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Die Wahrnehmung des betroffenen Spielers/ Vermieters/ der Behörde sei in allen
Fällen vorausgesetzt. Die Fälle 1 und 2 können als rechtlich relevant eingestuft
werden, müssen es aber nicht, dagegen sollte Fall 3 wegen des Grundsatzes der
Gesetzmäßigkeit der Verwaltung als rechtlich relevant eingestuft werden. Sofern die
Fälle 1 und 2 als rechtlich relevant thematisiert werden, kann eine weitere Entscheidung zur Mobilisierung führen, wobei Mobilisierung in der Regel das Prozessieren vor Gericht ist.
An diesen Beispielen lässt sich aufzeigen, dass für eine Mobilisierung mindestens
zwei Entscheidungen für das Recht fallen müssen. Einerseits muss ein Verhalten als
rechtlich relevant eingestuft werden können und auch so eingestuft werden.
Andererseits muss eine Entscheidung für gerade diese Variante erfolgen und rechtliche Mittel ergriffen werden.
Dass dies aber keinesfalls zwingend ist, kann ebenfalls anhand der obigen Fälle
aufgezeigt werden. Der Fußballspieler mag sich etwa für eine sportliche Sichtweise
entscheiden und die Verletzung als Spielrisiko einstufen, obwohl er das Foul als
rechtlich relevant thematisiert hat. Er verrechtlicht die Situation nicht, klagt also
nicht etwa auf deliktsrechtlichen Schadensersatz, sondern wird gegebenenfalls seine
Krankenkasse in Anspruch nehmen. Der Vermieter mag sich in einem Brief an den
Mieter wenden, was ebenfalls für Abhilfe sorgen kann. Eine solche Nichtmobilisierung von Recht wirkt deeskalierend und kann kurzfristig Erfolg versprechend sein. Hilft der Mieter dem Anliegen des Vermieters nicht ab, wird dieser
sich erneut entscheiden, ob er prozessieren und damit Zivilrecht mobilisieren will.
IV. Anwendung auf den Untersuchungsgegenstand
Der Mobilisierungsansatz dient als Untersuchungsgrundlage, um die polizeiliche
Bereitschaft, widerständige Bürger zu kriminalisieren, zu erforschen.
Der zunächst nur abstrakt dargelegte Mobilisierungsansatz nach Blankenburg
wird nun dem Untersuchungsgegenstand entsprechend konkretisiert. Erste Voraussetzung ist, dass ein Polizeibeamter eine Situation als Konflikt bewusst wahrnimmt.
Hat der Beamte einen Konflikt wahrgenommen, so schließt sich die Entscheidung
darüber an, ob er die Situation als rechtlich relevant thematisiert, sich für eine
Mobilisierung von Recht entscheidet oder rechtliche Schritte ganz vermeiden
möchte. Ist dieser strategische Vorgang durchlaufen worden und hat sich der
handelnde Polizeibeamte entschieden, die Situation als rechtlich relevant zu
thematisieren, so beschreitet er die dritte Stufe. Er entscheidet sich ggf. für eine
Mobilisierung des Widerstandsparagrafen (Abbildung 11).
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Abbildung 11: Mobilisierung des Widerstandsparagrafen (II.)
Mobilisierung des Widerstandsparagrafen unter Anwendung des Mobilisierungsmodells von
Blankenburg.
1. Wahrnehmung
Zu Beginn einer jeden Situation steht die polizeiliche Wahrnehmung eines Verhaltens. Es geht um die Reaktion eines Bürgers auf eine zumindest begonnene
polizeiliche Vollstreckungshandlung i.S.d. § 113 StGB. Die schlichte Nichtwahrnehmung oder die unbewusste Wahrnehmung eines Verhaltens ist hingegen im
Rahmen dieser Arbeit empirisch nicht messbar und daher auszuklammern. Fraglich
ist, ob die Polizeibeamten der drei untersuchten Städte die Verhaltensweisen ihres
Gegenübers in vergleichbarer Weise kognitiv wahrnehmen. Sofern dies bejaht
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werden kann, liegt auf der Ebene der Wahrnehmung nicht die Ursache für die
regional abweichende polizeistatistische Erfassung des Widerstandsparagrafen.
Welche Abweichungen kann es auf der Wahrnehmungsebene geben und wie können
diese empirisch erfasst werden?
Eine Polizei-Bürger-Begegnung verläuft häufig kooperativ. Der Polizeibeamte
nimmt die neutrale, gegebenenfalls auch kooperative Reaktion des Gegenübers als
soziale Verhaltensweise wahr und es kommt zu keiner Entscheidung im Sinne des
Mobilisierungsmodells. Anders ist es, wenn der Bürger die Vollstreckungshandlung
nicht akzeptiert. Es sei vermutet, dass eine leichte Gegenwehr des Gegenübers
tendenziell eher als sozialer Konflikt wahrgenommen wird. Sobald sich der Bürger
massiv gegen die Vollstreckungshandlung wehrt, liegt eine Situation vor, die aus
polizeilicher Sicht als zu thematisierende Gegenwehr eingestuft werden kann. Dabei
könnte unterstellt werden, dass bereits auf der Stufe der kognitiven Wahrnehmung
eine bewusste Entscheidung gefällt wird. Es besteht beispielsweise die Möglichkeit,
dass Polizeibeamter A ein bestimmtes Verhalten seines Gegenübers als rechtlich
relevant betrachtet, während sein Kollege B dieselbe Handlung als lediglich sozial
wahrnimmt und nichts weiter veranlasst. Dabei stellt sich die Frage, durch welche
empirisch messbaren Faktoren die Wahrnehmung wesentlich beeinflusst wird. Die
Antwort liefert uns Blankenburg: ãGkpg" Ukvwcvkqp" cnu" rqvgp¦kgnn" tgejvnkej" ycjt¦upgjogp." ugv¦v" Mgppvpkuug" wpf"Fghkpkvkqpgp" xqtcwuÐ.349 Polizeibeamte erlernen die
für Konfliktsituationen maßgeblichen Kenntnisse und Definitionen in ihrer Aus- und
Fortbildung.350 Es kann zwar unterstellt werden, dass auch individuelle Fertigkeiten
eine gewichtige Rolle spielen, allerdings sind solche empirisch allenfalls schwer
messbar und im Rahmen dieser Untersuchung nicht nachweisbar. Wir unterstellen,
dass alle Polizeibeamten vergleichbar gut ausgebildet sind, und überprüfen dies im
empirischen Teil anhand eines Vergleichs der Einschätzung der polizeilichen Ausund Fortbildung in den untersuchten Städten. Aus einer vergleichbaren Aus- und
Fortbildungssituation folgt, dass bestimmte Situationen gleichsam wahrgenommen
werden.
2. Thematisierung
Als nächste Entscheidungsstufe folgt die Thematisierung. Wird ein kooperatives
Verhalten wahrgenommen, so kommt es zu keiner Thematisierung im Sinne des
Oqdknkukgtwpiuoqfgnnu0"Cpfgtu"kuv"gu"dgk"gkpgo"Xgtjcnvgp."fcu"gpvygfgt"cnu"ãYkfgruvcpfÐ" *pqej" pkejv" ko" vcvdguvcpfnkejgp" Ukppg+" qfgt" cnu" Mqphnkmv" ycjtigpqoogp"
wird. Hier schließt sich auf der Thematisierungsebene eine polizeiliche Reaktion an,
die in beiden Fällen eine Konflikt schlichtende, eher kommunikative Deeskalationstaktik beinhalten kann. Auf einen Konflikt kann jedoch auch eine Reaktion folgen,
349 Blankenburg (1995), S. 2.
350 So auch Feltes/Klukkert/Ohlemacher (2007), S. 289.
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die diesen eskankgtgp"n“uuv"wpf"uqfcpp"gkpg"Vjgocvkukgtwpi"cnu"ãYkfgtuvcpfÐ"hqnigp"
kann. Wurde eine Situation als nicht rechtlich wahrgenommen, so kann eine solche
Definition mit Beschreiten der Thematisierungsebene noch geleistet und sodann
konkretisiert werden.351 Auf jefg" cnu" ãYkfgtuvcpfÐ" vjgocvkukgtvg" Jcpfnwpi" mcpp"
neben der bereits genannten Deeskalation auch mit einer Durchsetzungsstrategie,
einer zwangsweisen Durchsetzung (unmittelbarer Zwang) der Vollstreckungstätigkeit, reagiert werden.
3. Mobilisierung
Der Widerstandsparagraf wird entsprechend dem Mobilisierungsmodell nicht
mobilisiert, wenn der Beamte nach der Thematisierung deeskalierend vorgeht. Fällt
seine Wahl auf eine Durchsetzungsstrategie (unmittelbarer Zwang), so kann er sich
für oder gegen eine Mobilisierung des § 113 StGB entscheiden.
4. Veranschaulichung anhand eines Beispielfalls
Das soeben in Bezug auf § 113 StGB erläuterte Modell soll anhand eines Beispielfalls veranschaulicht werden. Dazu wird folgender fiktiver Sachverhalt zugrunde
gelegt:
Die Polizeibeamten A und B sind an einem Samstagabend gegen 23 Uhr auf einer routinemäßigen Streifenfahrt im innerstädtischen Bereich der Stadt X unterwegs. Als sie im Bereich
des Hauptbahnhofes an einer roten Ampel warten, fällt ihnen ein Pkw auf, der vor der Ampel
unmittelbar vor ihnen steht. Der Fahrer F führt mit seinem Handy ein Telefongespräch (Verstoß gegen § 23 Abs. 1a S. 1 StVO). Die Beamten beschließen daraufhin, diesen zu
kontrollieren. Im Verlaufe der Kontrolle stellen sie alsbald deutlichen Alkoholgeruch fest. Ein
durchgeführter Atemalkoholtest ergibt eine Blutalkoholkonzentration von 1,5 Promille. Nach
strafrechtlich anerkannten Grundsätzen liegt bei einem solchen Wert die unwiderlegbare Vermutung der absoluten Fahruntüchtigkeit vor. Da der Verdacht einer Straftat gemäß § 316 StGB
besteht, soll eine Blutprobe durchgeführt werden (Rechtsgrundlage ist § 81a StPO). Dazu soll
F auf das nächste Polizeirevier gebracht werden.
H"ygkigtv"ukej"dgjcttnkej."cwu"ugkpgo"Ycigp"cwu¦wuvgkigp"wpf"xgtm¯pfgv."fcuu"ãkjn keine 10
Rhgtfg" cwu" ugkpgo"Ycigp" tcwudgm“ogpÐ0" Cw?gtfgo" xgtrt¯igng" gt" lgfgp." fgt" kjo" ¦w" pcjg"
komme. Er will seine Fahrt unverzüglich fortsetzen.
Die Polizeibeamten A und B nehmen das Verhalten des F zunächst nur als sozial
relevanten Konflikt wahr. Sie haben unterschiedliche Reaktionsmöglichkeiten. Die
Situation könnte folgendermaßen weiter verlaufen:
351 Siehe auch Blankenburg (1995), S. 42.
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Möglichkeit 1:
A und B fordern F nochmals auf auszusteigen. Als dieser der Aufforderung nicht nachkommt
und sich kraftvoll am Lenkrad festhält352, soll F unter Anwendung unmittelbaren Zwangs
(Thematisierung und Durchsetzungsstrategie) aus seinem Kfz entfernt werden. Die Beamten
entscheiden sich sodann für eine Mobilisierung.
Möglichkeit 2:
A und B fordern F nochmals auf auszusteigen. Als dieser der Aufforderung nicht nachkommt
und sich kraftvoll am Lenkrad festhält, soll F unter Anwendung unmittelbaren Zwangs
(Thematisierung und Durchsetzungsstrategie) aus seinem Kfz entfernt werden. Die Beamten
entscheiden sich sodann gegen eine Mobilisierung.
Möglichkeit 3:
A und B nehmen sich einige Minuten Zeit, um ausführlich mit F zu kommunizieren. Sie
können ihn davon überzeugen, dass er mit auf das Revier kommen soll, um dort eine Blutprobe abzugeben. F gibt schließlich nach und steigt in das Polizeifahrzeug. A und B haben
eine deeskalierende Vorgehensweise ohne Mobilisierung gewählt.
5. Zusammenfassung
Zur Klärung des Entscheidungsverhaltens wird der rechtssoziologische Mobilisierungsansatz von Blankenburg herangezogen, der zwar ursprünglich auf zivilgerichtliche und insbesondere arbeitsrechtliche Verfahren zugeschnitten, aber wie
dargelegt, übertragbar auf das polizeiliche Anzeigeverhalten ist.
Polizeibeamte können auf den zwei Stufen Thematisierung und der Mobilisierung
strategische Entscheidungen treffen, da insoweit ein Spielraum vorhanden ist. Der
eine Handlung als Konflikt wahrnehmende Polizeibeamte kann den Widerstand
leistenden Bürger unmittelbar als Tatverdächtigen des § 113 StGB definieren oder
aber von einer solchen Mobilisierung von Strafverfolgungsmaßnahmen absehen.
Der Spielraum ist nicht unerheblich und kann von verschiedenen Einflussfaktoren,
die nachfolgend einbezogen werden, geprägt sein.
E. Präzisierung des Untersuchungsgegenstandes
Zur weiteren Präzisierung des Untersuchungsgegenstandes ist ein Ergebnis der
Studie von Philipsen heranzuziehen. Er fand heraus, dass die Anzahl der Verurteilungen im Jahr 2003 trotz einer beträchtlichen quantitativen Abweichung bei
352 Ein kraftvolles Festhalten am Lenkrad soll für die Erfüllung des Tatbestandsmerkmales
Widerstand leisten mit Gewalt i.S.d. § 113 ausreichen, siehe VRS 56, S. 144.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Arbeit knüpft an das irritierende Faktum an, dass in der Hansestadt Lübeck zumindest in den Jahren 1999 bis 2004, aber auch noch aktuell, deutlich mehr Delikte wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte nach § 113 StGB registriert worden sind als in Kiel. Dennoch ist die Zahl der Verurteilten nahezu gleich. Es liegt die Vermutung nahe, dass nur mehr Widerstände thematisiert werden als verurteilt.
Bisher vorhandene Studien zum Thema Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte gehen zumeist ätiologisch vor. Sie liefern keine Erklärung für das unterschiedliche Registrierungsverhalten, aber wichtige Vorerkenntnisse über die zu erwartenden Konflikte und sozialen Besonderheiten der „widerständigen“ Personen.
Die Arbeit knüpft an diese Erkenntnisse an, überprüft sie bezüglich ihrer Aktualität und stellt einen eigenen vollständigen theoretischen Ansatz auf. Dieser kriminalsoziologische Ansatz unterscheidet zwischen Wahrnehmung eines Konfliktes, Thematisierung des Konfliktes und Mobilisierung des Widerstandsparagrafen. Die Datenerhebung erfolgte per schriftlicher Befragung mit Interviews bei 300 Polizeibeamtinnen und -beamten. Einbezogen wurden Kiel, Lübeck und – des regionalen Vergleichs wegen – die sozialstrukturell vergleichbare Stadt Mannheim. Abgefragt wurden zahlreiche Konfliktkonstellationen und Einflussfaktoren, solche wie Geschlecht, Diensterfahrung und Dienstgrad. Die Arbeit wertet die Daten umfangreich auf unterschiedliche Reaktionsmuster hin aus.