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Möglichkeit 1:
A und B fordern F nochmals auf auszusteigen. Als dieser der Aufforderung nicht nachkommt
und sich kraftvoll am Lenkrad festhält352, soll F unter Anwendung unmittelbaren Zwangs
(Thematisierung und Durchsetzungsstrategie) aus seinem Kfz entfernt werden. Die Beamten
entscheiden sich sodann für eine Mobilisierung.
Möglichkeit 2:
A und B fordern F nochmals auf auszusteigen. Als dieser der Aufforderung nicht nachkommt
und sich kraftvoll am Lenkrad festhält, soll F unter Anwendung unmittelbaren Zwangs
(Thematisierung und Durchsetzungsstrategie) aus seinem Kfz entfernt werden. Die Beamten
entscheiden sich sodann gegen eine Mobilisierung.
Möglichkeit 3:
A und B nehmen sich einige Minuten Zeit, um ausführlich mit F zu kommunizieren. Sie
können ihn davon überzeugen, dass er mit auf das Revier kommen soll, um dort eine Blutprobe abzugeben. F gibt schließlich nach und steigt in das Polizeifahrzeug. A und B haben
eine deeskalierende Vorgehensweise ohne Mobilisierung gewählt.
5. Zusammenfassung
Zur Klärung des Entscheidungsverhaltens wird der rechtssoziologische Mobilisierungsansatz von Blankenburg herangezogen, der zwar ursprünglich auf zivilgerichtliche und insbesondere arbeitsrechtliche Verfahren zugeschnitten, aber wie
dargelegt, übertragbar auf das polizeiliche Anzeigeverhalten ist.
Polizeibeamte können auf den zwei Stufen Thematisierung und der Mobilisierung
strategische Entscheidungen treffen, da insoweit ein Spielraum vorhanden ist. Der
eine Handlung als Konflikt wahrnehmende Polizeibeamte kann den Widerstand
leistenden Bürger unmittelbar als Tatverdächtigen des § 113 StGB definieren oder
aber von einer solchen Mobilisierung von Strafverfolgungsmaßnahmen absehen.
Der Spielraum ist nicht unerheblich und kann von verschiedenen Einflussfaktoren,
die nachfolgend einbezogen werden, geprägt sein.
E. Präzisierung des Untersuchungsgegenstandes
Zur weiteren Präzisierung des Untersuchungsgegenstandes ist ein Ergebnis der
Studie von Philipsen heranzuziehen. Er fand heraus, dass die Anzahl der Verurteilungen im Jahr 2003 trotz einer beträchtlichen quantitativen Abweichung bei
352 Ein kraftvolles Festhalten am Lenkrad soll für die Erfüllung des Tatbestandsmerkmales
Widerstand leisten mit Gewalt i.S.d. § 113 ausreichen, siehe VRS 56, S. 144.
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den Widerstandsanzeigen in Kiel und Lübeck nahezu identisch sind (Abbildung
12).353
Abbildung 12: Verhältnis der Verurteilungen zu Einstellungen
Lübeck: 223 Anzeigen
Kiel: 96 Anzeigen
Verhältnis der Verurteilungen zu Einstellungen in Kiel und Lübeck bezogen auf den Widerstandsparagrafen.
In Lübeck wurden im Jahr 2003 relativ viele Widerstandshandlungen polizeilich
registriert, von denen nur verhältnismäßig wenige mit einer Verurteilung endeten. In
Kiel ist bei gleicher Verurteilungsrate die Anzahl der Tatverdächtigen erheblich
geringer. Die Häufigkeit der Verfahrenseinstellung unterscheidet sich deutlich. Von
einer vergleichbaren Städtestruktur ausgehend, ist das Konfliktpotenzial im Polizei-
Bürger-Verhältnis in Kiel und Lübeck etwa gleich hoch. Die abweichende Hellfeldbelastung könnte sich also durch ein regional abweichendes polizeiliches Entscheidungsverhalten erklären lassen, das sich wiederum auf die Einstellungspraxis
der Staatsanwaltschaft und der Gerichte auswirkt.
353 Philipsen (2005), S. 38.
162
Einstellungen
61
Verurteilungen
58
Verurteilungen
38
Einstellungen
98
I. Fragestellung und Annahmen
Die Vermutung, dass die regional unterschiedliche Hellfeldbelastung bei Widerstandshandlungen maßgeblich durch das polizeiliche Entscheidungsverhalten beeinflusst wird, führt zu nachfolgenden Annahmen, die anhand der Ergebnisse der
polizeilichen Befragung zu prüfen sind.
Davon ausgehend, dass die Wahrnehmung einer bestimmten Situation rechtliche
und soziale Kenntnisse voraussetzt, folgt die erste Annahme:
Annahme 1: Die Polizeibeamten in Kiel, Lübeck und Mannheim nehmen Konflikte
im Polizei-Bürger-Verhältnis in vergleichbarer Weise wahr, da sie aufgrund einer
vergleichbaren Aus- und Fortbildung vergleichbare rechtliche und soziale Kenntnisse und Fähigkeiten besitzen. Der Grund für die polizeistatistische Abweichung
liegt nicht auf der Ebene der Wahrnehmung.
Sollte diese Annahme zutreffend sein, spricht einiges dafür, dass der Grund für
die Registrierungsdivergenz auf der Ebene der Thematisierung und der Mobilisierung liegt.
Annahme 2: Die Divergenz polizeilich registrierter Widerstandshandlungen nach
§ 113 StGB kann mit unterschiedlichen Entscheidungen der Beamten über die Verrechtlichung von an sich vergleichbaren Konflikten erklärt werden. Die Entscheidungsstufen Thematisierung und Mobilisierung werden in Kiel, Lübeck und
Mannheim aus taktischen Gründen unterschiedlich gehandhabt. Die Divergenz lässt
sich demnach durch unterschiedliche Entscheidungen auf der Stufe der Thematisierung und der Mobilisierung erklären.
Es stellt sich ferner die Frage, welche Faktoren sich noch auf das polizeiliche
Konflikt- und Anzeigeverhalten auswirken und damit eine Erklärung für unterschiedliche Fallzahlen liefern können. In Betracht kommen unterschiedliche
taktische general- und spezialpräventive Überlegungen zur Bewältigung bestimmter
gesellschaftlicher Phänomene, prophylaktische oder andere Motive sowie das
Geschlecht des handelnden Beamten, dessen Dienstgrad oder die Dauer seiner
Dienstzeit. Aus diesen Überlegungen heraus folgt die dritte empirisch zu prüfende
Annahme.
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Annahme 3: Die Faktoren Geschlecht des handelnden Beamten, Dienstgrad und
Diensterfahrung können sich auf das polizeiliche Entscheidungsverhalten auswirken.
Eine regional unterschiedliche Vorgehensweise bei an sich vergleichbaren Konflikten kann auch durch eine regional unterschiedliche personalstrukturelle Verteilung
erklärt werden. Ferner können auch prophylaktische Anzeigen die Fallzahlen beeinflussen.
Sollten diese Annahmen zutreffend sein, dann könnten die Registrierungsunterschiede einerseits mit einer regional unterschiedlichen Vorgehensweise und andererseits mit einer regional abweichenden Personalstruktur (z. B. Geschlechteranteil, anteiliges Verhältnis der Dienstgrade, anteiliges Verhältnis dienstjunger zu dienst-
älteren Beamten) erklärt werden. Die aufgestellten Annahmen sollen anhand der Befragungsergebnisse verifiziert bzw. falsifiziert werden.
II. Untersuchungstechnik
Um die aufgestellten Annahmen überprüfen zu können, wurde das Erhebungsinstrument der schriftlichen Befragung gewählt, bei der es im Kernbereich um
Situationsbewertungen geht. Der Methodenwahl liegen die Erwägungen zugrunde,
dass die Technik der empirischen Datenermittlung auf die drei Methoden Beobachtung, Inhaltsanalyse und Befragung beschränkt ist.354 Die Entscheidung für die
richtige Methode/n hängt wesentlich vom Untersuchungsgegenstand ab. Untersuchungsgegenstand ist hier die polizeiliche Situationsbewertung. Die Daten
könnten anhand einer schriftlichen Befragung oder in Form eines Interviews erhoben werden. Dabei spricht für die Untersuchungstechnik des Fragebogens im
Gegensatz zum persönlichen Interview, dass dieser über fest vorgegebene Fragestellungen und Antwortmöglichkeiten verfügt und daher standardisiert ist. Gewollte
und ungewollte Beeinflussung durch eine Interviewperson sowie Interviewfehler
sind damit ausgeschlossen. Dem steht der Nachteil gegenüber, dass bei standardisierten Frage- und Antwortmöglichkeiten keine Spontanantworten berücksichtigt
werden können, welcher hier allerdings durch die Einbeziehung freiwilliger Gespräche im Anschluss an die Befragung ausgeglichen wurde. Dies kann sich verzerrend auswirken, da ein nur geringer Anteil der Befragten freiwillig an solchen
Gesprächen teilnahm und damit die Inhalte zwar nicht repräsentativ sein müssen,
jedoch Anhaltspunkte für weitere Erkenntnisse liefern können. Insbesondere im
Hinblick auf den hier notwendigen Aspekt der Vergleichbarkeit aller Antworten fiel
die Wahl auf das Erhebungsinstrument einer schriftlichen Befragung.
354 Rehbinder (2003), Rn. 62; Göppinger (1997), S.73.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Arbeit knüpft an das irritierende Faktum an, dass in der Hansestadt Lübeck zumindest in den Jahren 1999 bis 2004, aber auch noch aktuell, deutlich mehr Delikte wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte nach § 113 StGB registriert worden sind als in Kiel. Dennoch ist die Zahl der Verurteilten nahezu gleich. Es liegt die Vermutung nahe, dass nur mehr Widerstände thematisiert werden als verurteilt.
Bisher vorhandene Studien zum Thema Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte gehen zumeist ätiologisch vor. Sie liefern keine Erklärung für das unterschiedliche Registrierungsverhalten, aber wichtige Vorerkenntnisse über die zu erwartenden Konflikte und sozialen Besonderheiten der „widerständigen“ Personen.
Die Arbeit knüpft an diese Erkenntnisse an, überprüft sie bezüglich ihrer Aktualität und stellt einen eigenen vollständigen theoretischen Ansatz auf. Dieser kriminalsoziologische Ansatz unterscheidet zwischen Wahrnehmung eines Konfliktes, Thematisierung des Konfliktes und Mobilisierung des Widerstandsparagrafen. Die Datenerhebung erfolgte per schriftlicher Befragung mit Interviews bei 300 Polizeibeamtinnen und -beamten. Einbezogen wurden Kiel, Lübeck und – des regionalen Vergleichs wegen – die sozialstrukturell vergleichbare Stadt Mannheim. Abgefragt wurden zahlreiche Konfliktkonstellationen und Einflussfaktoren, solche wie Geschlecht, Diensterfahrung und Dienstgrad. Die Arbeit wertet die Daten umfangreich auf unterschiedliche Reaktionsmuster hin aus.