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3. Die Wiederentdeckung des Pragmatismus
Nachdem der Pragmatismus etwa um die Mitte des 20. Jahrhunderts zunächst fast
vollständig aus den Philosophy-Departments der amerikanischen Universitäten verschwunden war, die nun fest in der Hand von Vertretern der analytischen Philosophie waren, wurde er ab Mitte der 70er Jahre langsam wieder neu entdeckt. Dieses
„Revival of Pragmatism“321 wurde vor allem ermöglicht durch die Krise, in die nun
ihrerseits auch die analytische Philosophie geraten war, als immer deutlicher wurde,
dass ihre wissenschaftstheoretischen Grundlagen fragwürdig waren322. Dies führte
zu der Einsicht, dass das Unterfangen der sprachanalytischen Philosophie, die klassischen Probleme der Philosophie nicht mehr unter Bezug auf Kategorien wie Erfahrung oder Bewusstsein zu untersuchen, sondern sie als Probleme des richtigen philosophischen Sprachgebrauches zu rekonstruieren323, diese Probleme nicht lösen konnte, sondern sie allenfalls auf eine andere Ebene verschob. Philosophen wie Richard
Rorty und Hilary Putnam, deren Denken sich zunächst unter dem Einfluss der analytischen Philosophie entwickelt hatte, begannen darauf hin, sich wieder dem Pragmatismus zuzuwenden.
a) Richard Rortys Anleihen bei John Dewey
Richard Rorty ist dabei wahrscheinlich derjenige, der am meisten für die Wiederentdeckung der pragmatistischen Philosophie getan hat. In „Der Spiegel der Natur“
nennt er Dewey, Heidegger und Wittgenstein die drei bedeutendsten Philosophen
des 20. Jahrhunderts324. Deweys Verdienst sieht Rorty vor allem darin, dass er radikal mit den repräsentationalistischen Auffassungen der Erkenntnistheorie gebrochen
hat, und der Philosophie nicht mehr eine Sonderstellung als Fundamentalwissenschaft zuerkennt, die über ein privilegiertes Wissen bzgl. der Möglichkeiten und Bedingungen von Erkenntnis gebietet325. Rortys Dewey-Rezeption beschränkt sich jedoch weitgehend auf diesen kritischen Teil von dessen Philosophie. Deweys Ver-
321 So der Titel einer von Morris Dickstein herausgegebenen repräsentativen Aufsatzsammlung, die sich mit neopragmatistischen Entwicklungen in Philosophie, Recht und Kultur beschäftigt.
322 Entscheidende Schritte in dieser Entwicklung waren neben W.V. Quines bereits 1951 erschienenem Aufsatz „Two Dogmas of Empiricism“ v.a. Wilfrid Sellars „Empiricism and
the Philosophy of Mind“ von 1956 und Thomas Kuhns „The Structure of Scientific Revolutions“ von 1962. Während Quine die für die analytische Philosophie zentrale Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen kritisierte, und Sellars die Differenzierung zwischen dem empirisch Gegebenen und dem begrifflich Gedachten in Frage stellte, legte Kuhn die historische Bedingtheit und damit Kontingenz des wissenschaftlichen
Weltbildes offen. Zu Quine und Sellars vgl. auch Sandbothe (2000) S. 109 ff.
323 Rorty (1981) S. 284.
324 Rorty (1981) S. 15.
325 Rorty (1981) S. 15 f.
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such, eine naturalistische Metaphysik zu konzipieren, lehnt Rorty dagegen ebenso ab
wie sein Unternehmen, die experimentelle Methode der modernen Naturwissenschaften zu einem universalen Problemlösungsschema zu erklären, das auf alle wissenschaftlichen, ethischen und politischen Fragen Anwendung finden kann326. Für
Rorty besteht die grundlegende Einsicht, die durch den Pragmatismus vermittelt
wird, stattdessen gerade darin, dass die Aufgabe der Philosophie nicht mehr darin
bestehen kann, ein Fundament sicheren Wissens bereit zu stellen, von dem aus sich
die Berechtigung wissenschaftlicher Wahrheits- oder moralischer Geltungsansprüche beurteilen lässt. Stattdessen plädiert Rorty für eine „bildende“ Philosophie, die
nur mehr noch eine „therapeutische“ Zielsetzung verfolgt, indem sie nicht mehr versucht, das Gespräch der Philosophie zu einem systematischen Abschluss zu bringen,
sondern nur noch, es weiter in Gang zu halten, um auf diesem Wege neue Vokabulare der Selbstbeschreibung etablieren, die sich als fruchtbarer erweisen als ihre Vorbilder327.
Mit einem solchen Philosophieverständnis entfernt Rorty sich indes sehr weit von
seinem pragmatistischen Vorbild Dewey. Es ist daher nicht erstaunlich, dass die Berechtigung von Rortys Bezugnahme auf den Pragmatismus von seinen Kritikern
bisweilen in Zweifel gezogen wurde328, und auch Rorty selbst hat zugestanden, dass
er dann, wenn er von Dewey spricht, nicht unbedingt immer den historischen Dewey
im Auge hat, sondern eher einen hypothetischen Dewey, der so argumentiert, wie
Dewey nach Meinung Rortys argumentiert haben sollte329. Rorty trennt von den
klassischen Pragmatisten vor allem eines: Peirce, James und Dewey waren sich dar-
über einig, dass die Philosophie einer Erneuerung bedurfte, bei der die experimentelle Methode der modernen Naturwissenschaften das vielversprechendste Verfahren
darstellt, jene Überzeugungen zu bilden, die unser Handeln anleiten können. Daher
war es für sie konsequent, deren Denken auch auf die Philosophie zu übertragen.
Rorty dagegen sieht die Hauptaufgabe der „bildenden“ Philosophen gerade darin, zu
verhindern, dass die Philosophie „auf dem sicheren Pfad einer Wissenschaft zu
wandeln beginnt.“330. Peirce und Dewey waren noch davon überzeugt, dass so etwas
wie wissenschaftliche Objektivität möglich war, wenn sie nur nicht mehr in den Kategorien einer repräsentationalistischen Erkenntnistheorie, sondern auf der Grundlage eines an praktischem experimentellem Handeln orientierten Verständnisses von
wissenschaftlicher Forschung gefasst wurde. Anders Rorty: Er plädiert dafür, das
Ideal wissenschaftlicher Objektivität insgesamt aufzugeben und stattdessen anzuerkennen, dass unsere grundlegenden Überzeugungen dessen, was rational und moralisch richtig ist, nicht in einer ahistorischen Vernunft, wie sie sich in abgewandelter
Form auch in Deweys Modell des Forschungsprozesses verkörpert, sondern allen-
326 Vgl. Rorty (1982) S. 85 ff.; ders. (1994) S. 26 ff.; ders. (2000) S. 29 ff. Zu Rortys Kritik
auch Jörke (2003) S. 60 ff.
327 Vgl. Rorty (1981) S. 396 ff.; ders. (1992) S. 30 ff.;
328 Vgl. zum Beispiel Campbell (1984); Allen (2000), Kloppenberg (2000) S. 76 ff. insb. Fn.
43.; Westbrook (2000) S. 341 ff.
329 Rorty (2000) S. 23.
330 Rorty (1981) S. 403.
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falls in der Solidarität der Mitglieder ethnozentrisch verfasster Gemeinschaften zu
finden ist331.
b) Der Neopragmatismus Hilary Putnams
Derartig radikale Schlussfolgerungen ist Hilary Putnam, ein weiterer Wegbereiter
der pragmatistischen Renaissance, nicht zu ziehen bereit332. Für ihn ist der Pragmatismus vor allem deswegen attraktiv, weil er zwar einerseits Pluralismus und Fallibilismus in der wissenschaftlichen Forschung einen zentralen Stellenwert einräumt,
andererseits aber auch den erkenntnistheoretischen Skeptizismus zurückweist333.
Putnam sieht also, anders als Rorty, und darin den klassischen Pragmatisten näher
als dieser, im Pragmatismus eine Denkrichtung, die es gerade erlaubt, auch unter
postmodernen Bedingungen noch die Möglichkeit von wissenschaftlicher Objektivität zu bejahen. Dass wir sinnvoll von der Möglichkeit einer objektiven Welt reden
können, bedeute nicht, dass uns diese Welt nur eine einzig mögliche Art ihrer Beschreibung aufzwinge, sondern lediglich, dass es Sachverhalte gibt, die vorliegen,
unabhängig davon ob wir dies glauben oder nicht334.
Was verbindet den Neopragmatismus von Rorty und Putnam noch mit den Auffassungen der pragmatistischen Klassiker? Legt man die fünf Elemente zugrunde,
die oben als die Kennzeichen der pragmatistischen Philosophie ausgemacht worden
sind335, so stellt man fest, dass der Neopragmatismus vor allem an die Kritik von
Peirce und Dewey an Repräsentationalismus und Skeptizismus anknüpft. Der Versuch, die Philosophie vor allem auf einen komplexen Begriff von Handlung und eine
einheitliche Theorie wissenschaftlicher Forschung zu gründen336, ist hingegen auch
bei Putnam und Rorty einem Ansatz gewichen, der in Übereinstimmung mit dem
„linguistic turn“ die Sprache in den Mittelpunkt rückt. So ist der Neopragmatismus
weniger eine der sprachanalytischen Philosophie entgegen gesetzte Denkrichtung,
sondern eher der Versuch, einen grundsätzlich sprachanalytischen Ansatz mit pragmatistischen Einsichten zu kombinieren.
331 Rorty (1988) S. 31 ff. Zu den Folgen dieser Position für die politische Philosophie vgl. unten S. 193 ff.
332 Vgl. für seine Kritik an Rorty und dessen Relativismus etwa Putnam (1993) S. 96 ff.; ders.
(2004) S. 143.
333 Putnam (1995) S. 10, 31; ders. (1997) S. 227.
334 Vgl. zu Putnams Verhältnis zur pragmatistischen Tradition auch Bernstein (2002) S. 33 ff.;
Nagl (1998) S. 146 ff.; Waschkuhn (2001) S. 127 ff.
335 Oben S. 43.
336 Aus der pragmatistischen Theorie der Forschung übernimmt der Neopragmatismus allerdings den Gedanken, dass Forschung einen Prozess öffentlicher Kooperation beschreibt
sowie die daraus resultierenden Konsequenzen, dass sich Fakten- und Werterkenntnis nicht
strikt trennen lassen und das Erfordernis einer „democratization of inquiry“, vgl. Putnam
(2002) S. 104 f.
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4. Die pragmatische Wende der analytischen Philosophie
Dass Rorty und Putnam ursprünglich Vertreter der analytischen Philosophie waren,
ist symptomatisch für die „pragmatische Wende des linguistic turn“337. Die linguistische Wende hatte das Augenmerk darauf gerichtet, dass sich unser Denken ausschließlich im Medium der Sprache vollzieht. Daraus resultierte die Einsicht, dass
statt der klassischen erkenntnistheoretischen Fragestellung, wie Bewusstsein und
Welt aufeinander bezogen sind, die Frage eher lauten musste, wie sich Sprache und
Welt zueinander verhalten.
a) Analytische Philosophie und Repräsentationalismus
In ihren Anfängen ging die analytische Philosophie, insbesondere der logische Positivismus, dabei davon aus, dass die logischen Strukturen der Sprache die logischen
Strukturen der Welt isomorph abbildeten. Bei aller Kritik, die die analytische Philosophie an der traditionellen Metaphysik übte, blieb sie so doch zunächst noch den
repräsentationalistischen Prämissen von deren Erkenntnistheorie verhaftet. Erkenntnis wurde nach wie vor als ein Vorgang der Abbildung verstanden, nur dass jetzt
nicht mehr unser Bewusstsein die Welt abbildet, sondern diese Aufgabe von unseren
Begriffen und Sätzen übernommen wurde.
Die sprachanalytische Philosophie hoffte, die klassischen Probleme der Philosophie dadurch lösen oder zumindest als Scheinprobleme entlarven zu können, dass sie
die Bedeutungen von Begriffen und Sätzen analysierte und diese zu klären versuchte. Das Problem war jedoch, dass sich allein durch diesen semantischen Ansatz338
nicht das Problem in den Begriff bekommen ließ, wie es die Sprache überhaupt fertig brachte, sich auf die Welt zu beziehen, wie also Wahrheit im Sinne einer Übereinstimmung von Satz und Wirklichkeit überhaupt erklärbar sein sollte. Die Analyse
des repräsentationalistischen Verständnisses von Erkenntnis und Wahrheit führt so
zu dem Ergebnis, dass es sich als genau die Art von metaphysischer Verwirrung
entpuppt, die zu beseitigen die analytische Philosophie angetreten war339. Um den
Bezug von Sprache und Welt zu erklären, schien es vielversprechender, zu untersuchen, wie dieser Bezug durch den Gebrauch unserer Begriffe und Sätze konkret hergestellt wird. Diese Fragestellung ließ sich durch einen rein semantischen Ansatz
jedoch nicht in den Griff bekommen. Hilary Putnam brachte dies in seinem Aufsatz
„The Meaning of Meaning“ folgendermaßen auf den Punkt:
337 Vgl. Sandbothe 2000 S. 96 ff.
338 Zur Unterscheidung von semantischem und pragmatischem Ansatz in der Sprachphilosophie vgl. auch Brandom (2000) S. 29 ff.; Peregrin (2005) S. 89 ff.
339 Vgl. dazu Putnam (1982) S. 75 ff.; Wellmer (2000) S. 254 f.. Ähnlich auch Rortys Kritik
am repräsentationalistischen Erkenntnismodell in ders. (1992) S. 23 ff.; dazu auch Welsch
(2000) S. 178 ff.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der klassische Pragmatismus steht für einen amerikanischen Sonderweg in die philosophische Moderne. Auch die Entwicklung des amerikanischen Rechtsdenkens wurde durch den Pragmatismus von C.S. Peirce und John Dewey bis heute maßgeblich geprägt. Strömungen wie der "Legal Realism" oder die "Economic Analysis of Law" wären ohne das gedankliche Fundament der pragmatistischen Philosophie nicht denkbar.
Das Buch zeichnet den Einfluss des Pragmatismus auf die amerikanische Rechtstheorie über einen Zeitraum von 150 Jahren von Oliver Wendell Holmes" "The Common Law" bis zum modernen "Legal Pragmatism" eines Richard Posner nach. Der Verfasser veranschaulicht zudem den engen Zusammenhang, der zwischen der pragmatistischen Rechtstheorie und einem deliberativen Demokratieverständnis besteht. Für die Frage, wie das Spannungsverhältnis zwischen dem Willen des demokratischen Gesetzgebers und der Autonomie des Rechtssystems aufzulösen ist, kann der Pragmatismus neue Perspektiven liefern. Deshalb ist es lohnend, sich auch auf dem alten Kontinent mit ihm auseinanderzusetzen.