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III. Einsatzanlässe
Aufschluss über die Tatmodalitäten geben auch die Einsatzanlässe, in deren Verlauf
es häufig zu Widerstandshandlungen kommt.
Abbildung 18: Widerstandsrelevanz von Einsatzanlässen
Es wurden regelmäßig wiederkehrende Anlässe vorgegeben, die wiederum anhand
einer sechsteiligen Ratingskala zu bewerten waren (Abbildung 18).
Die polizeiliche Einschätzung der Einsatzanlässe ist in den drei untersuchten
Städten identisch. Abbildung 18 ist zu entnehmen, dass es bei Blutproben und bei
Einsätzen wegen häuslicher Gewalt offenbar häufig zu Widerstandshandlungen
kommt. Das hohe Konfliktpotenzial bei häuslicher Gewalt kann damit erklärt
werden, dass die Polizeibeamten bei solchen Einsätzen in die Privatsphäre des
Bürgers eindringen (müssen) und häufig ein hohes Aggressionspotenzial bei
dem gewalttätigen Ehepartner antreffen. Dem Polizeieinsatz gehen zumeist bereits
gewaltsame Handlungen, üblicherweise in der Konstellation Ehemann gegen Ehefrau375, voraus. Beim Eintreffen der Beamten hat sich die Lage oft schon zugespitzt,
375 Frommel (2004b), S. 299.
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die Bereitschaft zur Gegenwehr ist hoch. Offenbar reagieren die Polizeibeamten in
solchen Fällen häufiger mit einer Anzeige. Detaillierte Erkenntnisse hierzu liefert
die Auswertung der situativen Fragen. Ebenso ist der Einsatzanlass, in dessen Verlauf eine Blutprobe durchgeführt werden soll, hoch belastet.
Den Einschätzungen der Polizeibeamten zufolge kommt es bei Situationen mit
linksextremistischem Hintergrund etwas häufiger zu Widerstandshandlungen als bei
solchen, die einen rechtsextremistischen Hintergrund haben. Diese Angaben sind
mit Vorbehalt zu betrachten. Ob eine Situation als politisch wahrgenommen und
eingestuft wird, kann sehr stark von der subjektiven Wahrnehmung abhängig sein.
So können bereits Kleidung oder Frisur als Indiz für eine politische Zugehörigkeit
gewertet werden. Eine solche Zuordnung ist weder zwingend noch per se zutreffend.
Ebenso ist speziell der Begriff der linken Szene nicht klar definiert und fraglich, ob
hierunter auch noch die Anhänger der autonomen Szene zu fassen sind. Insgesamt
scheint es bei Einsatzanlässen mit extremistischen Hintergründen nur teilweise bis
selten zu Widerständen zu kommen.
Die Befragten stuften den Einsatzanlass Strafverfolgung bei Demonstrationen als
nur teilweise widerstandsträchtig ein. Es kann gemutmaßt werden, dass diese Einschätzung nicht mit dem übermäßig friedvollen Verhalten von Demonstrationsteilnehmern, sondern auch im Zusammenhang mit der häufig praktizierten Deeskalationsstrategie der Polizei bei Demonstrationen steht. Obwohl eine Handlung
vielleicht als Widerstand beurteilt werden könnte, wird von einer weiteren
Thematisierung und Mobilisierung abgesehen, um eine Eskalation zu vermeiden.376
376 Die taktische Vorgehensweise der Polizei bei Großveranstaltungen kann je nach Einschätzung der Lage dazu führen, dass bei einer nicht deeskalativen polizeilichen Strategie,
mehr Konflikte als Widerstände definiert werden als bei einer Deeskalationstaktik. Siehe
etwa unter URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,486428,00.html (zuletzt
cwhigtwhgp" co" 3;03304229+0" Fqtv" jgk?v" gu<" ã*È+" Cdtcoqwski wies Kritik des GdP-Vorsitzenden Konrad Freiberg an der Einsatzführung vom Samstag zurück. Auch wenn es eine
hohe Anzahl an verletzten Polizeibeamten gegeben habe, sei das Ziel erreicht worden, die
3.000 Gewalttäter nicht in die Rostocker Innenstadt gelangen zu lassen. Das Konzept der
Deeskalation sei sofort nach Beginn der Auseinandersetzungen im Stadthafen durch ein entschiedenes Vorgehen ersetzt worden. Freiberg hatte ein härteres Vorgehen der Polizei gegen
fkg" Mtcycnnocejgt" ighqtfgtv0" *È+ Der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft,
Wolfgang Speck, forderte unterdessen eine Überprüfung der Polizeistrategie. "Wir müssen
uns sehr intensiv Gedanken machen, ob eine Deeskalationsstrategie wie bisher noch angebracht ist", sagte er der "Passauer Neugp" Rtguug$*È+Ð0" Oder etwa unter URL:
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,486323,00.html (zuletzt aufgerufen am
3;03304229+0"Fqtv"jgk?v"gu"ãOqpv{"Uej“fgn."Cpognfgt"fgt"Fgoqpuvtcvkqp"wpf"uq"gvycu"ykg"
der Kopf des G-8-Protests in Mecklenburg-Vorpommern, sieht das jedenfalls ganz anders. Er
ist wütend auf die Gewalttätigen, aber genauso auf die Polizei. "Was willst Du denn, Du
Arschloch", habe ein Beamter zu ihm gesagt, als er vermitteln wollte. "Dann hat er mich
weggeschubst." Nein, sagt er und sieht dabei vor allem müde aus, "da war von Deeskalation
nicht mehr viel zu spüren." Im Gegensatz dazu unter URL: http://www.stern.de/politik/deutschland/:Anti-G8-Demo-Polizei-Undercover-Einsatz/590362.html?eid=589906 (zuletzt aufgerufen am 19.11.2007). Dort war zu lesen: ã*È+"Tkpiuvqthh"nqdvg"fkg"Rqnk¦kuvgp"¦u-
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Es ist festzuhalten, dass es bezüglich der Einsatzanlässe keine regional unterschiedlichen Einschätzungen gibt und insoweit die Vergleichbarkeit der Städte gegeben ist.
IV. Lokalitäten
Die Polizeibeamten sollten angeben, an welchen Orten es nach ihrer Einschätzung
häufig zu Widerstandshandlungen kommt.
Der Fragebogen sah neun Antwortvorgaben vor, die auf einer Likert-Skala sechsfach gegliedert waren (Abbildung 19). Mit einer maximalen Abweichung von 0,6
Bewertungspunkten zeigen sich auch hier keine regionalen Unterschiede. Nahezu
alle Befragten sind sich einig, dass es in Polizeidiensträumen häufig, in Laden- und
Geschäftsräumen nur teilweise, in Dienstfahrzeugen häufig bis teilweise, auf Privatgrundstücken teilweise und in Krankenhäusern und Arzträumen selten zu Widerstandshandlungen kommt.
Geringe Einschätzungsunterschiede bestehen bezüglich folgender Orte: Diskotheken und Bars, öffentliche Bereiche, Volksfeste und solche Orte, die zuvor als ungefährlich galten. Es finden sich für Mannheim mit einer Bewertung von sehr häufig
bis häufig Höchstwerte für die Lokalitäten Diskotheken und Bars. Auch scheint es in
Mannheim etwas häufiger als in Kiel und Lübeck in öffentlichen Bereichen zu
Widerständen zu kommen. Widerstandshandlungen sind nach polizeilicher Einschätzung in Lübeck auf Volksfesten offenbar etwas seltener relevant als in Kiel und
Mannheim. Widerstandshandlungen an Orten, die zuvor als ungefährlich galten,
wurden in Lübeck etwas häufiger genannt als in den zwei anderen Vergleichsstädten.
dem für ihr besonnenes Verhalten. Einige haben im Vorfeld schon kritisiert, dass es zu viel
Polizei in Rostock gebe und dass möglichst lange nicht eingeschritten werden sollte.(…).“.
Im Rahmen einer polizeiinternen Umfrage von Korbmacher (1989, S. 124) konnte herausgefunden werden, dass mehr als 80 Prozent der befragten Polizeibeamten (N = 572) grundsätzlich für eine Verminderung von Gewaltanwendung bei Großeinsätzen stimmten.
Andererseits konnten Willems/Eckert Goldbach/Loosen (1998, S. 164) in Gesprächen mit
Polizeibeamten herausfinden, dass eine große Mehrzahl von ihnen überzeugt war, „dass die
Eskalation von Konflikten allein im Verhalten der Demonstranten begründet sei. Diese
grundlegende Annahme über die Ursache von gewaltsamen Auseinandersetzungen wurde
selbst kaum in Frage gestellt oder angezweifelt. Ein Bewusstsein der möglichen Einseitigkeit
und Perspektivität der eigenen Einschätzung war kaum vorhanden.“
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Arbeit knüpft an das irritierende Faktum an, dass in der Hansestadt Lübeck zumindest in den Jahren 1999 bis 2004, aber auch noch aktuell, deutlich mehr Delikte wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte nach § 113 StGB registriert worden sind als in Kiel. Dennoch ist die Zahl der Verurteilten nahezu gleich. Es liegt die Vermutung nahe, dass nur mehr Widerstände thematisiert werden als verurteilt.
Bisher vorhandene Studien zum Thema Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte gehen zumeist ätiologisch vor. Sie liefern keine Erklärung für das unterschiedliche Registrierungsverhalten, aber wichtige Vorerkenntnisse über die zu erwartenden Konflikte und sozialen Besonderheiten der „widerständigen“ Personen.
Die Arbeit knüpft an diese Erkenntnisse an, überprüft sie bezüglich ihrer Aktualität und stellt einen eigenen vollständigen theoretischen Ansatz auf. Dieser kriminalsoziologische Ansatz unterscheidet zwischen Wahrnehmung eines Konfliktes, Thematisierung des Konfliktes und Mobilisierung des Widerstandsparagrafen. Die Datenerhebung erfolgte per schriftlicher Befragung mit Interviews bei 300 Polizeibeamtinnen und -beamten. Einbezogen wurden Kiel, Lübeck und – des regionalen Vergleichs wegen – die sozialstrukturell vergleichbare Stadt Mannheim. Abgefragt wurden zahlreiche Konfliktkonstellationen und Einflussfaktoren, solche wie Geschlecht, Diensterfahrung und Dienstgrad. Die Arbeit wertet die Daten umfangreich auf unterschiedliche Reaktionsmuster hin aus.