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4. Kapitel: Zusammenfassende Darstellung und Würdigung
der Untersuchungsergebnisse
Im letzten Kapitel der Arbeit werden alle wichtigen Ergebnisse der Befragung dargelegt und bewertet. Im Anschluss daran wird in einem Ausblick beschrieben,
welche Aspekte nach Ansicht des Autors für weitere Studien fruchtbar sind.
Der Straftatbestand des § 335" UvID" ãYkfgtuvcpf" igigp"XqnnuvtgemwpiudgcovgÐ"
wird in den sozialstrukturell vergleichbaren Städten Kiel, Lübeck und Mannheim
unterschiedlich häufig registriert. Bisher vorhandene polizeiliche Studien zum
Thema liefern zwar ein anschauliches Bild zum Täter, können aber nicht die unterschiedliche Hellfeldbelastung erklären. Sie untersuchen die Ätiologie des Deliktes,
nicht aber die polizeiliche Etikettierung widerständiger Bürger. Die vorliegende
Arbeit wählt eine rechtssoziologische Vorgehensweise und rückt die polizeiliche
Konfliktbewertung in den Mittelpunkt, da die Vermutung naheliegt, dass die Entscheidung der Beamten, eine Anzeige nach § 113 StGB zu fertigen, Überlegungen
unterliegt, die sich zwar im Rahmen des Legalitätsprinzips bewegen, aber dennoch
strategisch sind. Der vom Widerstand betroffene Beamte ist selbst in das Geschehen
des Rechtsbruchs eingebunden430, thematisiert einen Konflikt als rechtlich relevant
und trifft die Entscheidung über die Mobilisierung des Widerstandsparagrafen. Er
kann einen widerständigen Bürger als Tatverdächtigen des § 113 StGB definieren
oder aber auch von einer Mobilisierung von Strafverfolgungsmaßnahmen absehen.
Der Spielraum ist nicht unerheblich.
Die Daten wurden anhand eines softwarebasierten Fragebogens erhoben, der
einerseits die Tatverdächtigenstruktur berücksichtigte, um sicherzustellen, dass die
Städte insoweit vergleichbar sind, andererseits wurden Konflikte geschildert, die
von den Probanden anhand vorgegebener Antwortmöglichkeiten bewertet werden
sollten. In die Befragung wurden per Zufallsstichprobe 300 Polizeibeamte (davon 65
weibliche) aus den drei untersuchten Städten Kiel, Lübeck und Mannheim einbezogen, die entweder aktiv im Streifendienst eingesetzt waren oder eine umfassende Streifendiensterfahrung hatten.
Bevor die Untersuchung beginnen konnte, war sicherzustellen, dass die drei
untersuchten Städte in etwa vergleichbar sind. Nur dann kann die Annahme als
plausibel eingestuft werden, dass eine sozialstrukturelle Vergleichbarkeit gegeben
ist und in jeder Stadt ein etwa identisches Konfliktpotenzial zwischen Polizei und
Bürgern vorhanden ist. Anhand einer Gegenüberstellung der wichtigsten
sozialstrukturellen Daten der drei Vergleichsstädte konnte plausibel dargelegt
430 Backes/Ransiek (1989), S. 624.
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werden, dass diese vergleichbar sind. Damit war der Weg für die weitere Untersuchung offen.
A. Zusammenfassung der wichtigsten Befunde zu den Widerstandsübenden
Eine Vergleichbarkeit der Städte setzt eine ähnliche Tatverdächtigenstruktur
voraus. Zunächst wurden bisher bekannte Merkmale von Tatverdächtigen bezüglich
des § 113 StGB dargelegt und sodann diese Erkenntnisse anhand des eigenen Fragebogens hinsichtlich der Vergleichsstädte überprüft. Die Auswertung polizeilicher
Studien, die statistischen Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik und des Zweiten
Periodischen Sicherheitsberichts sowie die Auswertung der Fragebögen liefern zahlreiche Erkenntnisse zu den Tatverdächtigen.
Die vorhandenen polizeilichen Studien zum Thema von Jäger: „Gewalt und
Polizei“, Falk: „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte - ein praxisbezogenes
Forschungsprojekt“, die KFN-Studie von Ohlemacher et. al.: „Gewaltanwendungen
gegen Polizeibeamtinnen und -beamte 1985-2000“ sowie die aktuellste Abhandlung
zu Widerstandshandlungen von Philipsen: „Widerstand gegen Polizeibeamte in
Lübeck - Ursachen und Erklärungen, ein Vergleich der Phänomene in den
Regionen“ haben nahezu identisch - aufseiten des Widerstandsübenden - die Widerstandsgenese begünstigenden Faktoren herausgearbeitet. Demnach sind Widerstandsübende häufig jung, männlich, während des Zeitpunktes des Widerstandes zum Teil auch erheblich - alkoholisiert und vielfach zuvor bereits polizeilich in Erscheinung getreten.
Dass die Tatverdächtigen häufig männlich und alkoholisiert sind, bestätigt auch
der Zweite Periodische Sicherheitsbericht, der im Jahr 2006 vom Bundesministerium des Inneren und dem Bundesministerium der Justiz veröffentlicht
wurde. Bei der Liste der Delikte, bei denen der Tatverdächtige zum Tatzeitpunkt
unter Alkoholeinfluss stand, steht der Widerstand gegen die Staatsgewalt an erster
Stelle.431 Dabei liegt der Anteil der männlichen Tatverdächtigen bei 63,3 Prozent
und der der weiblichen Tatverdächtigen bei 50,2 Prozent. Auch ein Blick in die
Polizeiliche Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes (2007) beweist, dass es sich
bei Personen, die des Widerstandes gegen die Staatsgewalt (PKS Schlüssel 6210)
beschuldigt werden, oftmals um junge, männliche Einzelpersonen handelt, die zum
Zeitpunkt des Konfliktes häufig unter Alkoholeinfluss stehen. Ebenso zeigt sich,
dass die Belastung von Nichtdeutschen nicht geringer ist als bei vergleichbaren
Delikten.432 Eine Studie zur selbst berichteten Devianz junger Spätaussiedler kommt
zu dem Ergebnis, dass die Belastung der Nichtdeutschen bei Widerstands-
431 Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht (2006), S. 298.
432 Siehe auch: Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht (2006), S. 432.
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delikten, bezogen auf vergleichbare einheimische Deutsche, die unter ähnlichen
sozialen Rahmenbedingungen leben, lediglich etwas geringer ist.433
Die vorliegende Arbeit berücksichtigt ebenfalls die Merkmale der Tatverdächtigen des § 113 StGB. Die Befragten waren aufgefordert, ihre Einschätzung zu
Widerstandsübenden wiederzugeben, wobei sich die bereits vorhandenen Erkenntnisse bestätigen. Ein Großteil der Probanden gab an, dass Widerstandsübende sehr
häufig bis häufig männlich und jünger als 30 Jahre alte, polizeilich bereits
registrierte und zumeist erheblich alkoholisierte, einzeln handelnde Personen
sind. Es zeigt sich ferner, dass ein Betäubungsmitteleinfluss bei widerständigen
Bürgern offenbar nur teilweise eine Rolle spielt, was nach Einschätzung einiger
Probanden auch damit zusammenhängen könnte, dass der Konsum von Betäubungsmitteln schwerer zu erkennen und nachzuweisen ist als der von Alkohol.
Diese Ergebnisse spiegeln die bisherigen Erkenntnisse wider. Allerdings sind die
Befunde zu Alkoholisierung des Widerstandsübenden sowie Betäubungsmitteleinfluss nur bedingt aussagekräftig, da es in der Praxis von Zufällen abhängen kann, ob
ein derartiger Einfluss von dem jeweiligen Polizeibeamten festgestellt wird oder
nicht. Diese Einschränkung wirkt sich jedoch nicht auf die vorliegende Arbeit aus,
da es sich bei den erhobenen Daten ohnehin um die subjektive Einschätzung der
Probanden handelt und diese Störvariable damit konstant bleibt, sodass die
Antworten vergleichbar sind.
Bezüglich der Widerstandsübenden haben sich wie erwartet die bisherigen Erkenntnisse bestätigt und es konnten keine abweichenden Befunde zutage gefördert
werden. Es zeigt sich überdies, dass aufseiten der widerständigen Bürger keine
wesentlichen Unterschiede zwischen den drei untersuchten Städten bestehen. Die
Struktur der Tatverdächtigen ist daher ebenfalls als vergleichbar anzusehen.
B. Zusammenfassung und Bewertung der wichtigsten Ergebnisse zu den
Modalitäten von Widerstandssituationen
Eine Vergleichbarkeit der untersuchten Städte setzt ferner ein ähnliches Konfliktpotenzial im Polizei-Bürger-Verhältnis voraus.
Den polizeilichen Studien zufolge gibt es bestimmte Zeiten, zu denen häufig
Widerstände verübt werden. Demnach sind Sommermonate, Wochenenden und
Nachmittags- bis Nachtzeiten am stärksten belastet. Die KFN-Studie weist auch eine
433 Strobl/Kühnel (2000), S. 158 (Tabelle 49). Dort wurde die Frage: „Haben Sie schon mal
einem Polizisten Widerstand geleistet?“, von den befragten jungen Spätaussiedlern aus
Nordrhein-Westfalen n = 1.171 (bzw. die Vergleichsgruppe n = 987, siehe auch S. 15) wie
folgt beantwortet: nie = 92,8 Prozent (89,8 Prozent), 1-2mal = 6,1 Prozent (6,7 Prozent), 3-
5mal = 0,5 Prozent (1,3 Prozent), 5-10mal = 0,3 Prozent (0,9 Prozent), mehr als 10mal 0,3
Prozent (1,3 Prozent).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Arbeit knüpft an das irritierende Faktum an, dass in der Hansestadt Lübeck zumindest in den Jahren 1999 bis 2004, aber auch noch aktuell, deutlich mehr Delikte wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte nach § 113 StGB registriert worden sind als in Kiel. Dennoch ist die Zahl der Verurteilten nahezu gleich. Es liegt die Vermutung nahe, dass nur mehr Widerstände thematisiert werden als verurteilt.
Bisher vorhandene Studien zum Thema Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte gehen zumeist ätiologisch vor. Sie liefern keine Erklärung für das unterschiedliche Registrierungsverhalten, aber wichtige Vorerkenntnisse über die zu erwartenden Konflikte und sozialen Besonderheiten der „widerständigen“ Personen.
Die Arbeit knüpft an diese Erkenntnisse an, überprüft sie bezüglich ihrer Aktualität und stellt einen eigenen vollständigen theoretischen Ansatz auf. Dieser kriminalsoziologische Ansatz unterscheidet zwischen Wahrnehmung eines Konfliktes, Thematisierung des Konfliktes und Mobilisierung des Widerstandsparagrafen. Die Datenerhebung erfolgte per schriftlicher Befragung mit Interviews bei 300 Polizeibeamtinnen und -beamten. Einbezogen wurden Kiel, Lübeck und – des regionalen Vergleichs wegen – die sozialstrukturell vergleichbare Stadt Mannheim. Abgefragt wurden zahlreiche Konfliktkonstellationen und Einflussfaktoren, solche wie Geschlecht, Diensterfahrung und Dienstgrad. Die Arbeit wertet die Daten umfangreich auf unterschiedliche Reaktionsmuster hin aus.