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„Logic is a normative science; that is to say, it is a science of what is requisite in order to attain
a certain aim.” 85.
Dieser Zweckbezogenheit experimentellen Handelns verdankt der Pragmatismus
auch seinen Namen. Die Bezeichnung taucht veröffentlicht erstmals in einem Lexikonartikel aus dem Jahre 1902 mit dem Titel „Pragmatisch und Pragmatismus“
auf86, doch findet sich der Begriff bereits in einem Notizbuch von Peirce aus dem
Jahr 186587. Dabei griff er die von Kant in der „Kritik der reinen Vernunft“88 getroffene Unterscheidung zwischen moralischem und pragmatischem Handeln auf. Ersteres wird gemäß Kant durch a priori vorgebene Zwecke bestimmt, die unabhängig
von jeglicher Empirie bestehen sollen und damit einem Bereich angehören, in dem
nach Ansicht von Peirce „kein Geist vom Typ eines Experimentators sich je festen
Boden unter den Füßen verschaffen kann.“89. Dagegen zeichnet sich pragmatisches
Handeln gerade durch den Bezug auf menschliche Zwecksetzungen aus und entspricht damit dem Typus experimentellen Handelns, den Peirce zur gedanklichen
Grundlage jeder Begriffsbestimmung machen wollte.
5. Peirce und die pragmatistische Philosophie
Peirces entscheidender Beitrag zum Pragmatismus bestand darin, dass er erstmals
dessen Grundgedanken formulierte, indem er mit der pragmatischen Maxime in Anlehnung an die Logik des naturwissenschaftlichen Experiments den Sinn von Aussagen mit deren möglicher praktischer Bewährung verknüpfte.
Bis zu Kant lag der Erkenntnistheorie, unabhängig davon ob sie rationalistisch
oder empiristisch geprägt war, das Modell des Abbildens zugrunde. Die Wahrheit
von Sätzen war abhängig davon, ob sie die adäquate Abbildung eines Sachverhalts
im erkennenden Bewusstsein darstellten. Das Problem dieses Modells bestand darin,
das Verhältnis zwischen abgebildeter Realität und erkennendem Bewusstsein zu erklären. Wie konnten die Dinge das Bewusstsein affizieren, und was an dem, was im
Bewusstsein erschien, rührte vom Ding her und was aus der Beschaffenheit des Erkenntnisapparates? Peirces pragmatische Maxime hingegen leitete einen epistemologischen Paradigmenwechsel ein: Erkenntnis wurde nicht mehr als Abbildung von
Sachverhalten im Bewusstsein, sondern als ein evolutionärer Vorgang der Umweltanpassung begriffen.
Im Werk von Peirce finden sich damit bereits jene fünf Elemente, die den gedanklichen Kern des Pragmatismus bilden:
85 Zitiert nach Misak (1991) S.89.
86 Peirce CP 5.2.
87 Martens S. 229
88 Kant, AA III, 341.
89 Peirce CP 5.412
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- Die Kritik am cartesianischen Skeptizismus und an der Notwendigkeit philosophischer Letztbegründungen.
- Die Ablehnung der repräsentationalistischen Erkenntnistheorie.
- Die Etablierung von Handlung anstelle von Bewusstsein als zentraler philosophischer Kategorie.
- Die Auffassung, dass die rationalste Form, in der wir uns unsere Welt erschließen können, die experimentelle wissenschaftliche Forschung darstellt.
- Die Idee, dass der Forschungsprozess seiner Natur nach immer öffentlich und
fallibilistisch ist.
Allerdings war für Peirce die pragmatische Maxime lediglich ein methodisches
Prinzip, das im Dienst seines ehrgeizigen Zieles stand, einen zeitgemäßen Realismus
zu begründen, der von der Existenz einer äußeren Realität ausging, die unabhängig
vom Denken des einzelnen Subjekts sein, gleichwohl aber jedenfalls für die Gemeinschaft aller forschenden Subjekte prinzipiell erkennbar sein sollte. Die Schwäche dieses Realismus lag darin, dass der „catholic consent“, auf den alle Erkenntnis
„in the long run“ zulaufen sollte, nur als notwendige Hypothese allen Forschens postuliert werden konnte, ohne dass sich beweisen ließ, dass jeder Forschungsprozess
tatsächlich auf einen solchen Abschluss hinauslief.
Peirces Nachfolger, insbesondere William James und John Dewey beriefen sich
zwar auf seine pragmatische Maxime, doch zogen sie hieraus Schlussfolgerungen,
die Peirce nicht zu teilen bereit war. So hielt etwa James das für Peirce essentielle
Fundament einer erkennbaren aber subjektunabhängigen Realität für entbehrlich.
Stattdessen bekannte er sich ausdrücklich zu einem Perspektivismus, zu einem „Pluriversum“ einander durchdringender, jeweils in gleichem Maße „realer“ Realitätssphären90. Und Deweys Forschungslogik wollte selbst die Gesetze der Logik aus einer evolutionistisch verstandenen Forschungspraxis ableiten, anstatt sie wie Peirce
als deren vorgelagerte Grundlagen zu betrachten91. Peirce empfand diese Interpretationen des Pragmatismus als Entstellung seiner Ideen92. Seine Verärgerung ging soweit, dass er in einem Aufsatz von 1905 schließlich verkündete, für seine Lehre
nicht mehr die Bezeichnung Pragmatismus verwenden zu wollen, sondern sie fortan
„Pragmatizismus“ zu nennen beabsichtige, ein Wort von dem Peirce hoffte, es sei
„hässlich genug, um vor Kindsräubern sicher zu sein“93.
90 James (1909) S. 126 f.
91 Dazu unten S. 53 f.
92 Zu den philosophischen Differenzen insbesondere zwischen Peirce einerseits und Dewey
und James andererseits vgl. unten S. 55.
93 Peirce CP 5.414.
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III. Der pragmatische Instrumentalismus John Deweys
War bei Peirce die pragmatische Maxime noch vor allem Teil eines umfassenden
Versuchs zur Reetablierung eines erkenntnistheoretischen Realismus gewesen, so
sahen Peirces Nachfolger im experimentellen Denken des Pragmatismus eine Möglichkeit, die Philosophie insgesamt auf ein neues Fundament zu stellen. Vor allem
William James und John Dewey entwickelten den Pragmatismus weiter zu einem
originär amerikanischen Denkweg in die Moderne. Ihrer Ansicht nach war das
pragmatistische Denken ein probates Mittel, um jene Dualismen zu überwinden, die
die Philosophie seit der Antike geprägt und ihr dabei eine Reihe diffiziler erkenntnistheoretischer Probleme beschert hatten. Dabei ließen James und Dewey die traditionellen Auffassungen von Begriffen wie Wahrheit und Erfahrung hinter sich und
erweiterten den Pragmatismus um eine religiöse (James) und eine politisch soziale
(Dewey) Dimension. Im folgenden soll vor allem Deweys Projekt einer Erneuerung
der Philosophie aus dem Geist der experimentellen Naturwissenschaft heraus interessieren.
1. Deweys Kritik an den metaphysischen Dualismen und der repräsentationalistischen Erkenntnistheorie
John Dewey war in seinen philosophischen Studien zunächst stark vom deutschen
Idealismus beeinflusst worden, der nach dem Bürgerkrieg die philosophischen Fakultäten in Nordamerika dominierte94. Unter dem Einfluss von W.S. Morris in Michigan entwickelte Dewey sich zunächst zum Hegelianer. Nach eigenen Angaben
faszinierte Dewey an Hegel vor allem dessen Anspruch, jene Trennungen und Dualismen zu überwinden, die die kritische Philosophie Kants zementiert zu haben
schien: Die Trennung von Selbst und Welt, Seele und Körper, Natur und Gott95.
a) Der Ursprung der Dualismen in der griechischen Philosophie
Dewey hat der Untersuchung des historischen Ursprungs dieser Dualismen in seinem Werk breiten Raum gewidmet. Seiner Ansicht nach beginnt ihre Geschichte
bereits dort, wo auch die abendländischen Philosophie ihren Anfang nahm, nämlich
in der griechischen Antike. Die dort erstmals vollzogene gedankliche Scheidung von
Theorie und Praxis ist für Dewey gleichsam der entscheidende Geburtsfehler der
abendländischen Philosophie, dessen verhängnisvolle Folgen bis in die Gegenwart
fortwirken.
94 Vgl. dazu Kuklick (2001) S. 111 ff.
95 Dewey LW 5.153 f. (From Absolutism To Experimentalism, 1929)
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der klassische Pragmatismus steht für einen amerikanischen Sonderweg in die philosophische Moderne. Auch die Entwicklung des amerikanischen Rechtsdenkens wurde durch den Pragmatismus von C.S. Peirce und John Dewey bis heute maßgeblich geprägt. Strömungen wie der "Legal Realism" oder die "Economic Analysis of Law" wären ohne das gedankliche Fundament der pragmatistischen Philosophie nicht denkbar.
Das Buch zeichnet den Einfluss des Pragmatismus auf die amerikanische Rechtstheorie über einen Zeitraum von 150 Jahren von Oliver Wendell Holmes" "The Common Law" bis zum modernen "Legal Pragmatism" eines Richard Posner nach. Der Verfasser veranschaulicht zudem den engen Zusammenhang, der zwischen der pragmatistischen Rechtstheorie und einem deliberativen Demokratieverständnis besteht. Für die Frage, wie das Spannungsverhältnis zwischen dem Willen des demokratischen Gesetzgebers und der Autonomie des Rechtssystems aufzulösen ist, kann der Pragmatismus neue Perspektiven liefern. Deshalb ist es lohnend, sich auch auf dem alten Kontinent mit ihm auseinanderzusetzen.