147
Unterschiede gibt es nahezu keine. Mehr Befragte des gehobenen Dienstes
mobilisierten § 113 StGB. Unterschiede bei der Thematisierung gibt es nicht. Die
Dauer der Dienstzeit wirkt sich nur geringfügig auf die Situationsbewertung aus. So
wählten dienstjüngere Beamte lediglich etwas häufiger eine Deeskalationstaktik und
ihre erfahrenen Kollegen etwas öfter eine Durchsetzungsstrategie, ohne sich für eine
anschließende Verrechtlichung zu entscheiden. Im Ergebnis zeigen sich insoweit
jedoch keine wesentlichen dienstzeitspezifischen Abweichungen.
IV. Situation 4: Konflikt mit Migranten
In der nächsten vorgegebenen Situation ist folgender Konflikt mit Nichtdeutschen
geschildert: „Sie wollen aus einer Gruppe von Migranten eine einzelne Person X
festnehmen. Hierbei drängen sich einige Mitglieder dieser Gruppe aggressiv zwischen Sie und X, um dessen Festnahme zu verhindern.“
Das aggressive Dazwischendrängen zur Verhinderung der polizeilichen Maßnahme ist eine aktive gegen den Amtsträger gerichtete Tätigkeit, die geeignet ist, die
Vollziehung der konkretisierten Diensthandlung, hier die Verhinderung der Festnahme, zu erschweren oder zu verhindern.414 Damit kann der Tatbestand des § 113
StGB als erfüllt angesehen werden.
1. Regionale Situationsbewertung
Zunächst werden die Ergebnisse wiederum getrennt nach Städten aufgeschlüsselt
(Abbildung 36). Die wenigsten Befragten entschieden sich für eine Durchsetzungsstrategie mit prophylaktischer Anzeige. In dieser Kategorie dominieren die Beamten
aus Lübeck mit 9 Prozent, gefolgt von Mannheim mit 6 Prozent und schließlich Kiel
mit nur 4 Prozent. Ein Großteil der Antworten entfällt auf die Reaktionsvariante der
Deeskalationstaktik. In Lübeck reagierten mit einem Anteil von 26 Prozent deutlich
weniger Probanden mit einer Konflikt schlichtenden Vorgehensweise. Die Spitzenposition bei der Deeskalation nimmt Mannheim mit 35 Prozent ein, knapp gefolgt
von Kiel mit 32 Prozent.
Etwa ein Drittel der Befragten in allen drei Städten thematisierte den Konflikt
zwar, entschied sich aber gegen eine Mobilisierung. In Kiel waren es 34 Prozent, in
Lübeck 33 Prozent und in Mannheim 30 Prozent. Eine in etwa vergleichbare Anzahl
der befragten Polizeibeamten, nämlich 29 Prozent in Mannheim, 30 Prozent in Kiel
und 32 Prozent in Lübeck, wählte eine Durchsetzungsstrategie mit anschließender
Verrechtlichung des Konflikts über § 113 StGB.
414 LK-StGB/Bubnoff (1994), § 113 Rn. 14.
148
0 10 20 30 40 50
Durchsetzungsstrategie ohne Anzeige
Durchsetzungsstrategie und Anzeige
Durchsetzungsstrategie und
prophylaktische Anzeige
deeskalierende Strategie
Prozent
Mannheim (n = 100) Lübeck (n = 100) Kiel (n = 100)
Hinsichtlich der Anzeigebereitschaft - unabhängig von prophylaktischen Motiven - ergibt sich folgende Erkenntnis. In Lübeck wurde der vorgegebene Sachverhalt
mit insgesamt 41 Prozent der Antworten häufiger verrechtlicht als in Kiel mit 34
Prozent und in Mannheim mit 35 Prozent.
Abbildung 36: Rgikqpcng"Dgygtvwpi"fgu"Mqphnkmvgu"ãOkitcpvgpÐ
2. Geschlechtsspezifische Situationsbewertung
Das Augenmerk gilt nun der geschlechtsspezifischen Differenzierung (Abbildung
37). Bei der geschlechtsspezifischen Verteilung zeichnet sich mit einer Antworthäufigkeit von 32,8 Prozent eine deutliche Tendenz der männlichen Beamten zur
Wahl einer Durchsetzungsstrategie mit anschließender Verrechtlichung ab.
Bei den weiblichen Befragten entschieden sich nur 21,5 Prozent für diese Vorgehensweise. Prophylaktische Anzeigen scheinen bei weiblichen (7,7 Prozent) wie
bei männlichen (6 Prozent) Probanden in dieser Situation keine herausragende Rolle
zu spielen. Bei der Wahl der Strategien Deeskalationstaktik sowie Durchsetzungsstrategie ohne Verrechtlichung ergibt sich ein nahezu konstantes Bild. Für die Deeskalationstaktik entschieden sich 35,4 Prozent der weiblichen und 29,8 Prozent der
männlichen Befragten. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass mit einer Differenz
von nur 6 Prozent eine nahezu geschlechtsunabhängige Thematisierung des
Konflikts erfolgte, also eine Durchsetzungsstrategie gewählt wurde. Addiert man
nun die Antworten, die eine Mobilisierung des § 113 StGB beinhalten, unabhängig
149
von prophylaktischen Motiven, so ergeben sich geschlechtsspezifische Unterschiede. Männer neigten mit einem Anteil von 38,8 Prozent häufiger zu einer Verrechtlichung dieser Situation als ihre Kolleginnen mit nur 29,2 Prozent.
Abbildung 37: Geschlechtsspezifische Bewervwpi"fgu"Mqphnkmvgu"ãOkitcpvgpÐ
0 10 20 30 40 50
Durchsetzungsstrategie ohne Anzeige
Durchsetzungsstrategie und Anzeige
Durchsetzungsstrategie und
prophylaktische Anzeige
deeskalierende Strategie
Prozent
weiblich (n = 65) männlich (n = 235)
150
3. Dienstgradspezifische Situationsbewertung
Fraglich ist, ob sich die Variable Dienstgrad auf die Entscheidung über eine
Thematisierung und Mobilisierung auswirkt. Dazu werden die Antworten wiederum
in Befragte des mittleren und des gehobenen Dienstes unterteilt (Abbildung 38).
Abbildung 38: Dkgpuvitcfurg¦khkuejg"Dgygtvwpi"fgu"Mqphnkmvgu"ãOkitcpvgpÐ
Der Abbildung ist zu entnehmen, dass es hier Unterschiede gibt. Betrachten wir
zunächst die Antwortverteilung bei der Deeskalationstaktik. Hier sind die sich abzeichnenden Abweichungen noch relativ gering. 28,6 Prozent der Befragten, die
dem mittleren Dienst angehören, entschieden sich gegen eine Thematisierung des
Konflikts. Bei den Angehörigen des gehobenen Dienstes waren es 33,9 Prozent. Die
Neigung zur Nichtverrechtlichung spiegelt sich auch in den Ergebnissen der
Antwortvariante der Durchsetzungsstrategie ohne Anzeige wider. Hier dominieren
die Angehörigen des gehobenen Dienstes mit 36,7 Prozent und weisen damit einen
Abstand von etwa 7 Prozent zu ihren Kollegen des mittleren Dienstes auf.
Die aufgezeigte Tendenz bestätigt sich, wenn man die Antwortverteilung der zwei
Alternativen zur Durchsetzungsstrategie mit anschließender Anzeige näher beleuchtet. Es fällt zunächst auf, dass mit etwa 10 Prozent eine nicht unbeachtliche
Anzahl von Polizeibeamten des mittleren Dienstes hier eine prophylaktische Anzeige wählte. Bei den Angehörigen des gehobenen Dienstes waren es nur 1,6 Prozent. Addiert man nun die Ergebnisse beider Antwortvarianten, die eine Durchsetzungsstrategie mit Verrechtlichung beinhalten, unabhängig von prophylaktischen
Motiven, so gelangt man zu aussagekräftigen Unterschieden. Die Bereitschaft, die
geschilderte Situation zu thematisieren und anzuzeigen, war bei den Beamten des
0 10 20 30 40 50
Durchsetzungsstrategie ohne Anzeige
Durchsetzungsstrategie und Anzeige
Durchsetzungsstrategie und
prophylaktische Anzeige
deeskalierende Strategie
Prozent
gehobener Dienst (n = 124) mittlerer Dienst (n = 175)
151
mittleren Dienstes mit 41,7 Prozent merklich höher als bei ihren Kollegen des gehobenen Dienstes mit einem Anteil von nur 29,8 Prozent.
4. Dienstzeitspezifische Situationsbewertung
Signifikante Abweichungen beim Antwortverhalten zeigen sich bei der Unterteilung
nach der Dauer der Dienstzeit (Abbildung 39).
Zunächst fällt auf, dass bei allen Antwortvarianten eine ungleichmäßige und
treppenartige Verteilung zwischen den Angehörigen der drei Gruppen gegeben ist.
Bei der Durchsetzungsstrategie mit prophylaktischer Anzeige, die zwar insgesamt
nur einen geringen Anteil ausmacht, scheinen die prophylaktischen Motive mit zunehmender Diensterfahrung abzunehmen. Mit steigender Dauer der Dienstzeit
wächst offenbar die Bereitschaft, auf die vorgegebene Situation mit einer Deeskalationsstrategie zu reagieren. So wählten 35,8 Prozent der Befragten mit einer
Dienstzeit von 16 bis 44 Jahren diese Vorgehensweise, bei der Gruppe 6 bis 15
Jahre waren es 29,2 Prozent und bei der Gruppe 1 bis 5 Jahre waren es 28 Prozent.
Noch differenzierter gestaltet sich die Verteilung bei den zwei Reaktionsmöglichkeiten der Durchsetzungsstrategie mit und ohne darauf folgende Verrechtlichung.
Mit einem Anteil von 43,2 Prozent thematisierten die Angehörigen der Gruppe 16
bis 44 Jahre den Konflikt und entschieden sich für eine Anzeige. Bei den Befragten
mit einer mittleren Diensterfahrung von 6 bis 15 Jahren waren es mit 26,1 Prozent
erkennbar weniger. Mit nur 21,3 Prozent und mit einer Differenz von mehr als 20
Prozent, verglichen mit den sehr diensterfahrenen Kollegen, nehmen die Gruppe 1
bis 5 Dienstjahre die Schlussposition ein. Deutliche Unterschiede existieren darüber
hinaus auch bei der Antwortvariante der Durchsetzungsstrategie ohne Verrechtlichung. Die Gruppe der sehr diensterfahrenen Befragten wählte diese Taktik
mit 15,8 Prozent augenfällig weniger häufig als die Angehörigen der übrigen zwei
Gruppen. Es entschieden sich 38,5 Prozent derjenigen mit einer mittleren Diensterfahrung und bemerkenswerte 42,7 Prozent der wenig Diensterfahrenen für diese
Vorgehensweise.
152
Abbildung 39: Dkgpuv¦gkvurg¦khkuejg"Dgygtvwpi"fgu"Mqphnkmvgu"ãOkitcpvgpÐ
Betrachten wir nun noch die Gesamtergebnisse der zwei Antwortvarianten, die
eine Verrechtlichung der Situation vorsahen, unabhängig von prophylaktischen
Motiven. Die Verteilung enthüllt wesentliche Unterschiede im Antwortverhalten, die
mit der Dauer der Dienstzeit zusammenhängen. Mit knapp 50 Prozent favorisierten
die Befragten mit der höchsten Diensterfahrung signifikant häufig eine Verrechtlichung der Situation. Die Beamten mit mittlerer und diejenigen mit wenig
Diensterfahrung wählten diese Strategie mit Anteilen von 26,1 Prozent und 21,3
Prozent weitaus weniger oft.
5. Ergebnis
Die Auswertung des Sachverhalts zeigt einige wichtige Ergebnisse auf. So konnte
herausgefunden werden, dass die Befragten aus Lübeck seltener eine Deeskalationstaktik wählten als ihre Kollegen in Kiel und Mannheim. Die Lübecker verrechtlichten vielfach die vorgegebene Situation, wobei dies auch aus prophylaktischen
Motiven heraus geschah. Viele männliche Polizeibeamte votierten für eine Durchsetzungsstrategie mit Anzeige, anders als die Beamtinnen, die mehrheitlich eine
Nichtverrechtlichung favorisierten. Prophylaktische Anzeigen spielten bei den Befragten des mittleren Dienstes eine größere Rolle als bei den Probanden des gehobenen Dienstes. Es zeichnet sich weiterhin eine unübersehbare Bereitschaft der
Beamten des mittleren Dienstes ab, den Sachverhalt zu verrechtlichen. Besonders
signifikante Differenzen gibt es bei der dienstzeitbezogenen Unterteilung. Die
Beamten mit einer hohen Diensterfahrung von mindestens 16 Dienstjahren ten-
0 10 20 30 40 50
Durchsetzungsstrategie ohne Anzeige
Durchsetzungsstrategie und Anzeige
Durchsetzungsstrategie und
prophylaktische Anzeige
deeskalierende Strategie
Prozent
16 .. 44 Jahre (n = 95) 6 .. 15 Jahre (n = 130) 1 .. 5 Jahre (n = 75)
153
dierten doppelt so häufig wie die übrigen Befragten zu einer Mobilisierung des
Widerstandsparagrafen.
V. Situation 5: Konflikt bei Haftbefehlserledigung
In der nächsten Situation ging es um die Erledigung eines Haftbefehls: Haftbefehlsgtngfkiwpi<"ãCnu"fkg"Rgtuqp"Z"gtmgppv."fcuu"Ukg"Rqnk¦gkdgcovgt"ukpf."uejn“iv"ukg"fkg"
Wohnungstür 3-mal heftig zu, obwohl Sie Ihren Fuß dazwischen gestellt haben.
Danach lässt X sich ohng"Igigpygjt"hguvpgjogp0Ð
Die vorgegebene Situation unterscheidet sich strukturell von den übrigen Sachverhalten. Hier ist der Konflikt mit der Festnahme bereits beendet, sodass die Reaktionsmöglichkeit der Kommunikation ausschied. Daher waren die Antwortvarianten dreigeteilt und sahen (1) eine Einstufung als Konflikt ohne anschließende
Mobilisierung des Widerstandsparagrafen, (2) eine Einstufung als Widerstand mit
Anzeige sowie (3) eine Einstufung als Widerstand mit prophylaktischer Anzeige
vor.
Die rechtliche Würdigung des Sachverhalts lässt auf die Erfüllung des Tatbestandes von § 113 StGB schließen. Das mehrmalige heftige Zuschlagen der Tür,
obwohl sich der Fuß des Beamten dazwischen befand, ist jedenfalls eine Gewaltanwendung im Sinne des § 113 StGB, die darauf gerichtet ist, die Vollstreckungshandlung zumindest zu erschweren. Ebenso kann diese Handlung als tätlicher Angriff
gewertet werden. Darunter ist eine mit feindseligem Willen unmittelbar auf den
Körper des Beamten zielende Einwirkung zu verstehen.415 Da der Widerstandsparagraf als ein Unternehmensdelikt ausgestaltet ist, ist ein Verletzungserfolg tatbestandlich nicht notwendig.416
Wir werden in den nachfolgenden Absätzen sehen, dass zahlreiche Befragte zu
einer anderen Einschätzung gelangten. Das ergab sich bereits aus etlichen Gesprächen, die im Anschluss an die Befragung freiwillig geführt wurden. Dabei
kristallisiert sich bei vielen Beamten in allen drei Städten folgende Einschätzung
jgtcwu<" ãYgpp" kej" pkejv" xgtngv¦v" ygtfg." xgtcpncuug" kej" cwej" mgkpg" Ykderstandscp¦gkig0Ð" Gu" uejgkpv" kpuqhgtp" gkpg" Cdygkejwpi" ¦ykuejgp" fgt" vjgqtgvkuejgp" Cwsgestaltung des Tatbestandes und der praktischen Auslegung zu geben. Daher ist zu
prüfen, ob sich dieser Umstand messbar auf die Reaktionen der Befragten auswirkt.
415 So schon RGSt. 7, S. 301; 59, S. 264; auch LK-StGB/Bubnoff (1994); § 113 Rn. 17; Fischer
(2008), § 113 Rn. 27; Lackner/Kühl (2007), § 113 Rn. 6; NK-StGB/Paeffgen (2005), Rn. 31;
§ 113 Rn. 19; Schönke/Schröder-Eser (2006), § 113 Rn. 46.
416 Fischer (2008), § 113 Rn. 21; Schönke/Schröder-Eser (2006), § 113 Rn. 2; LK-StGB/
Bubnoff (1994), § 113 Rn. 13, Lackner/Kühl (2007), § 113 Rn. 5; NK-StGB/Paeffgen (2005),
§ 113 Rn. 19;Wessels/Hettinger (2007), Rn. 628; Kindhäuser (2006), § 36 Rn. 18.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Arbeit knüpft an das irritierende Faktum an, dass in der Hansestadt Lübeck zumindest in den Jahren 1999 bis 2004, aber auch noch aktuell, deutlich mehr Delikte wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte nach § 113 StGB registriert worden sind als in Kiel. Dennoch ist die Zahl der Verurteilten nahezu gleich. Es liegt die Vermutung nahe, dass nur mehr Widerstände thematisiert werden als verurteilt.
Bisher vorhandene Studien zum Thema Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte gehen zumeist ätiologisch vor. Sie liefern keine Erklärung für das unterschiedliche Registrierungsverhalten, aber wichtige Vorerkenntnisse über die zu erwartenden Konflikte und sozialen Besonderheiten der „widerständigen“ Personen.
Die Arbeit knüpft an diese Erkenntnisse an, überprüft sie bezüglich ihrer Aktualität und stellt einen eigenen vollständigen theoretischen Ansatz auf. Dieser kriminalsoziologische Ansatz unterscheidet zwischen Wahrnehmung eines Konfliktes, Thematisierung des Konfliktes und Mobilisierung des Widerstandsparagrafen. Die Datenerhebung erfolgte per schriftlicher Befragung mit Interviews bei 300 Polizeibeamtinnen und -beamten. Einbezogen wurden Kiel, Lübeck und – des regionalen Vergleichs wegen – die sozialstrukturell vergleichbare Stadt Mannheim. Abgefragt wurden zahlreiche Konfliktkonstellationen und Einflussfaktoren, solche wie Geschlecht, Diensterfahrung und Dienstgrad. Die Arbeit wertet die Daten umfangreich auf unterschiedliche Reaktionsmuster hin aus.