142
Es besteht eine Gleichverteilung der Antworten bei der Durchsetzungsstrategie
ohne Anzeige. Berufsanfänger, aber auch sehr diensterfahrene Beamte bevorzugten
etwas häufiger als ihre Kollegen mit einer nur mittleren Diensterfahrung eine Deeskalationstaktik. Der Großteil der Befragten entschied sich allerdings für eine
Thematisierung des Konflikts und für eine anschließende Mobilisierung des § 113
StGB. Fasst man die beiden Antwortmöglichkeiten, die eine Anzeige vorsahen, unabhängig von prophylaktischen Motiven zusammen, so zeigt sich, dass der Sachverhalt der häuslichen Gewalt nahezu gleichermaßen von allen Angehörigen der drei
Kategorien verrechtlicht wurde.
5. Ergebnis
Insgesamt bestand eine sehr hohe Motivation, das Verhalten von X mit einer Anzeige gemäß § 113 StGB zu kriminalisieren. Die Befragten aus Lübeck entschieden
sich mit einem deutlichen Abstand zu den Kieler und einem großen Abstand zu den
Mannheimer Probanden für diese Vorgehensweise. Die befragten Beamtinnen bevorzugten, verglichen mit ihren männlichen Kollegen, eher eine Deeskalationstaktik.
Bei der Entscheidung über die Verrechtlichung des Konflikts ließen sich die Frauen
mit einem Abstand von 8 Prozent häufiger von prophylaktischen Motiven leiten. Die
männlichen Befragten nannten zu 10 Prozent häufiger als die Polizeibeamtinnen
eine Mobilisierung des § 113 StGB. Mehr Probanden des gehobenen Dienstes
tendierten im Gegensatz zu denen des mittleren Dienstes zu einer Verrechtlichung
der Situation. Minimale dienstzeitspezifische Unterschiede gibt es bei der Wahl
einer Verrechtlichungsstrategie aus prophylaktischen Gründen. Eine solche Motivation nimmt mit steigender Diensterfahrung ab.
III. Situation 3: Konflikt auf Volksfest
Der nächste Konflikt ereignete sich auf einem Volksfest und war folgendermaßen
vorgegebep<" ãCwh" gkpgo" Xqnmuhguv" mqoov" gu" ¦w" gkpgt" Uejn“igtgk" ¦ykuejgp" ¦ygk"
Jugendgruppen à drei Personen. Während der Sachverhaltsaufnahme entfacht die
Schlägerei erneut. Bei der Trennung beider Parteien tritt Ihnen Jugendlicher X absichtlich gegen Ihr Schienbein.Ð
Die rechtliche Würdigung des Sachverhaltes ist bezogen auf § 113 StGB relativ
eindeutig. Durch den Tritt gegen das Schienbein des Polizeibeamten soll die Ausführung der Vollstreckungshandlung, hier die Aufnahme der Personalien der an der
Schlägerei beteiligten Personen, unter Einsatz körperlicher Kraft verhindert werden.
Diese Handlung soll die Vollstreckungshandlung zumindest erschweren. Da der
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0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Durchsetzungsstrategie ohne Anzeige
Durchsetzungsstrategie und Anzeige
Durchsetzungsstrategie und
prophylaktische Anzeige
deeskalierende Strategie
Prozent
Mannheim (n = 100) Lübeck (n = 100) Kiel (n = 100)
Widerstandsparagraf als ein unechtes Unternehmensdelikt ausgestaltet ist, ist ein
Verletzungserfolg tatbestandlich nicht notwendig.413
Mit diesem Sachverhalt war die Reaktion der Probanden auf ein häufig wiederkehrendes Phänomen abzufragen. In jeder Stadt finden regelmäßig gut besuchte
Großveranstaltungen wie Volksfeste u.ä. statt und ebenso häufig kommt es dabei zu
Körperverletzungen. Mobilisieren die Polizeibeamten auch den Widerstandsparagrafen, wenn bei der Trennung einer Schlägerei Gewalt gegen sie selbst ausgeübt
wird oder sehen sie bei derartigen Vorfällen eher von einer Kriminalisierung ab?
Dieser Frage soll nun nachgegangen werden.
1. Regionale Situationsbewertung
Zunächst gilt das Interesse der Vorgehensweise in den drei untersuchten Städten
(Abbildung 32).
Abbildung 32: Rgikqpcng"Dgygtvwpi"fgu"Mqphnkmvgu"ãXqnmuhguvÐ
Bereits der erste Blick legt nahe, dass die klare Mehrheit der Befragten in Kiel
und Lübeck (je 77 Prozent) auf die Situation mit einer Durchsetzungsstrategie mit
Anzeige reagierte. Die Mannheimer Probanden beschritten dagegen deutlich
häufiger den Weg der Nichtverrechtlichung (26 Prozent). Hier wurde der Konflikt
413 Fischer (2008), § 113 Rn. 21; Schönke/Schröder-Eser (2006), § 113 Rn. 2; LK-
StGB/Bubnoff (1994), § 113 Rn. 13, Lackner/Kühl (2007), § 113 Rn. 5; NK-StGB/Paeffgen
(2005), § 113 Rn. 19;Wessels/Hettinger (2007), Rn. 628; Kindhäuser (2006), § 36 Rn. 18.
144
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zwar - relativ gesehen - oft thematisiert und eine Durchsetzungsstrategie gewählt,
jedoch auf eine anschließende Mobilisierung des Widerstandsparagrafen verzichtet.
Eine Deeskalationsstrategie wurde von den Befragten mit je weniger als 5 Prozent
nahezu gar nicht in Betracht gezogen. Auch scheinen prophylaktische Anzeigen insoweit keine wichtige Rolle zu spielen.
Der sich abzeichnende Umgang mit der vorgegebenen Konfliktsituation auf dem
Volksfest gibt Aufschluss über die unterschiedliche regionale Situationsbewertung.
In Mannheim wurde diese Situation seltener über eine Mobilisierung des § 113
StGB gelöst als in Kiel und Lübeck.
2. Geschlechtsspezifische Situationsbewertung
Die Angaben der Befragten zu der vorgegebenen Situation sollen wiederum
geschlechtsspezifisch durchleuchtet werden (Abbildung 33).
Abbildung 33: Geschlechtsspezifische Bewertung des Konfliktes „Volksfest“
Auffallenderweise zeigt die Variable Geschlecht hier keinerlei Einfluss auf die
strategische Vorgehensweise. Etwa 70 Prozent der weiblichen und männlichen Befragten entschieden sich für eine Thematisierung des Konflikts mit einer anschließenden Mobilisierung des Widerstandsparagrafen. Die Abbildung gibt nur
sehr geringe Unterschiede bei der Deeskalationstaktik und bei der Durchsetzungsstrategie mit prophylaktisch motivierter Verrechtlichung zu erkennen. Für eine
Durchsetzungsstrategie ohne Anzeige entschieden sich je etwa 20 Prozent. Es gibt
keine geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Situationsbewertung.
145
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Durchsetzungsstrategie ohne Anzeige
Durchsetzungsstrategie und Anzeige
Durchsetzungsstrategie und
prophylaktische Anzeige
deeskalierende Strategie
Prozent
gehobener Dienst (n = 124) mittlerer Dienst (n = 175)
3. Dienstgradspezifische Situationsbewertung
Zu ermitteln ist weiterhin, ob und wie sich der Dienstgrad auf das Antwortverhalten
auswirkt (Abbildung 34).
Die Probanden entschieden sich nur vereinzelt für eine Deeskalationstaktik sowie
für eine prophylaktisch motivierte Verrechtlichung der Situation. Diesbezüglich
unterscheiden sich die Beamten des mittleren und des gehobenen Dienstes mit 3,4
Prozent zu 2,4 Prozent und 5,1 Prozent zu 2,4 Prozent fast gar nicht. Die Mehrheit
favorisierte eine Durchsetzungsstrategie mit einer anschließenden Verrechtlichung.
Dabei zeichnet sich mit 69,1 Prozent zu 77,4 Prozent die Tendenz der Befragten des
gehobenen Dienstes ab, die Situation zu verrechtlichen.
Abbildung 34: Dienstgradspezifische Bewertung des Konfliktes ãXqnmuhguvÐ
Addiert man wiederum die Werte der Antworten, die eine Verrechtlichung beinhalten, unabhängig von prophylaktischen Motiven, dann minimiert sich diese
Differenz von 8,3 Prozent auf nur 5,6 Prozent. Mit 21,7 Prozent zu 16,9 Prozent entschieden sich dementsprechend weniger Angehörige des gehobenen Dienstes für
eine Thematisierung des Konfliktes ohne Anzeige.
146
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Durchsetzungsstrategie ohne Anzeige
Durchsetzungsstrategie und Anzeige
Durchsetzungsstrategie und
prophylaktische Anzeige
deeskalierende Strategie
Prozent
16 .. 44 Jahre (n = 95) 6 .. 15 Jahre (n = 130) 1 .. 5 Jahre (n = 75)
4. Dienstzeitspezifische Situationsbewertung
Schließlich ist zu überprüfen, ob sich die Dauer der Dienstzeit auf das Entscheidungsverhalten der Befragten auswirkt (Abbildung 35).
Es lässt sich erkennen, dass eine Durchsetzungsstrategie ohne eine anschließende
Verrechtlichung der Situation mit zunehmender Diensterfahrung häufiger gewählt
wurde. Weiterhin zeigt sich die Tendenz, dass prophylaktische Motive bei der Entscheidung über die Mobilisierung des § 113 StGB öfter mit einer geringen Diensterfahrung korrelieren. Für eine Deeskalationstaktik entschieden sich relativ gesehen
mehr Beamte, die eine Diensterfahrung von ein bis fünf Jahren hatten. Ebenso
zeigen sich bei der Antwortvariante der Durchsetzungsstrategie und Verrechtlichung
keine wesentlichen Unterschiede zwischen den Angehörigen der drei Gruppen. Die
Beamten mit einer Diensterfahrung von 6 bis 15 Jahren wählten diese Strategie mit
75,4 Prozent etwas häufiger als die Angehörigen der anderen zwei Gruppen, die sich
mit 69,3 Prozent bzw. 71,1 Prozent ebenfalls überdurchschnittlich oft für diese
Variante entschieden.
Abbildung 35: Dkgpuv¦gkvurg¦khkuejg"Dgygtvwpi"fgu"Mqphnkmvgu"ãXqnmuhguvÐ
5. Ergebnis
Die Auswertung der Ergebnisse zum vorgegebenen Sachverhalt legt einen nicht unerheblichen Unterschied zwischen Kiel und Lübeck auf der einen und Mannheim
auf der anderen Seite offen. Es zeigt sich, dass zwar nahezu keine Differenzen auf
der Ebene der Thematisierung vorhanden sind, aber die Mobilisierungsstufe in Kiel
und Lübeck häufiger als in Mannheim beschritten wurde. Geschlechtsspezifische
147
Unterschiede gibt es nahezu keine. Mehr Befragte des gehobenen Dienstes
mobilisierten § 113 StGB. Unterschiede bei der Thematisierung gibt es nicht. Die
Dauer der Dienstzeit wirkt sich nur geringfügig auf die Situationsbewertung aus. So
wählten dienstjüngere Beamte lediglich etwas häufiger eine Deeskalationstaktik und
ihre erfahrenen Kollegen etwas öfter eine Durchsetzungsstrategie, ohne sich für eine
anschließende Verrechtlichung zu entscheiden. Im Ergebnis zeigen sich insoweit
jedoch keine wesentlichen dienstzeitspezifischen Abweichungen.
IV. Situation 4: Konflikt mit Migranten
In der nächsten vorgegebenen Situation ist folgender Konflikt mit Nichtdeutschen
geschildert: „Sie wollen aus einer Gruppe von Migranten eine einzelne Person X
festnehmen. Hierbei drängen sich einige Mitglieder dieser Gruppe aggressiv zwischen Sie und X, um dessen Festnahme zu verhindern.“
Das aggressive Dazwischendrängen zur Verhinderung der polizeilichen Maßnahme ist eine aktive gegen den Amtsträger gerichtete Tätigkeit, die geeignet ist, die
Vollziehung der konkretisierten Diensthandlung, hier die Verhinderung der Festnahme, zu erschweren oder zu verhindern.414 Damit kann der Tatbestand des § 113
StGB als erfüllt angesehen werden.
1. Regionale Situationsbewertung
Zunächst werden die Ergebnisse wiederum getrennt nach Städten aufgeschlüsselt
(Abbildung 36). Die wenigsten Befragten entschieden sich für eine Durchsetzungsstrategie mit prophylaktischer Anzeige. In dieser Kategorie dominieren die Beamten
aus Lübeck mit 9 Prozent, gefolgt von Mannheim mit 6 Prozent und schließlich Kiel
mit nur 4 Prozent. Ein Großteil der Antworten entfällt auf die Reaktionsvariante der
Deeskalationstaktik. In Lübeck reagierten mit einem Anteil von 26 Prozent deutlich
weniger Probanden mit einer Konflikt schlichtenden Vorgehensweise. Die Spitzenposition bei der Deeskalation nimmt Mannheim mit 35 Prozent ein, knapp gefolgt
von Kiel mit 32 Prozent.
Etwa ein Drittel der Befragten in allen drei Städten thematisierte den Konflikt
zwar, entschied sich aber gegen eine Mobilisierung. In Kiel waren es 34 Prozent, in
Lübeck 33 Prozent und in Mannheim 30 Prozent. Eine in etwa vergleichbare Anzahl
der befragten Polizeibeamten, nämlich 29 Prozent in Mannheim, 30 Prozent in Kiel
und 32 Prozent in Lübeck, wählte eine Durchsetzungsstrategie mit anschließender
Verrechtlichung des Konflikts über § 113 StGB.
414 LK-StGB/Bubnoff (1994), § 113 Rn. 14.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Arbeit knüpft an das irritierende Faktum an, dass in der Hansestadt Lübeck zumindest in den Jahren 1999 bis 2004, aber auch noch aktuell, deutlich mehr Delikte wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte nach § 113 StGB registriert worden sind als in Kiel. Dennoch ist die Zahl der Verurteilten nahezu gleich. Es liegt die Vermutung nahe, dass nur mehr Widerstände thematisiert werden als verurteilt.
Bisher vorhandene Studien zum Thema Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte gehen zumeist ätiologisch vor. Sie liefern keine Erklärung für das unterschiedliche Registrierungsverhalten, aber wichtige Vorerkenntnisse über die zu erwartenden Konflikte und sozialen Besonderheiten der „widerständigen“ Personen.
Die Arbeit knüpft an diese Erkenntnisse an, überprüft sie bezüglich ihrer Aktualität und stellt einen eigenen vollständigen theoretischen Ansatz auf. Dieser kriminalsoziologische Ansatz unterscheidet zwischen Wahrnehmung eines Konfliktes, Thematisierung des Konfliktes und Mobilisierung des Widerstandsparagrafen. Die Datenerhebung erfolgte per schriftlicher Befragung mit Interviews bei 300 Polizeibeamtinnen und -beamten. Einbezogen wurden Kiel, Lübeck und – des regionalen Vergleichs wegen – die sozialstrukturell vergleichbare Stadt Mannheim. Abgefragt wurden zahlreiche Konfliktkonstellationen und Einflussfaktoren, solche wie Geschlecht, Diensterfahrung und Dienstgrad. Die Arbeit wertet die Daten umfangreich auf unterschiedliche Reaktionsmuster hin aus.