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streckungsbeamten, sondern im Widerstand gegen die Vollstreckungshandlung.321
Allerdings kann der staatliche Wille nur durch natürliche Personen verwirklicht
werden. Die Vollstreckungshandlung ist also untrennbar mit der Person des Vollstreckungsbeamten verbunden. Damit ist es sinnvoll, auch das berufene Vollstreckungsorgan in den Schutzbereich des Widerstandsparagrafen zumindest mittelbar einzubeziehen.322 In der nachfolgenden Arbeit wird der Polizeibeamte aus
diesem Grunde auch als Betroffener bezeichnet, wobei ihn diese Bezeichnung nicht
in eine Opferposition drängen soll, sondern dies vielmehr wertneutral zu verstehen
ist.
III. Der sog. Trichter der Sanktionierung beim Widerstand gegen die Staatsgewalt
Die strukturelle Besonderheit bei der Mobilisierung von § 113 StGB lässt sich
auch grafisch anhand eines sog. Trichters der Sanktionierung beim Widerstand (PKS
Schlüssel 6210) verdeutlichen (Abbildung 9).
Der aufgestellte Trichter hebt sich insbesondere durch das Graufeld ab. Alle
Handlungen, die aufgrund des Tatbestandes als Widerstand beurteilt werden
könnten, aber von dem Polizeibeamten nicht als solcher beurteilt wurden, liegen im
Graufeld. Ein Dunkelfeld ist nicht vorhanden, weil die polizeiliche Wahrnehmung
und Thematisierung gegeben sind und die Tat damit den Strafverfolgungsbehörden
zumindest bekannt ist, eine weitere Etikettierung des Verhaltens im Rahmen des
polizeilichen Spielraums jedoch nicht erfolgt ist. Alle als Widerstand etikettierten
Verhaltensweisen mit Anzeige entsprechen 100 Prozent der statistisch registrierten
Taten. Die Aufklärungsquote ist, ähnlich wie bei Körperverletzungsdelikten323 (90,3
Prozent), mit 98,6 Prozent sehr hoch, was daran liegt, dass der Beamte die Identität
des Widerstandsübenden fast immer unmittelbar feststellen kann. Entsprechend
hoch (88,4 Prozent) ist der Anteil der ermitteltenden Tatverdächtigen (bei
Körperverletzung 84,1 Prozent). Der Anteil der Angeklagten beträgt 22 Prozent, 17
Prozent werden gerichtlich verurteilt und gegen 2 Prozent ergeht eine Freiheitsstrafe
(0,4 Prozent ohne Bewährung).
321 Maurach/Schroeder/Maiwald (2005), § 71 II Rn. 7.
322 Mit unterschiedlichen Nuancierungen befürwortend: Schönke/Schröder-Eser (2006), § 113
Rn. 2; Kindhäuser (2003), § 36 Rn. 1; NK-StGB/Paeffgen (2005), § 113 Rn. 7; Backes/
Ransiek (1989), S. 624; Wessels/Hettinger (2007), Rn. 622; Schall (1980), S. 25; LK-
StGB/Bubnoff (1994), § 113 Rn. 14.
323 PKS Schlüssel 2240.
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Berichtsjahr 2005.324
324 Bundes-PKS (2006), Berichtsjahr 2005; Strafverfolgungsstatistik (2007), Berichtsjahr
2005.
Abbildung 9: Trichter der Sanktionierung beim Widerstand gegen die
Staatsgewalt
Graufeld:
Alle Handlungen, die aufgrund des Tatbestandes als
Widerstand gegen die Staatsgewalt beurteilt werden
könnten, die aber nicht als solche beurteilt werden
.
als Widerstand beurteilt + Anzeige:
25.664 = 100%
aufgeklärte Straftaten
= 98,6%
Tatverdächtige
= 88,4%
Angeklagte = 22%
Verurteilte vor Gericht = 17%
Freiheitsstrafen = 2%
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D. Annahmen der Befragung
Es stellt sich die Frage, warum der Straftatbestand in drei vergleichbaren Städten
unterschiedlich häufig registriert wird. Die Ursachen für die regional abweichenden
Tatzahlen liegen, wie dargelegt, vermutlich nicht auf Seiten der Widerstands-
übenden. Denn bei diesen wird gleiches Verhalten in gleicher Häufigkeit unterstellt.
Es ist daher mithilfe eines rechtssoziologischen Erklärungsansatzes das polizeiliche
Kriminalisierungsverhalten zu untersuchen.
Die Soziologie will das soziale Zusammenleben in der Gesellschaft erforschen
und beschreiben. Hierzu wird der Mensch in all seinen sozialen Facetten beleuchtet
und es werden die Strukturen des sozialen Handelns insbesondere auf der Makroebene untersucht.325 Dem Untersuchungsgegenstand entsprechend soll die Umsetzung geltenden Rechts untersucht werden, folglich bewegen wir uns im Teilbereich der Rechtssoziologie. Diese beschäftigt sich mit der sozialen Wirklichkeit
von Recht. Sie trifft Aussagen über das "Sein" des Rechts, beschreibt und erklärt das
Rechtsleben326 und fragt danach, wer auf welche Weise feststellt, was Recht sein
soll.327 Sie hat sich die Erforschung folgender Fragen zum Ziel gesetzt:
Wirkt Recht auf die Gesellschaft und ihre Teilbereiche?
Wo wirkt Recht?
Wie wirkt Recht?
Die Implementation von rechtlichen Normen lässt sich ganz allgemein in der
Rechtspraxis am Verhalten derjenigen ablesen, die sich mit Aufstellung, Anwendung und Durchsetzung von Rechtsnormen beschäftigen.328 Dabei ist das Recht
auch als Steuerungs- und Herrschaftsinstrument zu sehen. Ob es diese Steuerungsfunktion faktisch erfüllt, lässt sich nur durch Beobachtung des Soziallebens feststellen.329
Zur Klärung des polizeilichen Entscheidungsverhaltens wird der Mobilisierungsansatz330 von Blankenburg verwendet, der zwar ursprünglich für zivil- und insbesondere arbeitsrechtliche Verfahren zugeschnitten ist und in diesem Bereich die
unterschiedlich hohen Raten zu erwartender Klagen je nach Rechtskultur untersucht,
jedoch auch auf das polizeiliche Anzeigeverhalten übertragen werden kann. Die
Bereitschaft, widerständige Bürger ggf. zu kriminalisieren, ist vergleichbar mit der
Bereitschaft, strittige Rechtsfragen gerichtlich klären zu lassen.
325 Rehbinder (2003), Rn. 31.
326 Rehbinder (2003), Rn. 1.
327 Blankenburg (1995), S. 1.
328 Rehbinder (2003), Rn. 3.
329 Rehbinder (2003), Rn. 4.
330 Blankenburg (1980), S. 132 ff.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Arbeit knüpft an das irritierende Faktum an, dass in der Hansestadt Lübeck zumindest in den Jahren 1999 bis 2004, aber auch noch aktuell, deutlich mehr Delikte wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte nach § 113 StGB registriert worden sind als in Kiel. Dennoch ist die Zahl der Verurteilten nahezu gleich. Es liegt die Vermutung nahe, dass nur mehr Widerstände thematisiert werden als verurteilt.
Bisher vorhandene Studien zum Thema Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte gehen zumeist ätiologisch vor. Sie liefern keine Erklärung für das unterschiedliche Registrierungsverhalten, aber wichtige Vorerkenntnisse über die zu erwartenden Konflikte und sozialen Besonderheiten der „widerständigen“ Personen.
Die Arbeit knüpft an diese Erkenntnisse an, überprüft sie bezüglich ihrer Aktualität und stellt einen eigenen vollständigen theoretischen Ansatz auf. Dieser kriminalsoziologische Ansatz unterscheidet zwischen Wahrnehmung eines Konfliktes, Thematisierung des Konfliktes und Mobilisierung des Widerstandsparagrafen. Die Datenerhebung erfolgte per schriftlicher Befragung mit Interviews bei 300 Polizeibeamtinnen und -beamten. Einbezogen wurden Kiel, Lübeck und – des regionalen Vergleichs wegen – die sozialstrukturell vergleichbare Stadt Mannheim. Abgefragt wurden zahlreiche Konfliktkonstellationen und Einflussfaktoren, solche wie Geschlecht, Diensterfahrung und Dienstgrad. Die Arbeit wertet die Daten umfangreich auf unterschiedliche Reaktionsmuster hin aus.