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Die drei Merkmale S-A-P können unterschiedlich beschaffen sein, so dass es
zahlreiche Kombinationen geben kann. Was die Normwirkung des § 113 StGB betrifft, so kann vorausgesetzt werden, dass sie sich gleichermaßen motivierend auf (P)
und (A) auswirkt. Dies hängt damit zusammen, dass ohne Weiteres unterstellt
werden kann, dass der Adressat in der Regel weiß, dass er rechtmäßige polizeiliche
Vollstreckungen zunächst zu dulden hat und ihm anderenfalls eine Strafe droht.
Umgekehrt wissen die Polizeibeamten um das Instrument des § 113 StGB. Damit
entfaltet sich die Motivation in zwei Richtungen.
Interessant ist auch das Verhältnis der Wirkungszusammenhänge zwischen (P)
und (A). Hier gibt es alternative Kombinationen, die alle zur selben Transformation
der Situation führen können343, aber nicht zwangsläufig müssen. Es ist denkbar, dass
ein Konflikt mit einem widerstandsgeneigten Adressaten und einem nicht durchsetzungsfähigen oder nicht durchsetzungswilligen Polizeibeamten zur selben Transformation führt wie eine Situation mit einem nur wenig widerstandsgeneigten
Adressaten und einem sehr durchsetzungsfähigen und durchsetzungswilligen
Implementeur. Die vorliegende Arbeit klammert jedoch - wie schon dargelegt Î die
Seite des Adressaten aus und beschränkt sich auf das polizeiliche Entscheidungsverhalten, das anhand des Mobilisierungsmodells untersucht wird. Außerdem wird abweichend vom Ausgangsmodell von Mayntz der Kreis der Wirkungszusammenhänge um externe Faktoren erweitert, die die Transformation beeinflussen können,
jedoch weder (P) noch (A) (unmittelbar) zuzurechnen sind. So können die Lokalität,
Tages-, Wochen- und Jahreszeit sowie sonstige Umstände die Entscheidung beeinflussen.
II. Einbeziehung des Mobilisierungsansatzes
Der Mobilisierungsansatz von Blankenburg bildet eine Grundlage, mit der rechtliche
Handlungsmuster bezogen darauf, wie Recht formuliert, in Anspruch genommen
und durchgesetzt oder aber gebrochen wird, erklärt werden können.344 Er geht davon
aus, dass im Verlaufe von Konflikten rechtliche Entscheidungen herausgefordert
werden, Instanzen und deren Verfahren mobilisiert werden müssen und bedient sich
hierfür eines graduellen Rechtsbegriffes. Ein Konflikt kann von einer Partei als rein
rechtlich und von einer anderen als rein sozial verstanden werden. Demnach stehen
ukej" jkgt" fcu"Igigpucv¦rcct" ãRechtÐ" wpf" ãnicht RechtÐ" cnvgtpcvkx" einander gegen-
über.345 Blankenburg unterscheidet zwischen (1) Wahrnehmung einer Situation, (2)
Thematisierung und (3) Mobilisierung von Normen. Erste Voraussetzung ist die
Wahrnehmung einer Situation, die auf zweiter Stufe als rechtlich relevant oder
rechtlich nicht relevant eingestuft werden kann und damit thematisiert wird. Dabei
343 Mayntz (1983), S. 18.
344 Blankenburg (1995), S. 2.
345 Blankenburg (1995), S. 2.
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bedeutet die Thematisierung von Recht nach seiner Ansicht in jedem Fall schon die
Eskalation des Konflikts.346 Ob dies in jedem Fall zutreffend ist, ist zu bezweifeln.
Zuzustimmen ist dieser Sichtweise jedoch insoweit, als mit der Thematisierung
jedenfalls in den meisten H“nngp" gkp" ãRqkpv" qh" pq" tgvwtpÐ" ¯dgtuejtkvvgp" yktf0347
Sodann ist auf der dritten Ebene eine Entscheidung für oder gegen das Instrumentarium des Rechts zu treffen, also ein Ingangsetzen der Rechtsmaschinerie,
eine Mobilisierung von Normen.348 Recht erlangt nur dann eine messbare Wirklichkeit, wenn alle drei Ebenen beschritten werden. Andernfalls wird ein Konflikt in
einem vorrechtlichen Stadium beigelegt.
Um die Überleitung zu Konflikten im Sinne des Widerstandsparagrafen zu
finden, wollen wir uns folgenden Unterschied verdeutlichen. Bei beispielsweise
arbeitsrechtlichen Streitigkeiten wird die Stufenleiter der Mobilisierung grundsätzlich von beiden am Streit beteiligten Parteien beschritten. Der Arbeitgeber wird etwa
einseitig rechtsgestaltend tätig, indem er dem Arbeitnehmer die Kündigung ausspricht und damit die Thematisierungsstufe beschreitet. Der Arbeitnehmer hingegen
reagiert beispielsweise mit der Beschreitung der Mobilisierungsebene, indem er
hiergegen ein Arbeitsgericht mobilisiert. Beim Widerstandsparagrafen gestaltet sich
das Aktions-Reaktions-Gefüge abweichend. Der Polizeibeamte nimmt einen
Konflikt wahr und reagiert auf diesen. Die Stufenleiter wird demnach nur vom
Polizeibeamten beschritten. Er thematisiert eine Handlung als rechtlich relevant und
entscheidet sich ggf. für eine Anzeige.
III. Veranschaulichung
Zur Veranschaulichung des Blankenburgschen Mobilisierungsansatzes werden drei
fiktive Sachverhalte beispielhaft dargelegt:
Fall 1:
Ein Fußballspieler wird beim Spiel gefoult und erleidet einen Beinbruch.
Fall 2:
Ein Wohnungsmieter beschädigt die Bausubstanz.
Fall 3:
Atomkraftwerk X entspricht nicht den gesetzlichen Sicherheitsanforderungen.
346 Blankenburg (1980), S. 132 f.
347 Ähnlich: Luhmann (1980), S. 102.
348 Blankenburg (1980), S. 133.
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References
Zusammenfassung
Die Arbeit knüpft an das irritierende Faktum an, dass in der Hansestadt Lübeck zumindest in den Jahren 1999 bis 2004, aber auch noch aktuell, deutlich mehr Delikte wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte nach § 113 StGB registriert worden sind als in Kiel. Dennoch ist die Zahl der Verurteilten nahezu gleich. Es liegt die Vermutung nahe, dass nur mehr Widerstände thematisiert werden als verurteilt.
Bisher vorhandene Studien zum Thema Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte gehen zumeist ätiologisch vor. Sie liefern keine Erklärung für das unterschiedliche Registrierungsverhalten, aber wichtige Vorerkenntnisse über die zu erwartenden Konflikte und sozialen Besonderheiten der „widerständigen“ Personen.
Die Arbeit knüpft an diese Erkenntnisse an, überprüft sie bezüglich ihrer Aktualität und stellt einen eigenen vollständigen theoretischen Ansatz auf. Dieser kriminalsoziologische Ansatz unterscheidet zwischen Wahrnehmung eines Konfliktes, Thematisierung des Konfliktes und Mobilisierung des Widerstandsparagrafen. Die Datenerhebung erfolgte per schriftlicher Befragung mit Interviews bei 300 Polizeibeamtinnen und -beamten. Einbezogen wurden Kiel, Lübeck und – des regionalen Vergleichs wegen – die sozialstrukturell vergleichbare Stadt Mannheim. Abgefragt wurden zahlreiche Konfliktkonstellationen und Einflussfaktoren, solche wie Geschlecht, Diensterfahrung und Dienstgrad. Die Arbeit wertet die Daten umfangreich auf unterschiedliche Reaktionsmuster hin aus.