328
trug, gleichzeitig aber die Funktionsfähigkeit der integrierten Strukturen zur Umsetzung dieses Beschlusses minderte. Kritik an diesem Verhalten regte sich vor allem
unter den militärischen Vertretern im Bündnis. So äußerte ein Gesprächspartner die
Befürchtung, dass dieses Verhalten zu einer Renationalisierung im Bündnis und
damit zu einer Verbreitung des Phänomens von ad hoc-„Koalitionen der Willigen“
beitragen werde. Hier liege eine Sollbruchstelle für das multinationale Krisenmanagement der Allianz. 1286
6.5.3 Deutsche Initiativen zur politischen Wiederbelebung des Bündnisses
Während des Streits über den Irak-Krieg hatte die NATO als Konsultationsforum
zur Bewältigung der internen politischen Krise zwischen den Mitgliedstaaten versagt. Zunächst wurde das Thema Irak von der offiziellen Agenda gestrichen, da es
als nicht konsensfähig galt. Als es sich schließlich mit Gewalt über den Umweg der
Verteidigungsplanungen für die Türkei den Weg in die Bündnisgremien bahnte,
löste es dort eine schwere Krise aus. Nach dem Ende des Krieges unternahmen die
außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungsträger in Berlin eine Reihe von
Initiativen, die auf eine Wiederherstellung bzw. Stärkung der politischen Dimension
der Nordatlantischen Allianz abzielten.
Den Auftakt machten Außenminister Fischer und Verteidigungsminister Struck
während der 40. Konferenz für Sicherheitspolitik in München. Die ehemalige Wehrkundetagung war traditionell der Ort, an dem hochrangige deutsche und internationale Entscheidungsträger neue sicherheitspolitische Ideen jenseits der tagesaktuellen Regierungspolitik vortragen konnten. Fischer griff mit dem Nahen und Mittleren
Osten ein Thema auf, das er während seiner Amtszeit zu einem Schwerpunkt gemacht hatte. Er schlug eine „neue transatlantische Initiative“ für die Region vor und
griff damit ähnliche Gedanken auf, welche die Bush-Administration bereits kurz
zuvor öffentlich erörtert hatte. Die Initiative sah unter anderem eine engere Verflechtung zwischen den bestehenden Mittelmeerdialogen von EU und NATO vor.
Inhaltlich sollte der Rahmen weit gesteckt sein und die Bereiche Sicherheit (Abrüstung/Rüstungskontrolle), Politik, Wirtschaft, Recht und Kultur sowie die Zivilgesellschaft umfassen. Fischer begriff seinen Vorschlag als Teil einer umfassenderen
„Rekonstruktion des Westens“, die eine neue Basis für die Zusammenarbeit zwischen Amerika und Europa schaffen sollte. Die Modernisierung und Demokratisie-
1286 Ein weiterer Gesprächspartner sah ein zentrales Glaubwürdigkeitsproblem, „wenn man jene
Soldaten, die Deutschland in die internationalen Strukturen der NATO entsandt hat, im
Nachhinein blockiert, nachdem die NATO als Ganzes mit deutscher Zustimmung eine begrenzte Ausbildungsmission im Irak beschlossen hat.“ Persönliche Interviews. Auf die Gefahr einer Renationalisierung der Sicherheitspolitik durch die Schwächung der integrierten
Allianzstrukturen machte Klaus Wiesmann, der von 1995 bis 2000 den deutschen Generalinspekteur im NATO-Militärausschuss vertreten hat, bereits für die Zeit vor dem Irak-Krieg
aufmerksam. Vgl. Wiesmann, Die vielleicht letzte Chance der NATO.
329
rung des Nahen und Mittleren Ostens sollte als Leitprojekt für einen neuen Transatlantizismus dienen.1287
Die Initiative stieß jedoch auf Vorbehalte und ließ Raum für Unklarheiten und
Missverständnisse. Obwohl Fischer seinen Vorschlag in den Zusammenhang der
deutschen Bündnispolitik gestellt hatte, blieb der Stellenwert der NATO im Verhältnis zur Europäischen Union unklar. Washington stand traditionell der eigenständigen sicherheitspolitischen Zusammenarbeit der Europäer außerhalb des Bündnisses
skeptisch gegenüber, während Frankreich neue Initiativen zumeist danach beurteilte,
ob sie die NATO gegenüber der europäischen Zusammenarbeit zu sehr aufwertete.
Dies galt vor allem in Bereichen, die nicht unmittelbar mit der kollektiven Verteidigung zusammenhingen. Beide Seiten fühlten sich vor Fischers Vorstoß nicht ausreichend konsultiert.1288 Ein weiteres Problem bestand darin, dass sich der Ansatz der
Bush-Administration zur Transformation des Nahen und Mittleren Ostens in wesentlichen Punkten von den deutschen Vorstellungen unterschied. Dies brachte der ehemalige deutsche Botschafter in Washington, Wolfgang Ischinger, auf den Punkt:
„The European approach [towards the Greater Middle East] has been, one might argue, a longterm and cooperative approach based on our understanding that the region’s future cannot be
imposed from outside, and based on patience and maturity. By contrast, the American
approach towards the region, developed since 9/11, has been, at least in the beginning, more
impatient, more result-oriented, more short-term […].“1289
Die bestehenden Meinungsverschiedenheiten über die richtige Strategie für eine
Demokratisierung der Region behinderten die Entstehung einer gemeinsamen Initiative innerhalb der NATO. Bereits auf dem Gipfel der G-8 Staaten in Sea Island im
Juni 2004 konnte man sich lediglich auf eine allgemeine Zustimmung zu einer transatlantischen Initiative ohne Details entschließen.1290 Auf ihrem Gipfeltreffen in Istanbul verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs der Allianz schließlich die
Istanbul Cooperation Initiative. Sie beschränkte sich jedoch auf die Ergänzung des
bestehenden Mittelmeerdialogs durch eine praxisorientierte Kooperation im Sicherheits- und Verteidigungssektor.1291 Ein umfassender transatlantischer Ansatz
1287 Interview mit Joschka Fischer in: FAZ (6.3.2004), Rekonstruktion des Westens.
1288 Ein Vertreter der US-Regierung wurde mit der Bemerkung zitiert, Fischers Plan sei „a
blatant rehash of US President George W. Bush’s recently announced forward strategy for
the Middle East.“ Expatica (16.2.2004), Fischer's Mideast move ires EU allies,
http://www.expatica.com, (letzter Zugriff am 18.2.2004).
1289 Ischinger, Wolfgang (14.12.2004), German Ambassador Ischinger Writes on Moving
Toward a More Mature Transatlantic Relationship for December Edition of the Atlantic
Times,
http://www.germany-info.org/relaunch/politics/new/pol_bo_atlantic_times_12_2004.html,
(letzter Zugriff am 19.1.2005).
1290 Vgl. FAZ (11.6.2004), Schröder und Chirac gegen Einsatz der Nato im Irak.
1291 In der gemeinsamen Erklärung der Staats- und Regierungschefs heißt es zur Istanbul Cooperation Initiative (ICI): „The initiative focuses on practical cooperation where NATO
can add value, notably in the defence and security fields. This initiative is distinct from, yet
330
gegenüber der Region, der auch politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche
Elemente sowie die bestehenden Strukturen von NATO und EU integrierte, fehlte
weiterhin.
Ebenfalls während der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang Februar 2004 lancierte Verteidigungsminister Struck die Idee eines neuen „Harmel Berichts“, der von
europäischen und amerikanischen Experten bis zum Istanbuler Gipfel erarbeitet
werden sollte. Ähnlich wie das Vorbild in den 1960er Jahren sollte das neue Dokument die Grundlage für einen umfassenden strategischen Dialog zwischen Europa
und Amerika schaffen und sich dabei auf die neuen internationalen Herausforderungen konzentrieren: den Terrorismus, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen sowie die Demokratisierung und Stabilisierung des Nahen und Mittleren Ostens.1292 Struck knüpfte seinen Vorschlag an eine kaum verhüllte Kritik an der amerikanischen Bündnispolitik nach dem 11. September 2001. Ziel sei eine effiziente
Partnerschaft zwischen gleichen und demokratischen Partnern, nicht ein Werkzeugkasten für ad hoc-Koalitionen unter Führung der USA.
Die Idee eines großen strategisch-konzeptionellen Wurfs stieß in den USA wie
auch unter den europäischen Partnern auf Widerspruch. Generalsekretär Jaap de
Hoop Scheffer lehnte ein externes Expertengremium ab und war bestrebt, jede Reformdiskussion innerhalb des Bündnisses zu halten. Darüber hinaus wurde befürchtet, dass die Grundsatzdiskussionen im Zusammenhang mit einem neuen Harmel-
Bericht so kurz nach dem Irak-Krieg die transatlantischen Differenzen nur verschärfen würden. Nachdem die Idee sehr schnell zu Grabe getragen wurde, präsentierte
der deutsche Verteidigungsminister gut ein Jahr später einen weniger ambitionierten
Vorschlag, um den strategischen Dialog über wichtige politische Themen im Rat der
Verteidigungsminister durch eine Reihe von konkreten Maßnahmen zu fördern.
Dazu wollte er den Nordatlantikrat von Routineangelegenheiten entlasten sowie
dessen Arbeit durch die Einrichtung von untergeordneten Ausschüssen unterstützen.
Nach dem Voranschreiten der militärischen Transformation, so Struck, gehe es nun
darum, der NATO wieder einen hohen politischen Stellenwert zu geben. 1293 Der
Verteidigungsminister kündigte bereits eine entsprechende Initiative zur Umsetzung
seiner Ideen zum nächsten informellen Treffen der NATO-Verteidigungsminister im
takes into account and complements, other initiatives involving other international actors.
While respecting the specificity of the Mediterranean Dialogue, the enhanced Mediterranean Dialogue and the Istanbul Cooperation Initiative are complementary, progressive and
individualized processes.“ Die ICI sah insbesondere die Stärkung der Zusammenarbeit mit
den Staaten des Golf-Kooperationsrates vor. NATO (28.6.2004), Istanbul Summit Communiqué. Issued by the Heads of State and Government participating in the meeting of the
North Atlantic Council in Istanbul on 28 June 2004, Press Release (2004)096, Istanbul, Absätze 37 und 38.
1292 Struck, Speech delivered by Peter Struck on 7 February 2004 in Munich.
1293 Vgl. Struck, Peter (11.5.2005), Deutschland und die Zukunft der NATO – Rede des Bundesministers der Verteidigung auf der Konferenz 'NATO 2020: Kommende Bedrohungen
und Herausforderungen und die Zukunft der transatlantischen Sicherheitskooperation' am
11. Mai 2005 in Berlin, http://www.dgap.org, (letzter Zugriff am 13.5.2005).
331
September 2005 an. Aufgrund der vorgezogenen Bundestagswahlen kam es jedoch
nicht mehr dazu.
Trotz der negativen Reaktionen in Brüssel und Washington griff Bundeskanzler
Schröder die Idee einer konzeptionellen Grundsatzdiskussion zur Zukunft der Allianz ein Jahr später wieder auf. In seiner Rede vor der 41. Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2005 – die krankheitsbedingt vom deutschen Verteidigungsminister verlesen werden musste – erklärte Schröder, dass bei der Umsetzung der transatlantischen Bindung in praktische Politik nicht „die Vergangenheit der Bezugspunkt
sein [kann], wie das so oft in transatlantischen Treueschwüren der Fall ist.“ Aus der
gestiegenen Mitverantwortung Deutschlands für die internationale Sicherheit leitete
Schröder den deutschen Anspruch auf mehr Mitsprache – in den Vereinten Nationen
sowie im Bündnis – ab. Die transatlantische Partnerschaft, so der Kanzler weiter,
trage diesen Veränderungen nicht mehr Rechnung. Die NATO habe durch die Osterweiterung ihre Anziehungskraft und durch ihr militärisches Krisenmanagement
ihre Leistungsfähigkeit bewiesen. Dennoch:
„Sie ist […] nicht mehr der primäre Ort, an dem die transatlantischen Partner ihre strategischen Vorstellungen konsultieren und koordinieren. Dasselbe gilt für den Dialog zwischen der
Europäischen Union und den Vereinigten Staaten, der in seiner heutigen Form weder dem
wachsenden Gewicht der Union noch den neuen Anforderungen transatlantischer Zusammenarbeit entspricht.“1294
Um diesen Missstand zu beheben, schlug Schröder die Einrichtung eines hochrangigen Panels unabhängiger Persönlichkeiten von beiden Seiten des Atlantiks vor,
das die Strukturen der transatlantischen Zusammenarbeit überprüfen sollte. Der
Bundeskanzler stieß mit diesem Vorschlag auf ähnliche Vorbehalte wie schon zuvor
sein Verteidigungsminister, die zudem durch eine unglückliche Vorbereitung und
Präsentation der Rede noch verstärkt wurden.1295 So entstand unter den amerikanischen Adressaten der Rede der Eindruck, der Bundeskanzler habe keine kritische
Zustands-, sondern eine Zielbeschreibung formuliert, die auf eine Schwächung der
NATO hinaus laufen würde.1296
1294 Schröder, Gerhard (12.2.2005), Rede auf der XLI. Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik am 12. Februar 2005, http://www.securityconference.de, (letzter Zugriff am 7.9.2007).
1295 Durch die krankheitsbedingte Abwesenheit Schröders sah sich Außenminister Fischer
gezwungen, Erläuterungen zu den Äußerungen des Bundeskanzlers nachzureichen. Er tat
dies mit einer rhetorischen Frage: „Wo diskutieren wir in der NATO die Todesstrafe, den
internationalen Strafgerichtshof, das Vorgehen zum Kyoto-Prozess?“ SZ (Internet-
Ausgabe) (13.2.2005), Schröder verärgert die NATO, http://www.sueddeutsche.de, (letzter
Zugriff am 15.2.2005). Fischers Themenliste war nicht nur breit gefasst, so dass sie kaum
noch etwas mit sicherheits- und verteidigungspolitischen Dingen zu tun hatte. Sie beschränkte sich auch auf jene Bereiche, die zwischen den transatlantischen Partnern besonders umstritten waren und klammerte die eher verbindenden Aspekte aus.
1296 Vgl. FAZ (14.2.2005), Struck: Wir wollen die Nato nicht sterben lassen; ISN Security
Watch (18.2.2005), Schröder eyes EU as primary security forum; Washington Times (Internet-Ausgabe) (13.2.2005), Rumsfeld defends NATO as still vital, http://www.washing
332
Trotz aller Irritationen hatte Schröder einen wunden Punkt in der transatlantischen Diskussion getroffen. Bald machte auch Generalsekretär de Hoop Scheffer
das Ziel einer Stärkung der politischen Dimension der Bündnispolitik zu einem
Kernpunkt seiner Reformagenda. Im Vorfeld des NATO-Gipfels im Februar 2005
erklärten die Staats- und Regierungschefs: „We are committed to strengthening
NATO’s role as a forum for strategic and political consultation and coordination
among Allies, while reaffirming its place as the essential forum for security consultation between Europe and North America.“1297
Die Initiativen von Fischer, Struck und Schröder litten nicht nur daran, dass sie
nicht optimal vorbereitet und präsentiert wurden. Sie mussten sich vor allem gegen
ein Umfeld des Misstrauens behaupten, dass der rot-grünen Bundesregierung noch
immer von Seiten der amerikanischen Administration wegen ihres Verhaltens während der Irak-Krise entgegengebracht wurde. Dennoch trug die Regierung Schröder
wesentlich dazu bei, dass die Förderung einer neuen transatlantischen Streitkultur
bald wieder auf der Agenda des Bündnisses stand. Letztlich wird aber das tatsächliche Verhalten der Mitgliedstaaten bei einer neuen sicherheitspolitischen Krise zeigen, wie weit Konsultationen und Dialog tatsächlich tragen. Indirekt machte die
Bundesregierung unter Kanzler Schröder davon auch abhängig, inwiefern die deutsche Sicherheitspolitik die NATO in Zukunft als primäres politisches Forum für die
transatlantische Zusammenarbeit betrachten wird. Der militärische Werkzeugkasten
entspricht jedenfalls nicht dem deutschen Verständnis von den Funktionen des
Bündnisses.1298
Die ersten außen- und sicherheitspolitischen Schritte der im September 2005 neu
ins Amt gewählten Bundesregierung der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD
unter Führung von Bundeskanzlerin Angela Merkel deuteten auf eine Fortsetzung
des von Rot-Grün eingeschlagenen Kurses hin. Dieser Kurs zielte – im Sinne der
Verbesserung des strategischen Dialogs und der Konsultationen – auf die Stärkung
der allgemeinen politischen Allianzfunktion. Durch entsprechende eigene Initiativen
zeigte Berlin in diesem Bereich nicht nur einen hohen Gestaltungswillen, sondern
weckte auch entsprechend hohe Erwartungen an die deutsche Bündnispolitik.
tontimes.com, (letzter Zugriff am 17.2.2005). NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer reagierte scharf auf die Rede Schröders: „We should rather do trans-Atlantic relations
than talk trans-Atlantic relations. […] NATO is a unique political forum […]. Let us not
say that NATO is terminally ill.“ IHT (15.2.2005), U.S. rebuffs Germany on plan for
NATO.
1297 NATO (22.2.2005), Statement issued by the Heads of State and Government in a meeting
of the North Atlantic Council in Brussels, Press Release (2005)022, Brüssel.
1298 Vgl. dazu auch die Bemerkungen Peter Strucks während des NATO-Gipfels im Februar
2005: „Man darf die NATO nicht als Werkzeugkasten missbrauchen und sich raussuchen,
die man braucht, mit denen man irgendetwas machen will und die anderen dann an die Seite stellen.“ Er beklagte in diesem Zusammenhang außerdem, dass es bisher keinen Konsultationsrahmen für politische Fragen zwischen der EU und den USA gebe. Vgl. Handelsblatt
(Internet-Ausgabe) (22.2.2005), Chirac stellt sich hinter Schröder-Vorstoß,
http://www.handelsblatt.com, (letzter Zugriff am 24.2.2005).
333
Umgekehrt richten sich von deutscher Seite hohe Erwartungen an die neue US-
Administration unter Präsident Barack Obama. Seine bisher vorgetragene Programmatik deutet auf eine Rückkehr zur amerikanischen Führungsrolle hin, die stärker
einem liberalen Grundverständnis folgt.1299 So lautet die Hoffnung nicht nur in Berlin, dass Washington künftig wieder mehr Anstrengungen zur Stärkung internationaler Institutionen und zur Einbindung der Partner im Ausland unternehmen wird. Ob
damit jedoch auch die Stärkung formaler Organisationen und Strukturen einhergeht,
bleibt abzuwarten. Der ehemalige amerikanische Botschafter in Deutschland, John
Kornblum, erkennt im Handeln Obamas bereits eine „neue multilaterale Methode“,
die dem deutschen Verständnis institutioneller Kooperation eher entgegenstehen
würde. In einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung warnte er
vor Enttäuschungen der Europäer: „Europa hat Jahrzehnte damit verbracht, multilaterale Institutionen alten Stils zu schaffen, die über formale Übereinkünfte und klar
definierte Strukturen funktionieren. Die Liste der Vorhaben, die sowohl die EU als
auch der deutsche Außenminister formuliert haben, spiegelt diesen statischen Ansatz
wider. […] Obama wird bestehende Kanäle umgehen, wenn sie nicht effektiv genug
sind.“1300
6.6 Fazit: Deutsche Sicherheitspolitik in der NATO nach dem 11. September 2001
6.6.1 Gestaltungswille der deutschen Politik
Auch nach der Zäsur der Terroranschläge vom 11. September 2001 zeichnete sich
die deutsche Sicherheitspolitik im Bündnis durch ein differenziertes Handlungsmuster aus, das jenem in den 1990er Jahren ähnelte. So lassen sich jene vier bereits im 5.
Kapitel (Abschnitt 5.4.1.) identifizierten Elemente des Handlungsmusters auch nach
dem 11. September beobachten. Diese sind erstens eine im Verhältnis zu politischen
Fragen eher passive Politik im militärischen Bereich, zweitens ein abgestufter Gestaltungswille im Verhältnis von Krisen- zu Planungsentscheidungen, drittens ein
ebenfalls deutlich abgestufter Gestaltungswille zwischen dem unteren und dem
oberen Spektrum militärischer Aufgaben und viertens ein klar erkennbarer Anspruch, im betreffenden Konfliktgebiet, in diesem Fall Afghanistan, ordnungspolitische Funktionen zu übernehmen. Trotz der Ähnlichkeiten hat die Analyse auch
wichtige Unterschiede herausgearbeitet, die in diesem Abschnitt zusammengefasst
werden sollen.
Das erste Handlungsmuster betrifft die unmittelbaren Reaktionen Deutschlands
auf die Anschläge in den USA. Die Bundesregierung übte Solidarität mit Washing-
1299 Rudolf, Peter (2008), Amerikas neuer globaler Führungsanspruch, SWP-Aktuell 77, November 2008, S.2.
1300 John Kornblum in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (18.1.2009), Netzwerke und
herrsche.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Seit dem Ende des Kalten Krieges haben alle Bundesregierungen den weiterhin zentralen Stellenwert der Nordatlantischen Vertragsorganisation (NATO) sowie ihren Anspruch bekräftigt, den Transformationsprozess der Allianz aktiv mitzugestalten. Gleichzeitig sah sich die deutsche Sicherheitspolitik dem Vorwurf politischer und wissenschaftlicher Beobachter ausgesetzt, häufig passiv und inkonsequent zu handeln. So gilt Deutschland im Bereich des militärischen Krisenmanagements oder bei der Umsetzung militärischer Verpflichtungen seit langer Zeit als Bremser.
Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Monographie den Gestaltungswillen der deutschen NATO-Politik und die dieser Politik zugrunde liegenden Sicherheits- und Einflussinteressen in den Bereichen der Osterweiterungen, des militärischen Krisenmanagements und des Kampfes gegen den Terrorismus nach dem 11. September 2001. Sie bedient sich dabei eines institutionalistischen Analyserahmens, nach dem mehrere Funktionen von Sicherheitsinstitutionen – allgemeine und spezifische, politische und militärische – unterschieden werden können. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass sich die scheinbaren Widersprüche der deutschen Sicherheitspolitik damit erklären lassen, dass sie stets die politisch-integrativen Funktionen der NATO in den Mittelpunkt stellte.