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auch immer lösen lassen. Doch ob ein gemeinsamer Konsens an Überzeugungen gegeben ist, auf dessen Grundlage sich dann vielleicht eine vernünftige Einigung finden lässt, kann nur herausgefunden werden, wenn man sich tatsächlich auch auf eine
Diskussion einlässt. Einen solchen Dialog will Rorty aber bereits von Beginn an
verweigern.
Rortys These, die Demokratie bedürfe keiner Begründung, ist somit kaum praktikabel, denn in einer pluralistischen Gesellschaft wird eine demokratische Ordnung
nur so lange bestehen können, wie sie sich argumentativ zu rechtfertigen weiß. Der
Pragmatismus schließt eine solche Rechtfertigung nicht aus, sondern vermag ihr sogar Argumente zu liefern, die freilich keine "starke" Begründung im Sinne einer
vernunftnotwendigen Herleitung ergeben, aber immerhin das normative und epistemische Potential demokratischer Willensbildungsprozesse plausibel machen können618.
2. "Realistische" vs. "deliberative" Demokratietheorie
Wie bereits oben erörtert619 stellt die deliberative Demokratie hohe Ansprüche an die
politische Öffentlichkeit und an die Fähigkeiten und Tugenden der Bürger. Das wirft
die Frage auf, ob derartige Erwartungen angesichts der politischen Wirklichkeit
überhaupt realistisch sind. Der folgende Einwand von Richard Posner scheint daher
auf der Hand zu liegen:
"With half the population having an IQ below 100 ...., with the issues confronting modern
government highly complex, with ordinary people having as little interest in complex policy
issues as they have aptitude for them, and with the officials whom the people elect buffeted by
interest groups and the pressures of competitive election, it would be unrealistic to expect good
ideas and sensible policies to emerge from the intellectual disorder that is democratic politics
by a process aptly named deliberative."620
a) Beruht die deliberative Demokratietheorie auf unrealistischen Voraussetzungen?
Posners vernichtendes Urteil bestreitet das Vorliegen gleich mehrerer essentieller
Voraussetzungen deliberativer Demokratie: Zum einen seien die Bürger schon gar
nicht ausreichend an einer Deliberation zu den komplexen Fragen moderner Politik
interessiert. Zweitens: Selbst wenn sie es wären, fehlte es ihnen an der nötigen Bildung und Intelligenz, um sich ein vernünftiges Urteil bilden zu können. Und drittens
sei der demokratische Prozess durch die Einflussnahme von Interessengruppen derart manipuliert und verzerrt, dass man seine Ergebnisse kaum als Resultat einer Ab-
618 Zu "starken" und "schwachen" Begründungen der Demokratie vgl. auch Jörke (2003) S.
168 f.
619 Vgl. oben S. 190 f.
620 Posner (2003) S. 107.
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wägung vernünftiger Gründe deuten könne. Posners Analyse deckt sich über weite
Strecken mit derjenigen, die bereits Schumpeter für seine Zeit angestellt hat. Es ist
daher wenig erstaunlich, dass auch Posner ein Wettbewerbsmodell der Demokratie
befürwortet, wobei er sich vor allem auch auf Schumpeter bezieht621.
Während Posner bezweifelt, dass Bildung und Intelligenz bei der Mehrheit der
Bürger für ein anspruchsvolles deliberatives Demokratiekonzept ausreicht, glaubt
Reinhold Niebuhr, dass es ihnen an den hierfür notwendigen staatsbürgerlichen Tugenden fehlt, weil sie nicht imstande seien, ihre Eigeninteressen zugunsten des Gemeinwohls hintan zu stellen. Mit Blick auf Dewey schreibt Niebuhr:
"Not a suspicion dawns on Professor Dewey, that no possible organized inquiry can be as transcendent over the historical conflicts of interests as it ought to be to achieve the disinterested
intelligence which he attributes to it."622
Deweys Projekt, durch eine Reform des Bildungssystems demokratiefähige
Staatsbürger heranzuerziehen, hält er deshalb für eine naive Utopie623
Einen weiteren empirischen Einwand gegen das deliberative Demokratiekonzept
trägt Bernhard vor, wenn er anhand empirischer Untersuchungen zu öffentlichen
Kontroversen feststellt, dass öffentlich ausgetragene politische Meinungsverschiedenheiten oftmals weder zu einem Konsens noch auch nur zu einer Einstellungsänderung unter den Beteiligten geführt haben, so dass es fraglich erscheine, ob von politischen Diskursen tatsächlich eine legitimierende Wirkung ausgehen könne624. Peters stellt außerdem fest, dass das Postulat der Gleichheit der Diskursteilnehmer angesichts ausgeprägter hierarchischer Machtstrukturen sowohl in der institutionalisierten Politik als auch etwa in den Massenmedien weitgehend illusorisch ist625. Es
macht in der Realität einen gewichtigen Unterschied, ob in einer parlamentarischen
Debatte ein Hinterbänkler oder der Fraktionsvorsitzende das Wort ergreift. Und die
Meinung wie auch immer ausgewiesener Experten genießt in einer Fernsehdiskussion regelmäßig höhere Wertschätzung als das Urteil eines beliebigen Vertreters aus
dem Publikum.
b) Deliberative Demokratie als normatives Ideal
Den Kritikern aus dem realistischen Lager ist zunächst zuzugeben, dass ihre Diagnose des derzeitigen Zustandes der Demokratie - jedenfalls in den westlichen Industriestaaten - durchaus zutreffend ist. Ein weitverbreitetes Desinteresse der Bürger an
der Politik lässt sich ebenso wenig leugnen wie der Umstand, dass Institutionen und
Massenmedien oftmals in einer Art und Weise strukturiert sind, die deliberative Prozesse eher behindert als fördert. Die Frage ist jedoch, ob eine solche Kritik gegen
621 Dazu unten S. 296 ff.
622 Niebuhr (1941) S. 111.
623 Dazu Campell (1993) S. 23 f.
624 Peters (2001) S. 665 f.; vgl. dazu auch Neidhardt/Rucht (1998).
625 Peters (2001) S. 669 ff.
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das deliberative Demokratiemodell spricht oder gegen die vorherrschende demokratische Praxis. Die Theorie der deliberativen Demokratie versteht sich ja nicht in erster Linie als eine deskriptive Beschreibung der politischen Willensbildung, wie sie
derzeit tatsächlich stattfindet. Vielmehr geht es ihr vor allem, darum, aufzuzeigen,
wie diese Praxis aussehen sollte, indem sie die normativen Präsuppositionen und
Ideale offen legt, die ihr zugrunde liegen, auch wenn sie in der Realität momentan
nur höchst unvollkommen verwirklicht werden.
Die Feststellung, dass die derzeitige Praxis den Vorgaben deliberativer Demokratie nur unvollkommen entspricht, bedeutet daher nicht, dass diese ein per se verfehltes Konzept darstellt, sondern sie lässt viel eher den Schluss zu, dass die demokratische Praxis verbessert werden muss626. Entscheidend ist, dass das deliberative Demokratiemodell dabei eine Richtung vorgeben kann, wohin sich diese Praxis entwickeln sollte. Ein solches normatives Ideal, das als Orientierungspunkt für die Verbesserung der politischen Institutionen dienen kann, bleiben Realisten wie Posner
und Schumpeter jedoch schuldig.
Durchschlagend wäre die realistische Kritik nur dann, wenn sie aufzeigen könnte,
das schon die Annahme einer möglichen Fortentwicklung der demokratischen Praxis
hin zu einem deliberativen Ideal wirklichkeitsfremd wäre. Posner scheint diese Auffassung zu vertreten, wenn er behauptet,deliberative Demokratie sei "purely aspirational and unrealistic as rule by platonic guardians"627. Doch diese Ansicht ist nicht
überzeugend. Denn dass die demokratischen Verfahren tatsächlich auf Deliberation
angelegt sind, lässt sich kaum bestreiten. Ginge es im demokratischen Verfahren
nämlich lediglich darum, Abstimmungen über unterschiedliche Einzel- oder Gruppeninteressen herbeizuführen, so ließe sich schwerlich erklären, welche Funktion
dann etwa noch parlamentarischen Debatten oder anderen Diskussionsforen, die den
Abstimmungen vorausgehen, zukäme. Solche Einrichtungen des demokratischen
Verfahrens sind nur dadurch zu erklären, dass es in ihnen tatsächlich zumindest auch
darum gehen soll, den politischen Gegner argumentativ zu überzeugen. Diente das
demokratische Verfahren tatsächlich nur dazu, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen zu sammeln und herauszufinden, welche von ihnen bevorzugt wird,
so würde es ausreichen, die Bürger oder ihre Repräsentanten einfach nur ihre Stimme abgeben zu lassen, ohne dass hierfür ein vorheriger Austausch der Argumente
notwendig wäre.
c) Die Notwendigkeit eines normativ gehaltvollen Demokratieverständnisses
Ein Realist mag darauf nun zwar erwidern, die deliberativen Elemente seien reine
rhetorische Fassade um dem Machtspiel der Interessen einen zivileren Anstrich zu
626 So auch Talisse (2004) S. 126 f.; Sullivan/Solove (2003) S. 725.
627 Posner (2003) S. 107.
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verpassen628, doch damit wird zugleich zuzugeben, dass ein solcher Anstrich immerhin als nötig empfunden wird, wenn demokratischen Verfahren eine legitimierende Kraft zugeschrieben werden soll. Diese Legitimationswirkung demokratischer
Verfahren lässt sich aber nicht allein dadurch zufrieden stellend erklären, dass man
sie nur als Instrumente zur Kompromissbildung zwischen widerstreitenden Interessen begreift. Zwar gehört die Stiftung friedlicher Kompromisse durchaus zu den
Funktionen der Demokratie. Entscheidend ist jedoch, dass es das demokratische
Verfahren ermöglicht, dass derartige Kompromisse von den Beteiligten auch in besonderem Maße als fair empfunden werden. Ein Interessenkompromiss wäre auch
durch eine autoritative Entscheidung im Sinne eines salomonischen Urteils oder
durch ausschließlich von Eigeninteressen geleitete Verhandlungen629 unter den Beteiligten erreichbar. Doch keine dieser Alternativen entfaltet die normative Geltungskraft eines in einem deliberativen Prozess erzielten Resultates. Das autoritative
Urteil deshalb nicht, weil es jedenfalls für die modernen Gesellschaften des Westens
keine politischen Autoritäten mehr gibt, die außerhalb des demokratischen Verfahrens stehen. Verhandlungen produzieren zwar ebenfalls normativ verbindliche Resultate, doch ist die Qualität dieser Verbindlichkeit eine andere als bei einem deliberativen Verfahren. Nach einem Gebrauchtwagenkauf mögen vielleicht beide Parteien das Geschäft als fair empfinden, weil sie das Gefühl haben, ihre eigenen Interessen angemessen zur Geltung gebracht zu haben. Diese Art der Fairness bleibt jedoch
in ihrem normativen Gehalt deutlich hinter der zurück, die in einem deliberativen
Verfahren erzielt werden kann630. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass
im Zuge einer Deliberation die Beteiligten die Möglichkeit haben, nicht nur ihre Interessen, sondern auch die Vernünftigkeit ihrer Gründe ins Spiel zu bringen. Dies
aber hat zur Folge, dass sie sich nicht lediglich als Gegner in einem Verhandlungsspiel betrachten, sondern als Mitbürger. Als solche appellieren sie im anderen jeweils an eine beiden gemeinsame Vernunft, was die gegenseitige Akzeptanz verstärkt und dazu beiträgt, sich empathisch in die Position des anderen einzufühlen,
diesen so besser zu verstehen und so gegebenenfalls auch diejenigen Interessen ans
Licht zu bringen, die von allen Beteiligten geteilt werden und so eine möglichst konsensuale Entscheidungsfindung ermöglichen. Selbst wenn die Deliberation nicht in
einen Konsens sondern nur in einem Kompromiss oder sogar ergebnislos mündet,
werden die Beteiligten mit der Einstellung auseinander gehen, vom jeweils anderen
als vernünftige und ebenbürtige Gesprächspartner wahrgenommen worden zu sein
und umgekehrt. Dies erklärt, weshalb die Beteiligten einen Kompromiss, der im
628 So etwa Becker (1982) S. 101: "Insofern haben politische Argumente ... mehr die Funktion
von Werbeträgern ... als von Behauptungen, die sich als Beiträge zur Entwicklung wahrer
Theorien interpretieren lassen."
629 Der englische Begriff "bargaining" gibt besser wieder, was hier gemeint ist: Es geht um ein
Feilschen, bei dem lediglich die Durchsetzung des eigenen Interesses zählt und das Gegen-
über lediglich als Gegner betrachtet wird, der bei Gelegenheit auch "über den Tisch gezogen" werden darf.
630 Freilich wird oftmals auch ein deliberatives Verfahren nicht über einen bloßen Interessenkompromiss hinauskommen.
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Wege eines deliberativen Verfahrens gefunden wurde, in einem wesentlich stärkeren
Sinne als fair empfinden als einen solchen, zu dem sie durch reines Verhandeln gekommen sind.
Daher kommt der öffentlichen Deliberation eine wesentlich weitergehende Bedeutung zu als lediglich die Funktion, den Bürgern eine Gelegenheit zu bieten,
Dampf abzulassen631. Indem sie Bezug nimmt auf eine gemeinsam geteilte Vernunft,
schärft sie unter den Beteiligten den Sinn für Fairness und die Gemeinsamkeiten mit
den Mitbürgern. Dadurch schafft sie zum einen Legitimität und Akzeptanz für die
im demokratischen Verfahren getroffenen Entscheidungen, zum anderen wirkt sie
gemeinschaftsstiftend, weil die Beteiligten sich in deliberativ strukturierten Verfahren als Bürger und nicht lediglich als egoistische Nutzenmaximierer erfahren können. Macht man sich eine pragmatistische Lesart deliberativer Demokratie zu eigen,
so kommt hinzu, dass die Resultate solcher deliberativen demokratischen Prozesse
ein höheres Maß an Rationalität für sich beanspruchen können, weil demokratische
Verfahren nicht nur normativ sondern auch epistemisch gegenüber anderen politischen Entscheidungsformen ausgezeichnet sind.
Ein pragmatistisches Konzept deliberativer Demokratie bietet somit die Chance,
den Gedanken der Volkssouveränität in einer Weise zu interpretieren, die den Einwänden postmoderner Metaphysikkritik standhält und zugleich den normativen Gehalt dieses Begriffes zu bewahren vermag. Indem die Souveränität der Bürger in der
kommunikativen Willensbildungspraxis demokratischer Prozesse verortet und nicht
mehr, wie etwa bei Rousseau, einer metaphysischen Kollektivexistenz zugeschrieben wird, wird erklärbar, weshalb die Entscheidungen demokratischer Prozesse
normative Verbindlichkeit entfalten können. Dabei wird die Theorie anhand der realen Verständigungspraktiken demokratischer Öffentlichkeiten entwickelt, so dass
deliberative Demokratie ebenso wie etwa der Entwurf Schumpeters einen Anspruch
auf empirische Fundierung erheben kann. Anders jedoch als bei Schumpeter ist der
empirische Bezugsrahmen nicht der des ökonomischen Marktes, auf dem Interessen
und Präferenzen ausgehandelt werden, sondern der des politischen Forums, auf dem
die Bürger antreten, um im Wege von Diskussion und Argumentation ein allen gemeinsames öffentliches Interessen zu konstituieren632.
631 Posner (2003) S. 139.
632 Zu "Forum" und "Markt" vgl. auch Elster (1997) S. 3 ff.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der klassische Pragmatismus steht für einen amerikanischen Sonderweg in die philosophische Moderne. Auch die Entwicklung des amerikanischen Rechtsdenkens wurde durch den Pragmatismus von C.S. Peirce und John Dewey bis heute maßgeblich geprägt. Strömungen wie der "Legal Realism" oder die "Economic Analysis of Law" wären ohne das gedankliche Fundament der pragmatistischen Philosophie nicht denkbar.
Das Buch zeichnet den Einfluss des Pragmatismus auf die amerikanische Rechtstheorie über einen Zeitraum von 150 Jahren von Oliver Wendell Holmes" "The Common Law" bis zum modernen "Legal Pragmatism" eines Richard Posner nach. Der Verfasser veranschaulicht zudem den engen Zusammenhang, der zwischen der pragmatistischen Rechtstheorie und einem deliberativen Demokratieverständnis besteht. Für die Frage, wie das Spannungsverhältnis zwischen dem Willen des demokratischen Gesetzgebers und der Autonomie des Rechtssystems aufzulösen ist, kann der Pragmatismus neue Perspektiven liefern. Deshalb ist es lohnend, sich auch auf dem alten Kontinent mit ihm auseinanderzusetzen.