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standsparagrafen entschieden. Ihre Kolleginnen dagegen wählten vermehrt eine
Thematisierung ohne Anzeige. Das im Sachverhalt geschilderte mehrmalige Zuschlagen der Tür, obwohl sich der Fuß des Beamten zwischen Tür und Türrahmen
befand, kann rechtlich gesehen unter den Widerstandsparagrafen subsumiert werden.
Wir erinnern uns an die im ersten Kapitel geschilderte Feststellung, dass der § 113
StGB (unumstritten) ein Unternehmensdelikt ist und ein Verletzungserfolg nicht
zwingend eintreten muss. In Gesprächen, die freiwillig im Anschluss an die Bearbeitung des Fragebogens folgten, äußerten sich zahlreiche Befragte dahin gehend,
dass sie eine Widerstandsanzeige nur dann schreiben würden, wenn sie auch verletzt
seien. Anderenfalls würden sie eine Handlung nicht unter § 113 StGB subsumieren.
Dieser Befund liefert allerdings keine Erklärung für die geschlechtsspezifisch unterschiedliche Antwortverteilung.
Beim Konflikt „Einsatz wegen Ruhestörung“ (Situation 7) wurde eine Anzeige vergleichbar häufig von den Befragten beider Geschlechter genannt (je etwa
30 Prozent). Unterschiede gibt es bei den Strategien. So entschieden sich 42,1 Prozent der männlichen Befragten für eine Durchsetzungsstrategie, die Polizeibeamtinnen hingegen bevorzugten mit 35,4 Prozent häufiger eine deeskalierende
Vorgehensweise (Abbildung 49). Das Antwortverhalten beim Konflikt
„Punkszene“ (Situation 11) zeigt die deutliche Auffälligkeit, dass 56,9 Prozent zu
40,9 Prozent mehr weibliche Befragte eine deeskalierende Strategie nannten (Abbildung 65).
III. Dienstgradspezifische Besonderheiten bei einzelnen Konflikten
Die Auswertung der situativen Fragen hat ergeben, dass sich die Variable Dienstgrad nahezu nicht auf die Situationsbewertungen auswirkt (Abbildung 70). Bezogen
auf die Mittelwerte aller Situationen liegt die Maximalabweichung bei nur 4,1 Prozent und bezogen auf die einzelnen Konflikte jeweils unter 10 Prozent.
IV. Dienstzeitspezifische Besonderheiten bei einzelnen Konflikten
Welchen Einfluss die Variable Diensterfahrung auf die polizeiliche Situationsbewertung hat, zeigt zunächst der Blick auf die Mittelwerte der Situationen (Abbildung 71). Es bestehen insgesamt keine wesentlichen Unterschiede zwischen den
Angehörigen der drei Gruppen 1 bis 5, 6 bis 15 und 16 bis 44 Dienstjahre, sondern
es ist lediglich die leichte Tendenz bei den diensterfahrenen Befragten erkennbar,
häufiger eine Durchsetzungsstrategie mit Anzeige zu wählen, während ihre
dienstjüngeren Kollegen mit einer mittleren oder niedrigen Erfahrung etwas öfter
eine Durchsetzungsstrategie ohne eine Verrechtlichung favorisierten. Auch wenn in
der Gesamtschau kaum Unterschiede erkennbar sind, so wirkt sich die Variable
Dienstzeit allerdings bei der Bewertung einzelner Konflikte aus.
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References
Zusammenfassung
Die Arbeit knüpft an das irritierende Faktum an, dass in der Hansestadt Lübeck zumindest in den Jahren 1999 bis 2004, aber auch noch aktuell, deutlich mehr Delikte wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte nach § 113 StGB registriert worden sind als in Kiel. Dennoch ist die Zahl der Verurteilten nahezu gleich. Es liegt die Vermutung nahe, dass nur mehr Widerstände thematisiert werden als verurteilt.
Bisher vorhandene Studien zum Thema Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte gehen zumeist ätiologisch vor. Sie liefern keine Erklärung für das unterschiedliche Registrierungsverhalten, aber wichtige Vorerkenntnisse über die zu erwartenden Konflikte und sozialen Besonderheiten der „widerständigen“ Personen.
Die Arbeit knüpft an diese Erkenntnisse an, überprüft sie bezüglich ihrer Aktualität und stellt einen eigenen vollständigen theoretischen Ansatz auf. Dieser kriminalsoziologische Ansatz unterscheidet zwischen Wahrnehmung eines Konfliktes, Thematisierung des Konfliktes und Mobilisierung des Widerstandsparagrafen. Die Datenerhebung erfolgte per schriftlicher Befragung mit Interviews bei 300 Polizeibeamtinnen und -beamten. Einbezogen wurden Kiel, Lübeck und – des regionalen Vergleichs wegen – die sozialstrukturell vergleichbare Stadt Mannheim. Abgefragt wurden zahlreiche Konfliktkonstellationen und Einflussfaktoren, solche wie Geschlecht, Diensterfahrung und Dienstgrad. Die Arbeit wertet die Daten umfangreich auf unterschiedliche Reaktionsmuster hin aus.