismus844. Für Dewey beruht eine derartige Logik indes auf einer fehlerhaften Grundlage, der Annahme nämlich, Rechtsanwendung bestünde darin, eine allgemeine Norm zu ermitteln, unter die
der Einzelfall dann nur noch subsumiert werden müsste. In dieser Auffassung wittert
Dewey jedoch nichts anderes als einen weiteren Ausdruck jener verfehlten „Suche
nach Gewissheit“, die sich durch die vorgebliche Sicherheit und Konstanz abstrakter
Begrifflichkeiten gegen die Kontingenz und Wandelbarkeit der empirischen Wirklichkeit abzuschirmen versucht845. Zwar streitet Dewey der deduktiv verfahrenden
Subsumtionslogik nicht jegliche Berechtigung ab, sie könne durchaus angemessen
sein, um einmal getroffene juristische Entscheidungen nachträglich zu begründen846.
Doch auch hier diagnostiziert Dewey das Problem, dass formallogische Begründungen oftmals nur dazu dienen, die wahren Determinanten der Entscheidung, die regelmäßig nicht logischer, sondern politischer Natur sind, zu verdecken847. Sie seien
jedoch ungeeignet, um den juristischen Entscheidungsprozess selbst anzuleiten. Unschwer lässt sich der Adressat von Deweys Kritik ausmachen. Wie schon bei Holmes ist es die formale, begriffsjuristisch geprägte Jurisprudenz Langdell’scher Prägung, wie sie sich etwa in der Lochner-Entscheidung des Supreme-Court manifestiert hat848, die Dewey kritisiert, und die zum Zeitpunkt des Erscheinens von Deweys
Aufsatz im Jahr 1924 immer noch den Stil an den US-Gerichten prägte849, obwohl
sie – nicht zuletzt durch den Einfluss von Holmes – zunehmend in die Kritik geriet.
Ebenso wie Holmes ist auch Dewey der Auffassung, Rechtsanwendung sei keine
Frage formaler Logik, sondern in erster Linie eine Erfahrungswissenschaft850. Anders als Holmes war Dewey aber in der Lage, diesen Ansatz durch den Rückgriff auf
eine ausgearbeitete „Logic of Experience“ substantiell zu konkretisieren. Dewey sah
bei der Logik der Rechtsanwendung zwar nicht exakt dieselbe Logik am Werk wie
in den Naturwissenschaften851, doch war er der Überzeugung, hier wie dort sollte
eine Logik der Suche und Entdeckung statt einer deduktiven Logik der Demonstration zur Anwendung kommen852.
844 Dewey MW 15. 68 f. (LML).
845 Dewey MW 15.70 f. (LML). Zum Motiv der „Suche nach Gewissheit“ vgl. oben S. 45 ff.
846 Dewey MW 15.72 f. (LML). Die darin enthaltene Unterscheidung zwischen „Herstellung“
und „Begründung“ einer juristischen Entscheidung ist freilich nicht ganz unproblematisch.
Denn es lässt sich mit guten Gründen hinterfragen, ob die „Herstellung“ tatsächlich einer
anderen Logik folgen darf als die „Begründung“. Vgl. dazu etwa Pawlowski (1999) S. 73 f.
mwN.
847 Dewey LW 3.181 (Justice Holmes and the Liberal Mind).
848 Vgl. dazu oben S. 211 f.
849 Feldmann (2000) S. 105. Die endgültige Abkehr von der formalistischen Jurisprudenz erfolgte erst im Zuge des „Legal Realism“, dazu unten S. 289 ff.
850 „logic is ultimately an empirical and concrete discipline“, Dewey MW 15.68. (LML). Gemeint ist hier natürlich die Logik als Logik des Forschungsprozesses im Sinne Deweys und
eben nicht Logik als eine rein formale Disziplin.
851 Dewey MW 15.72 (LML).
852 Dewey MW 15.70 (LML).
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Für Dewey beginnt der juristische Entscheidungsprozess wie jede andere Forschungssituation auch mit einer zweifelhaften und ungeklärten Situation853. Der
Rechtsanwender wird sodann verschiedene Alternativen ersinnen, wie diese Situation geklärt werden kann. Diese Alternativen werden dann anhand ihrer Konsequenzen bewertet und sodann werden nur diejenigen Alternativen weiter verfolgt, deren
Konsequenzen wünschenswert erscheinen. Insbesondere der Rechtsanwalt wird seine juristische Argumentation in erster Linie darauf aufbauen, welche Rechtsposition
zu den besten Konsequenzen für seinen Mandanten führt. Die Analyse der verschiedenen Entscheidungsalternativen auf ihre möglichen Konsequenzen hin ist deshalb
für Dewey der entscheidende Gesichtspunkt bei Rechtsanwendung und Rechtssetzung. Die Berücksichtigung von Entscheidungsfolgen, nicht die Subsumtion ist es,
die die Rationalität einer juristischen Entscheidung ausmacht854. Die Ermittlung von
Entscheidungsfolgen ist freilich etwas, was mit den Mitteln der Jurisprudenz allein
nicht zu leisten ist, sondern wozu es der Hilfe anderer Wissenschaften, etwa der Soziologie oder der Ökonomie bedarf:
„it demands that intelligence, employing best scientific methods and materials available, be
used, to investigate, in terms of the context of actual situations, the consequences of legal rules
and proposed legal decisions and acts of legislation”855. Auch dies ein Punkt, der schon im
Rechtsinstrumentalismus von Holmes angeklungen war, der ja ebenfalls verlangt hatte, dass
der künftige Rechtsanwender vor allem auch ein „man of statistics and master of economics“
zu sein habe856.
Die Subsumtion des Einzelfalls unter die Norm hat dagegen nur noch eine untergeordnete Bedeutung. Ihr kommt nur noch die Funktion zu, die primär anhand der
Folgenabwägung getroffenen Schlussfolgerungen in eine kohärente juristische Form
zu bringen, die für die Beteiligten (etwa den Richter oder eine Jury) akzeptabel ist
und später zur Begründung der Entscheidung dienen kann. Dabei besteht ein wesentlicher Teil der analytischen Leistung des Rechtsanwenders darin, zunächst einmal
die fallrelevanten Normen und Tatsachen ausfindig zu machen, die dann Ober- und
Untersatz des Subsumtionsschlusses bilden857. Die traditionelle Rechtstheorie hat
diesen Aspekt vernachlässigt und sich stattdessen auf die Probleme der Subsumtion
konzentriert, ohne danach zu fragen, wie die einschlägigen Normen ermittelt und der
Sachverhalt subsumtionsfähig aufbereitet werden kann.
Für Dewey liegt es auf der Hand, dass diese Aufgaben nur erfüllt werden können,
wenn der Rechtsanwender bereits eine konkrete Vorstellung davon hat, welche Konsequenzen er durch den Rechtsanwendungsakt herbeigeführt sehen will. Im Ergebnis
wird die Entscheidung demnach nicht mehr durch die Subsumtion des Einzelfalls
unter die Norm determiniert, sondern die Subsumtion dient nur mehr noch dazu, ei-
853 Dewey MW 15.71 (LML).
854 Vgl. Dewey 14.122 (MPL).
855 Dewey LW 14.122 (MPL).
856 Vgl. oben S. 231 f.
857 „The problem is to find statements, of general principle and of particular fact, which are
worthy to save as premisses.“, Dewey MW 15.71 (LML).
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ne bereits in erster Linie anhand der Folgenabwägung gefundene Entscheidung
nachträglich zu rechtfertigen.
c) Normbegriff und Gesetzesbindung
Das wirft die Frage auf, inwieweit in diesem Modell überhaupt noch von einer Bindung des Rechtsanwenders an das Gesetz gesprochen werden kann. Grundsätzlich
kann die Gesetzesbindung nicht nur dadurch erreicht werden, dass der Rechtsanwender in seiner Entscheidung ausschließlich durch die Norm bestimmt wird. Ein
solches Modell ist infolge der Lückenhaftigkeit und Interpretationsbedürftigkeit von
Normtexten auch unrealistisch. Eine Gesetzesbindung ist jedoch auch als eine mittelbare denkbar. Danach ist lediglich erforderlich, dass die – nach welchen Kriterien
auch immer – getroffene Entscheidung jedenfalls nachträglich aus dem Gesetz heraus begründet werden kann, indem sie sich in ein Subsumtions- und Auslegungsschema einordnen lässt. Es ist danach unerheblich, ob die Entscheidung tatsächlich
auf dem Gesetz gegründet ist, sie muss lediglich durch dieses begründbar sein. In
diesem Modell determiniert das Gesetz zwar nicht unmittelbar die Entscheidung, es
setzt den Entscheidungsmöglichkeiten jedoch Grenzen indem nur solche Akte als
rechtmäßig angesehen werden, die begründungsfähig in dem Sinne sind, dass die
Entscheidung sich auch allein aus dem Gesetz hätte ableiten lassen. Auch dieses
Modell von Gesetzesbindung setzt jedoch voraus, dass der Norm grundsätzlich eine
Bindungswirkung zugesprochen wird, über die sich der Rechtsanwender nicht hinwegsetzen darf.
Dewey scheint aber nicht bereit zu sein, Rechtsnormen ohne weiteres eine solche
unbedingte Bindungswirkung zuzugestehen. Für ihn haben Rechtsnormen vielmehr
den Charakter von Arbeitshypothesen, die sich immer wieder neu in konkreten Situationen bewähren müssen, d.h. ihre Anwendung muss zu wünschenswerten Konsequenzen führen858. Das aber bedeutet, dass der Rechtsanwender auch entgegen dem
eindeutigen Wortlaut der Norm entscheiden darf, sofern dies auf lange Sicht zu vorzugswürdigen Konsequenzen führt. Zwar heißt dies nicht, dass Dewey einer reinen
Einzelfallbetrachtung das Wort redet, denn bei der Abwägung fallen stets auch das
Interesse an der Vorhersehbarkeit und Konsistenz der Entscheidungspraxis stark ins
Gewicht859, so dass dieses Interesse an langfristiger Stabilität auch Entscheidungen
rechtfertigt, die im Einzelfall kurzfristig nachteilige Folgen nach sich ziehen, etwa
wenn der Richter dem Erben im Interesse der Rechtssicherheit auch dann die ihm
nach den Normen des Erbrechts zustehende Fabrik zuspricht, wenn der Erbe unternehmerisch sichtlich ungeeignet ist und er die Fabrik womöglich bald ruinieren
wird.
Dennoch geht Dewey in dieser Frage deutlich über Holmes hinaus, der zwar ebenfalls der Folgenabschätzung und –bewertung eine maßgebliche Rolle im Rechts-
858 „general legal rules and principles are working hypotheses“, Dewey MW 15.75 (LML).
859 Dewey MW 15.73 f. (LML).
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anwendungsprozess eingeräumt hatte, der aber gleichzeitig auch die unbedingte
Bindungswirkung einer im Wortlaut eindeutigen Norm bejaht hatte860. Dagegen
steht in Deweys Modell die Norm bei jedem Anwendungsfall zumindest im Prinzip
zur Disposition. Sie darf missachtet werden, wenn dies – auch unter Berücksichtigung des Rechtssicherheitsinteresses – auf lange Sicht zu den vorzugswürdigeren
Konsequenzen führt. Damit wird der Gedanke der Gesetzesbindung jedenfalls im
Grundsatz aufgegeben861.
Vergleicht man die rechtstheoretischen Auffassungen von Dewey mit denen von
Holmes, so ergeben sich so weitgehende Parallelen, dass es gerechtfertigt erscheint,
beide als Vertreter eines Rechtspragmatismus anzusehen. Beide vertreten einen konsequent realistischen Rechtsbegriff, der im Recht vor allem einen Ausdruck der sozialen Verhältnisse sieht. Beide propagieren zudem einen Rechtsinstrumentalismus,
wonach das Recht ein Werkzeug zur zielgerichteten Gestaltung und Verbesserung
der sozialen Verhältnisse darstellt. Rechtsanwendung beinhaltet daher immer auch
eine politische Komponente und lässt sich nicht auf eine apolitisches juristisches
Handwerk reduzieren. Bei dieser Gestaltung ist es zudem notwendig, dem Gesetzgeber einen breiten Ermessensspielraum für soziale Experimente zu belassen, da nur
auf diesem Wege sozialer Fortschritt möglich ist862.
Holmes und Dewey ergänzen sich dabei wechselseitig. Während Holmes eine
vergleichsweise elaborierte pragmatistische Rechtstheorie vorlegt, verfügt er – in
Form des Konzepts vom „marketplace of ideas“ – nur in Ansätzen über eine Theorie
der Demokratie. Bei Dewey hingegen ist ein ausgereiftes demokratietheoretische
Fundament vorhanden, er ist jedoch nicht immer ausreichend sensibel für die spezifische Funktionsweise des Rechts, wie beispielsweise seine Ausführungen zur Frage
der Gesetzesbindung belegen.
2. Roscoe Pound, Benjamin Cardozo und die Sociological Jurisprudence
Die Hinwendung zu einem empiristisch geprägten Verständnis des Rechts, die durch
Holmes eingeleitet worden war, fand eine Fortsetzung in der Bewegung der Sociological Jurisprudence. Zu ihren wichtigsten Vertretern gehörten Roscoe Pound und
Benjamin Cardozo.
860 Dazu oben S. 266 f.
861 Zu den Problemen dieser Auffassung vgl. unten S. 314 ff.
862 Dewey teilt ausdrücklich Holmes Verständnis von der Verfassung als einem immerwährenden sozialen Experiment, vgl. Dewey LW 3.179 f. (Justice Holmes and the Liberal Mind).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der klassische Pragmatismus steht für einen amerikanischen Sonderweg in die philosophische Moderne. Auch die Entwicklung des amerikanischen Rechtsdenkens wurde durch den Pragmatismus von C.S. Peirce und John Dewey bis heute maßgeblich geprägt. Strömungen wie der "Legal Realism" oder die "Economic Analysis of Law" wären ohne das gedankliche Fundament der pragmatistischen Philosophie nicht denkbar.
Das Buch zeichnet den Einfluss des Pragmatismus auf die amerikanische Rechtstheorie über einen Zeitraum von 150 Jahren von Oliver Wendell Holmes" "The Common Law" bis zum modernen "Legal Pragmatism" eines Richard Posner nach. Der Verfasser veranschaulicht zudem den engen Zusammenhang, der zwischen der pragmatistischen Rechtstheorie und einem deliberativen Demokratieverständnis besteht. Für die Frage, wie das Spannungsverhältnis zwischen dem Willen des demokratischen Gesetzgebers und der Autonomie des Rechtssystems aufzulösen ist, kann der Pragmatismus neue Perspektiven liefern. Deshalb ist es lohnend, sich auch auf dem alten Kontinent mit ihm auseinanderzusetzen.