305
die zur Aufnahme offensiver militärischer Fähigkeiten gegen Proliferation – außer
im Fall einer akuten Bedrohung – in die NATO-Strategie geführt hätten.1188 Damit
stand die Bundesrepublik unter den europäischen Partnern allerdings nicht alleine
da.
6.4.3 Die deutsche NATO-Politik in der Irak-Falle
6.4.3.1 Das doppelte Nein der Bundesregierung
Bereits unmittelbar nach den Anschlägen in New York und Washington hatte Bundeskanzler Schröder die von ihm erklärte „uneingeschränkte Solidarität“ gegenüber
den Vereinigten Staaten dahingehend relativiert, dass die Bundesregierung keine
„Abenteuer“ im Kampf gegen den internationalen Terrorismus unterstützen werde.
Das vom Deutschen Bundestag verabschiedete Mandat für die deutsche militärische
Beteiligung an der Operation Enduring Freedom sah vor, dass sich die Bundeswehr
an Maßnahmen außerhalb Afghanistans nur mit Zustimmung der jeweiligen Länder
beteiligen werde. Ab dem Jahresbeginn 2002 konkretisierten sich die Pläne der
Bush-Regierung, die zirka ein dutzend VN-Resolutionen zur Vernichtung der im
Irak weiterhin vermuteten ABC-Waffenprogramme auch ohne Autorisierung des
Sicherheitsrats mit Gewalt durchzusetzen. Die Bundesregierung machte früh ihre
Ablehnung deutlich. Der Konflikt zwischen Deutschland und den USA eskalierte
zusehends, als Präsident Bush, sein Vize Richard Cheney sowie weitere führende
Mitglieder der Administration ihre Rhetorik gegenüber dem Irak in der ersten Jahreshälfte 2002 verschärften.
Washington begann darüber hinaus damit, seine Irak-Politik in eine umfassende
Neuorientierung der amerikanischen Sicherheitspolitik gegenüber tatsächlichen oder
potentiellen MVW-Proliferatoren einzubetten. Diese Neuorientierung sah auch den
präventiven Einsatz militärischer Gewalt vor.1189 Auslöser für den Ausbruch der
verbalen Feindseligkeiten zwischen Berlin und Washington war schließlich der
Beschluss des Wahlkampfteams von Bundeskanzler Schröder unter der Leitung von
SPD-Generalsekretär Franz Müntefering, die amerikanische Irak-Politik sowie die
deutsche Opposition dagegen zu einem Thema des Bundestagswahlkampfes im
August und September 2002 zu machen.
1188 Vgl. Krömer, Massenvernichtungswaffen und die NATO, S.369.
1189 Im offiziellen Sprachgebrauch der amerikanischen Regierung war seither von „Präemption“
die Rede. Dies entsprach jedoch weder dem zu dieser Zeit gültigen völkerrechtlichen Verständnis, wonach mit Präemption die Reaktion auf einen unmittelbar bevorstehenden Angriff gemeint ist, noch dem deutschen Sprachgebrauch. Insofern es sich, wie im Fall des
Irak, um die militärische Reaktion auf eine hypothetische, zukünftige Bedrohung handelte,
musste von einer präventiven militärischen Maßnahme gesprochen werden. Vgl. Yost,
David S. (2004), „Debating Security Strategies,“ in: NATO Review (Istanbul Summit Special, May 2004), S.12-15, hier: S.14-15.
306
Am 5. August eröffnete der Bundeskanzler den Wahlkampf in seiner Heimatstadt
Hannover mit einer Rede, in der er eine mögliche militärische Intervention im Irak
als ein Abenteuer bezeichnete und ablehnte.1190 Am folgenden Tag griff Müntefering
aus der Rede Schröders die Formel eines „deutschen Weges“ auf, die der Bundeskanzler ursprünglich nur auf den wirtschafts- und sozialpolitischen Bereich bezogen
hatte, und erklärte die Opposition der Bundesregierung gegen einen Krieg im Irak,
unabhängig davon, was der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen entscheiden werde.1191
Damit hatte Müntefering – und nicht das außenpolitische Establishment in Berlin
– den Grundstein für das doppelte Nein der Bundesregierung gegenüber der Irak-
Frage gelegt: Nein zu einer deutschen Beteiligung an einer militärischen Intervention im Irak und Nein zur Zustimmung einer solchen Intervention, selbst wenn es ein
VN-Mandat geben würde. Diese eindeutige Positionierung stieß auf eine positive
Resonanz in der deutschen Bevölkerung und trug zu dem knappen Wahlsieg Schröders im Herbst 2002 bei. Sie legte die Bundesregierung jedoch auch in einer Weise
fest, wie dies für kein anderes Land in der EU oder der NATO galt. Somit schränkte
sie den Handlungsspielraum der deutschen Diplomatie stark ein, als die transatlantische Krise die NATO unmittelbar erfasste. Dies führte dazu, dass die rot-grüne
Bundesregierung eine nachhaltige Beschädigung des Bündnisses in Kauf nahm, um
ihre innenpolitische Glaubwürdigkeit auch nach den gewonnenen Wahlen nicht aufs
Spiel setzen zu müssen.
6.4.3.2 Der Streit um die Verteidigungsplanungen für die Türkei
Der transatlantische Streit zwischen den Gegnern eines Irak-Krieges um Frankreich
und Deutschland einerseits und den Befürwortern in den USA und einigen europäischen Hauptstädten unter Führung Großbritanniens und Spaniens andererseits fand
zunächst vor allem in den Vereinten Nationen und nicht in der NATO statt. Dies
änderte sich ab Dezember 2002, als der amerikanische Vizeverteidigungsminister
Paul Wolfowitz erstmals den Wunsch der USA vortrug, dem Bündnis bei einem
Waffengang gegen den Irak eine mittelbare Funktion zuzuweisen.1192 Die amerikanische Anfrage schloss den Schutz der südlichen Flanke der Türkei durch die Entsendung von Patriot-Abwehrraketen und AWACS-Flugzeugen sowie die Vorbereitungen der Allianz auf eine Stabilisierungsmission nach einem Krieg gegen den Irak
ein.1193
1190 Schröder, Gerhard (5.8.2002), Rede von Bundeskanzler Schröder zum Wahlkampfauftakt
am 5. August 2002 in Hannover (Opernplatz), http://www.spd.de, (letzter Zugriff am
10.4.2005).
1191 Vgl. The Guardian (6.8.2002), German leader says no to Iraq war.
1192 Wolfowitz war zugleich einer der deutlichsten Befürworter eines Krieges gegen das Regime von Saddam Hussein.
1193 Vgl. Monaco, Annalisa (2003), Iraq: Another test for NATO, NATO Notes, 5(1), Brüssel,
ISIS Europe.
307
Washington verfolgte mit dieser Anfrage vor allem zwei Ziele. Zum einen sollte
der Regierung in Ankara die Entscheidung zugunsten der türkischen Unterstützung
einer militärischen Intervention erleichtert werden. Amerikanische Generäle erachteten die türkisch-irakische Grenze als wichtiges Auf- und Einmarschgebiet für einen
Angriff auf den Irak. Zum anderen diente die Aktivierung der Allianz auch als
Druckmittel gegenüber den Gegnern einer Intervention, da eine Ablehnung der Verteidigungsplanungen als unsolidarisches Verhalten von Bündnispartnern gebrandmarkt werden konnte und damit den Kern des Selbstverständnisses der Allianz betraf. Deutschland und Frankreich lehnten Verteidigungsplanungen für die Türkei ab,
da sie dadurch die Präjudizierung eines Krieges befürchteten. Das amerikanische
Verhalten wurde zudem von deutschen NATO-Diplomaten als ein offener Erpressungsversuch gegenüber der deutschen Bundesregierung wahrgenommen .1194
Die Weigerung Frankreichs und Deutschlands, unterstützt von Belgien und Luxemburg, militärische Planungen zu unterstützen, führte zwischen dem 22. Januar
und dem 16. Februar 2003 zu einer Entscheidungskrise.1195 Nachdem der Nordatlantikrat in mehreren Sitzungen keine Einigkeit erzielen konnte, beantragte die Türkei
schließlich erstmals in der Geschichte der Allianz förmlich Konsultationen nach
Artikel 4 des Washingtoner Vertrages.1196 Da nun ein offener und dauerhafter Bruch
im Bündnis drohte, gab die Bundesregierung ihre strikte Opposition auf und unterstützte die Suche nach einem Kompromiss. Dieser wurde schließlich im Verteidigungsplanungsausschuss (Defence Planning Committee, DPC) gefunden, in dem
Frankreich nach wie vor nicht vertreten war.1197 Der DPC stellte die rasche Entsendung der Patriot-Raketen sowie der AWACS-Flugzeuge in die Türkei in Aussicht.1198 Zugleich stellten die Mitglieder des Ausschusses im Namen ihrer Regierungen fest: „We continue to support efforts in the United Nations to find a peaceful
solution to the crisis. This decision relates only to the defence of Turkey […].“1199
1194 Persönliche Interviews. Diese Sichtweise spiegelt sich auch in den Erinnerungen Schröders
wider, der von einer Kampagne der amerikanischen und britischen Regierung spricht.
Schröder, Entscheidungen, S.225. Vgl. auch Rudolf, Peter (2005), „The Myth of the 'German Way': German Foreign Policy and Transatlantic Relations,“ in: Survival 47(1), S.133-
52, hier: S.144.
1195 Vgl. Monaco, Annalisa (2003), 16-to-3: The Allies at loggerheads over Iraq, NATO Notes,
5(2), Brüssel, ISIS Europe; IHT (30.1.2003), Diplomacy in ‘final phase’; die tageszeitung
(11.2.2003), Ein Veto spaltet die NATO.
1196 In Artikel 4 des Washingtoner Vertrages heißt es: „The Parties will consult together whenever, in the opinion of any of them, the territorial integrity, political independence or security of any of the Parties is threatened.“
1197 Vgl. FAZ (18.2.2003), Ein Kunstgriff führt die Nato doch noch zur Einigkeit.
1198 Einschränkend erklärten Bundeskanzler Schröder und Verteidigungsminister Struck wenig
später gleichlautend, dass Deutschland seine Soldaten aus den AWACS abziehen werde,
wenn die Türkei selbst zu einer Kriegspartei gegen den Irak werden sollte. Vgl. FAZ (Internet-Ausgabe) (22.3.2003), Deutschland droht mit Abzug der AWACS-Besatzungen,
http://fazarchiv.faz.net/FAZ.ein, (letzter Zugriff am 28.3.2008).
1199 NATO (16.2.2003), Decision Sheet of the Defence Planning Committee. NATO Support to
Turkey within the Framwork of Article 4 of the North Atlantic Treaty, Press Release, Brüssel.
308
Um ihre Bündnissolidarität zum Ausdruck zu bringen ohne gegen das innenpolitische Wahlversprechen Schröders verstoßen zu müssen, dass Deutschland sich nicht
an einem Krieg gegen den Irak beteiligen werde, vollzog die Bundesregierung eine
taktische Rochade. Sie bestückte nach Konsultationen mit den Regierungen in Den
Haag und Ankara niederländische Patriot-Abschussrampen mit den treffgenaueren
deutschen Raketen. Beides zusammen wurde bereits vor dem Beschluss des DPC am
14. und 15. Februar zusammen mit niederländischem Bedienungspersonal in die
Türkei verbracht.1200 Darüber hinaus erklärte Berlin, man werde die Bündnisverpflichtungen erfüllen und den USA Überflugrechte gewähren. Die im Rahmen der
Operation Enduring Freedom in Kuwait stationierten ABC-Spürpanzer sollten ebenfalls nicht abgezogen werden.1201
Die beschriebenen Maßnahmen dienten dazu, die negativen Auswirkungen des
Streits über den Irak auf die deutsch-amerikanischen Beziehungen sowie auf die
Einbindung Deutschlands als verlässlicher Partner in die NATO zu begrenzen. Dennoch war der Schaden groß. Das Verhältnis zwischen Berlin und Washington erreichte einen historischen Tiefpunkt. Das Verhältnis der Quad, bestehend aus den
USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland, die sich traditionell in wichtigen
Fragen eng abgestimmt hatte und die Deutschland einen privilegierten Einflusskanal
bot, wurde dauerhaft beschädigt.1202 Letztlich wurde das Bündnis Anfang 2003 Opfer
frühzeitiger, eindeutiger und unilateraler Festlegungen diesseits und jenseits des
Atlantiks, während das interne Krisenmanagement der großen Mitgliedstaaten völlig
versagte.1203 Im Falle der Bundesrepublik Deutschland trugen dazu der Bundestags-
1200 Vgl. Struck, Peter (13.2.2003), „Rede des Bundesministers der Verteidigung zur aktuellen
internationalen Lage vor dem Deutschen Bundestag am 13. Februar 2003 in Berlin,“ in:
Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (CD-ROM für Jg. 1996-
2005) 2003(14-3). Ein wesentlicher Grund für diese umständliche Konstruktion lag darin,
dass dieser Weg nicht die Zustimmung des Deutschen Bundestages erforderte.
1201 Vgl. Haftendorn, A Poisoned Relationship? S.274; Staack, Nein zur Hegemonialmacht,
S.211. Zu den Maßnahmen zählte ferner der Schutz amerikanischer Einrichtungen in
Deutschland durch die Bundeswehr und die Polizei sowie die Entsendung von Patriot-
Raketen nach Israel, die anders als im Fall der Türkei aufgrund des besonderen deutschisraelischen Verhältnisses innenpolitisch nicht umstritten war.
1202 Die regelmäßigen Abstimmungen dieser Länder im Bündnis vor den Treffen des Nordatlantikrats wurden während der Irak-Krise beendet und erst viel später wieder aufgenommen. Persönliches Interview. Vgl. auch Haftendorn, Das Atlantische Bündnis in der Anpassungskrise, S.26. Zur Entwicklung der Quad vgl. Haftendorn, Helga (1999), „The 'Quad':
Dynamics of Institutional Change,“ in: Haftendorn, Helga; Keohane, Robert O. und
Wallander, Celeste A. (Hrsg.), Imperfect Unions. Security Institutions over Time and
Space, Oxford, Oxford University Press, S.163-94.
1203 Dieses Versagen kommt vor allem darin zum Ausdruck, dass die Politisierung der Verteidigungsplanung sachlich unnötig war. Entsprechende Planungen existierten bereits in den
Schubladen der militärischen Stellen der Allianz und konnten schnell aktualisiert werden.
Die Durchführung neuer Planungen hätte zudem nicht der Zustimmung des Nordatlantikrats bedurft, sondern konnte vom SACEUR, dem Vorsitzenden des Militärausschusses oder
auch vom NATO-Generalsekretär autorisiert werden. Zustimmungspflichtig war allerdings
der tatsächliche Einsatz gemeinsamer Ressourcen, zu denen die AWACS-Flugzeuge gehö-
309
wahlkampf, die äußerst knappe rot-grüne Mehrheit im Bundestag nach den Wahlen
sowie persönliche Animositäten zwischen Schröder und Bush bei.1204 Diese innenpolitischen und persönlichen Faktoren erklären allerdings nicht die grundsätzliche
deutsche Ablehnung gegenüber einem militärischen Eingreifen im Irak, die auch
von zahlreichen Oppositionspolitikern geteilt wurde. Vielmehr kamen jene Motive
zum Tragen, die auch schon die deutsche Nichtverbreitungspolitik der 1990er Jahre
gekennzeichnet hatten.
6.4.3.3 Motive für die deutsche Ablehnung eines Krieges gegen den Irak
Die deutsche Regierung führte im Wesentlichen drei Argumente an, mit denen sie
ihre strikte Opposition gegen ein militärisches Vorgehen der USA im Irak begründete. Das erste Argument betraf die Wahrnehmung der Bedrohung, die von dem Regime Saddam Husseins für die internationale Sicherheit ausging. Zwar hatte die
Bundesregierung in ihrem Abrüstungsbericht von 2001 der Bedrohung durch den
internationalen Terrorismus in Verbindung mit der Weitergabe von Massenvernichtungswaffen einen hohen Stellenwert eingeräumt.1205 Anders als im Fall Afghanistans gab es jedoch aus deutscher Sicht keine belastbare Verbindung zwischen dem
irakischen Diktator und der Gefahr durch den islamistischen Terrorismus.1206 Und
anders als die Bush-Administration betrachtete die Bundesregierung, ähnlich wie die
Mehrzahl der anderen europäischen Bündnispartner, die vermuteten Waffenprogramme des irakischen Regimes nicht als eine unmittelbare Bedrohung der deutschen oder internationalen Sicherheit, die ein militärisches Eingreifen rechtfertigen
würde.1207 Stattdessen wiesen Bundeskanzler Schröder und Außenminister Fischer
wiederholt auf die sicherheitspolitischen und ökonomischen Risiken einer Militärintervention hin. In diesem Zusammenhang brachte die deutsche Regierung außerdem
ihre Sorge über negative Rückwirkungen eines neuen Golfkrieges auf die internationale Koalition gegen den Terrorismus zum Ausdruck.1208
Schröder fasste die Bedrohungsanalyse der Bundesregierung kurz vor dem Ausbruch des Krieges in einer Regierungserklärung vor dem Bundestag wir folgt zusammen:
ren. Persönliches Interview. Die Planungsfrage entwickelte sich somit zu einem Willenstest
der Kontrahenten im Bündnis. Vgl. Pond, Friendly Fire, S.71.
1204 Vgl. Harnisch, Deutsche Sicherheitspolitik auf dem Prüfstand: Die Non-Proliferationspolitik gegenüber dem Irak.
1205 Vgl. ebd., S.177.
1206 Vgl. Larres, Mutual Incomprehension, S.34.
1207 Vgl. ebd., S.25.
1208 Für eine Zusammenfassung dieser Bedenken vgl. beispielsweise Fischer, Joschka
(14.9.2002), „Rede des Bundesministers des Auswärtigen vor der 57. Generalversammlung
der Vereinten Nationen am 14. September 2002 in New York,“ in: Bulletin des Presse- und
Informationsamtes der Bundesregierung (CD-ROM für Jg. 1996-2005) 2002(74-1).
310
„Der Irak verfügt definitiv über keine atomaren Waffen und definitiv über keine weit reichenden Trägersysteme, die das, was er nicht hat, ins Ziel bringen könnten. Es gibt Hinweise darauf, dass der Irak in der Lage sein könnte, andere Massenvernichtungsmittel herzustellen. Deshalb haben wir gesagt, […] [d]ie Inspekteure, die [im Irak] arbeiten, müssen weiter arbeiten
können.“1209
Dieser optimistischen Einschätzung haben sich im Bundestag nicht alle Abgeordneten angeschlossen. Dennoch unterschied sich die deutsche Bedrohungsanalyse
deutlich von dem worst case-Szenario, welches US-Präsident Bush bereits Anfang
2002 mit dem Bild der „Achse des Bösen“ auf Irak, Iran und Nordkorea übertragen
hatte.1210
Zweitens rechtfertigte die rot-grüne Bundesregierung ihre strikte Ablehnung eines
Krieges damit, dass nach ihrer Auffassung das Inspektionssystem der Vereinten
Nationen und der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) trotz einiger Schwächen und Rückschläge seit 1991 funktioniert und die Rüstungsambitionen des irakischen Regimes erfolgreich eingedämmt habe.1211 Sie widersprach damit direkt der
Auffassung, die sich schon früh in der Bush-Administration durchgesetzt hatte.1212
Dementsprechend konnten aus Sicht der Bundesregierung nicht ein Krieg und der
Abzug aller Inspektoren das Problem lösen, sondern im Gegenteil nur eine personelle und materielle Verstärkung der Waffeninspektionen. Daher arbeitete das Bundeskanzleramt seit Anfang Januar 2003 an einem Plan für robustere Inspektionen, der
1209 Schröder, Gerhard (13.2.2003), „Regierungserklärung von Bundeskanzler Schröder zur
aktuellen internationalen Lage vor dem Deutschen Bundestag am 13. Februar 2003 in Berlin,“ in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (CD-ROM für Jg.
1996-2005) 2003(14-1).
1210 Mit Blick auf diese drei Länder erklärte US-Präsident Bush in seiner State of the Union-
Ansprache vor den beiden Häusern des amerikanischen Kongresses am 29. Januar 2002:
„States like these, and their terrorist allies, constitute an axis of evil, aiming to threaten the
peace in the world. By seeking weapons of mass destruction, these regimes pose a grave
and growing danger. They could provide their arms to terrorists, giving them the means to
match their hatred. They could attack our allies or attempt to blackmail the United States.
In any of these cases, the price of indifference would be catastrophic.“ Bush, George W.
(29.1.2002), The President's State of the Union Address, January 29, 2002,
http://www.whitehouse.gov/news/releases/2002/01/print/20020129-11.html, (letzter Zugriff
am 31.7.2006).
1211 Vgl. Dalgaard-Nielsen, Anja (2003), „Gulf War: The German Resistance,“ in: Survival
45(1), S.99-116, hier: S.100; Müller, German National Identity and WMD Proliferation,
S.6-7. Vgl. auch das Interview mit Gerhard Schröder in: NYT (5.9.2002), German Leader’s
Warning: War Plan Is a Huge Mistake.
1212 Vizepräsident Cheney erklärte die Inspektionen im August 2002 für ineffektiv und nutzlos.
Er kam zu dem Schluss: „A return of inspectors would provide no assurance whatsoever of
[Saddam Hussein’s] compliance with U.N. resolutions. On the contrary, there is a great
danger that it would provide false comfort that Saddam was somehow ‚back in the box’.“
Cheney, Richard B. (26.8.2002), Dangers and Opportunities. Speech delivered by the vice
president at the Veterans of Foreign Wars 103rd convention on August 26, 2002,
http://www.nationalreview.com/script/printpage.p?ref=/document/document082702.asp,
(letzter Zugriff am 7.8.2006).
311
unter anderem mehr Kompetenzen für die Inspekteure im Irak und deren Unterstützung durch eine verbesserte Luft- und Satellitenüberwachung vorsah.1213 Diese Arbeiten flossen schließlich in ein gemeinsames deutsch-französisch-russisches Memorandum vom 25. Februar 2003 ein, in dem mehr Zeit für ein verstärktes Inspektionsteam der VN gefordert wurde.1214 Die Bundesregierung musste sich jedoch den
Vorwurf gefallen lassen, dass ihre Initiative zu spät kam, um den Gang der Krise
noch beeinflussen zu können.
Der Streit um die Waffeninspekteure stand in einem weiteren Zusammenhang,
der über den Fall Irak hinauswies und nach Auffassung der Bundesregierung die
Zukunft der internationalen Rüstungskontrolle insgesamt betraf. Die Bush-
Administration hatte seit Anfang 2002 schrittweise die Entwicklung einer neuen
Sicherheitsdoktrin erkennen lassen, die auch die Neuorientierung der amerikanischen Nichtverbreitungspolitik einschloss. Aufgrund der verschärften Bedrohungswahrnehmung in den USA nach dem 11. September 2001 lag der Kern der neuen
Doktrin in der Annahme, dass die klassische Abschreckungs- und Eindämmungspolitik der neuen sicherheitspolitischen Situation nicht mehr gerecht werde, da sich
Terroristen und entschlossene Diktatoren nicht mehr eindämmen oder abschrecken
ließen. Diese Sichtweise fasste Präsident Bush in einer Rede vor den Rekruten der
Militärakademie in West Point folgendermaßen zusammen:
„[N]ew threats also require new thinking. Deterrence – the promise of massive retaliation
against nations – means nothing against shadowy terrorist networks with no nation or citizen
to defend. Containment is not possible when unbalanced dictators with weapons of mass destruction can deliver those weapons on missiles or secretly provide to terrorist allies.“1215
Aus dieser Prämisse leitete Bush die Notwendigkeit ab, in bestimmten Fällen
auch „prä-emptiv“ gegen Proliferateure und Terroristen vorzugehen: „If we wait for
threats to fully materialize, we will have waited too long.“ Der neue Ansatz der
Bush-Regierung ging davon aus, dass die traditionellen Instrumente der Nichtverbreitungspolitik für sich genommen unzureichend seien, um den neuen Bedrohungen zu begegnen und deshalb um eine Komponente der offensiven Counterproliferation ergänzt werden müssten.1216 Das Spektrum der ins Auge gefassten Maßnah-
1213 Vgl. Harnisch, Deutsche Sicherheitspolitik auf dem Prüfstand: Die Non-
Proliferationspolitik gegenüber dem Irak, S.189.
1214 Bundesregierung (25.2.2003), Memorandum von Deutschland, Frankreich und der Russischen Föderation zur Lage im Irak, Berlin.
1215 Bush, George W. (1.6.2002), President Bush Delivers Graduation Speech at West Point
Unites States Military Academy,
http://www.whitehouse.gov/news/releases/2002/06/print/20020601-3.html, (letzter Zugriff
am 31.7.06).
1216 In der Nationalen Sicherheitsstrategie vom September 2002 heißt es unter dem Stichwort
der Proactive counterproliferation efforts: „We must deter and defend against the threat before it is unleashed.“ The White House (16.3.2006), The National Security Strategy of the
United States of America, Washington D.C., S.14.
312
men reichte von der aktiven Unterbindung von Proliferationsaktivitäten (interdiction) bis hin zur Entwicklung neuer und kleinerer Atomwaffen (mini nukes), die
gegen Bedrohungen durch biologische und chemische Waffen eingesetzt werden
können.1217
Die amerikanische Irak-Politik wurde in der rot-grünen Bundesregierung als Beleg für einen „Paradigmenwechsel von der Sicherheit gewährleistenden kooperativen Rüstungskontrolle“ hin zur Beherrschung von Fähigkeiten, ein gewünschtes
Verhalten mit Gewalt zu erzwingen, verstanden.1218 Dieser Wechsel widersprach den
deutschen Präferenzen und den Grundsätzen der bereits geschilderten deutschen
Nichtverbreitungspolitik seit Beginn der 1990er Jahre. Berlin trat mit den Worten
von Außenminister Fischer während der Irak-Krise für ein „international wirksames
und nicht nur im Einzelfall wirkendes Nichtverbreitungs- und Kontrollregime [ein].
[…] In einer Welt wachsender Instabilität können wir doch nicht allen Ernstes Kriege zum Zwecke der Abrüstung von Massenvernichtungswaffen zur Strategie erheben.“1219
Das dritte Argument für die deutsche Ablehnung eines militärischen Eingreifens
gegen den Irak betraf neben der politischen Substanz den als einseitig empfundenen
Politikstil der Bush-Administration. Washington vollzog aus Sicht Berlins und anderer europäischer Hauptstädte einen grundlegenden Strategiewandel von der VNbasierten Abrüstungspolitik hin zu einem gewaltsamen Regimewechsel im Irak,
ohne die Bündnispartner vorher zu konsultieren. Bereits im Februar 2002 erklärte
der deutsche Außenminister, dass Bündnispartnerschaft sich nicht auf Gefolgschaft
reduzierte. „Bündnispartner sind nicht Satelliten“, so Fischer in einem Interview für
Die Welt.1220 Bundeskanzler Schröder vollzog öffentlich den Bruch mit der Bush-
Administration, nachdem Vizepräsident Cheney Ende August 2002 in einer Rede
vor amerikanischen Kriegsveteranen die Inspektionen der UNMOVIC für gescheitert erklärt und sich für einen Regimewechsel in Bagdad ausgesprochen hatte.1221
Nach Auffassung von Peter Rudolf trug das Versagen des Bündnisses als ein „uni-
1217 Vgl. Washington Post (11.12.2002), Preemptive Strikes Part of U.S. Strategic Doctrine.’All
Options’ Open for Countering Unconventional Arms.
1218 Czempiel, Weltpolitik im Umbruch, S.166.
1219 Fischer, Joschka (13.2.2003), „Rede des Bundesministers des Auswärtigen zur aktuellen
internationalen Lage vor dem Deutschen Bundestag am 13. Februar 2003 in Berlin,“ in:
Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (CD-ROM für Jg. 1996-
2005) 2003(14-2).
1220 Interview mit Joschka Fischer in: Die Welt (12.2.2002), ‚Wir sind keine Satelliten’ (Teil 1).
1221 Cheney, Dangers and Opportunities. Speech delivered on August 26, 2002. Zur Rezeption
der Rede in Deutschland vgl. Die Zeit (5/2003), Der lange Weg zum lauten Nein sowie
Staack, Nein zur Hegemonialmacht, S.208. In einem Interview für die New York Times Anfang September reagierte Schröder harsch auf die Rede Cheneys. Er erklärte: „Consultation
among grown-up nations has to mean not just consultation about how and when, but also
about the whether. […] And that is why it is just not good enough if I learn from the American press about a speech which clearly states: We are going to do it, no matter what the
world or our allies think. That is no way to treat others.“ Interview mit Gerhard Schröder
in: NYT (5.9.2002), German Leader’s Warning: War Plan Is a Huge Mistake.
313
que institutional framework for the Europeans to affect American policies with consultation norms and joint decision-making procedures“ zu einer graduellen Neuorientierung der deutschen Bündnispolitik bei, die bis dahin stets eine Balance zwischen den Beziehungen zu Washington und zu Paris gesucht hatte.1222 Die Wahrnehmung mangelnder Einflussmöglichkeiten auf die amerikanische Irak-Politik
betraf nicht nur die Bundesrepublik, sondern auch die überwiegende Mehrzahl der
anderen europäischen Bündnispartner.1223
6.4.3.4 Die Position der deutschen Oppositionsparteien
Die rot-grüne Bundesregierung wurde innenpolitisch zum Teil scharf für ihr Verhalten während der Irak-Krise kritisiert. Die Differenzen zwischen Regierung und Oppositionsparteien waren jedoch nicht so groß, wie es die emotional geführte Debatte
über den „deutschen Weg“ Schröders zunächst vermuten ließ. Der zentrale Vorwurf
aus den Reihen der CDU/CSU und FDP lautete, dass das doppelte Nein der Bundesregierung einen Krieg gegen den Irak am Ende sogar wahrscheinlicher gemacht
habe, da nur eine glaubwürdige Abschreckungskulisse den irakischen Diktator zum
Einlenken hätte bewegen können.1224 Damit sprach sie eine Schwachstelle in der
Argumentation der Regierung an. Ein effektives Nichtverbreitungsregime musste
auch die Möglichkeit harter Sanktionen bereithalten, wenn durch einen Akteur permanent gegen dessen Normen verstoßen wird. Gleichzeitig implizierte der Vorwurf
Merkels jedoch das gleiche Ziel: Die möglichst friedliche Entwaffnung des Irak
durch robuste Inspektionen der Vereinten Nationen.1225 Ein weiterer zentraler Vorwurf der Oppositionsparteien war, dass Schröder und Fischer durch ein aus ihrer
1222 Rudolf, The Myth of the 'German Way', S.135. Maull hat bereits vor dem 11. September
2001 „subtile[] Verschiebungen der deutschen Prioritäten innerhalb des euro-atlantischen
Koordinatensystems“ ausgemacht, die durch die Irak-Krise weiter verstärkt worden seien.
Maull, Hanns W. (2001), „Außenpolitische Kultur,“ in: Korte, Karl-Rudolf und Weidenfeld, Werner (Hrsg.), Deutschland-TrendBuch, Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung, S.645-72, hier: S.667.
1223 Vgl. Pond, Friendly Fire, S.2. Die beiden Ausnahmen betrafen Großbritannien und Frankreich. So wurde der britischen Politik ein gewisser Einfluss auf die Entscheidung Washingtons zugesprochen, im Februar 2003 doch noch eine neue Resolution des VN-
Sicherheitsrats anzustreben. Das schließlich gewählte zweistufige Verfahren, das einen militärischen Automatismus nach der ersten Resolution ausschließen sollte, ging auf französisches Betreiben zurück. Dessen ungeachtet begannen die USA am Ende auch ohne eine
zweite Resolution den Krieg gegen den Irak. Rudolf, Der 11. September, die Neuorientierung amerikanischer Außenpolitik und der Krieg gegen den Irak, S.278-79.
1224 Beitrag Merkel in: Deutscher Bundestag (13.2.2003), Abgabe einer Regierungserklärung
zur aktuellen internationalen Lage in Verbindung mit dem Antrag der Abgeordneten Dr.
Friedbert Pflüger, Dr. Wolfgang Schäuble, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU. Plenarprotokoll vom 13. Februar 2003, Sitzung 15/25, Berlin, S.1880; Beitrag
Schäuble in: Ebd., S.1903.
1225 Auch die FDP schloss sich der Argumentation Merkels an. Vgl. den Redebeitrag von Guido
Westerwelle in: Ebd., S.1888.
314
Sicht ausschließlich innenpolitisch motiviertes Verhalten die Stellung Deutschlands
in den Vereinten Nationen, der NATO und der EU entscheidend geschwächt, den
deutschen Handlungsspielraum somit minimiert und schließlich diese Institutionen
selbst nachhaltig geschädigt hätten.1226
Trotz dieser Kontroversen lassen sich drei zentrale Gemeinsamkeiten zwischen
Regierung und Opposition identifizieren. Das Ziel war erstens, einen Krieg möglichst zu vermeiden – wobei ein gewaltsamer Regimewechsel ohne VN-Mandat
parteiübergreifend abgelehnt wurde1227 – und zweitens die Waffeninspektionen im
Irak wieder durchzusetzen bzw. insgesamt die internationalen Institutionen und
Regime im Bereich der Nichtverbreitungspolitik zu stärken. Drittens forderten die
Vertreter der Regierung und der Opposition die weitere Einbindung der amerikanischen Politik in die transatlantischen Institutionen.1228 Unterschiede zwischen den
Parteien gab es in der jeweiligen Bedrohungsanalyse1229 und in der Bereitschaft, den
Einsatz militärischer Gewalt zur Durchsetzung der VN-Resolutionen am Ende zumindest politisch zu unterstützen. In diesem Fall sollte sich die Bundeswehr lediglich im Rahmen militärischer Hilfsleistungen beteiligen.1230
Abschließend lässt sich feststellen, dass Regierungs- und Oppositionsparteien
während der innenpolitischen Irak-Kontroverse kaum auf die Argumente der jeweils
anderen Seite eingingen. Rot-Grün blieb der Opposition und der Öffentlichkeit eine
Antwort auf die Frage schuldig, wie das Regime der nuklearen Nichtverbreitung
gestärkt werden kann, ohne auch die Möglichkeit glaubwürdiger Sanktionen, bis hin
zur kollektiv legitimierten Gewaltanwendung, im Falle schwerwiegender Normver-
1226 Beitrag Merkel in: Ebd., S.1881; Beitrag Glos in: Ebd., S.1892.
1227 CSU-Landesgruppenchef Michael Glos erklärte „Wenn Saddam an dieser Strategie festhält,
bleibt – das befürchte ich – als Ultima Ratio, als allerletztes Mittel, nichts anderes übrig als
der Einsatz militärischer Gewalt. Ich fürchte, dass dieses Regime keine anderen Hoffnungen zulässt.“ Redebeitrag von Glos in: Ebd., S.1893. In der Frage der Notwendigkeit eines
VN-Mandats wie auch in der Irak-Frage insgesamt gab es in der CDU/CSU keine einheitliche Position. Vgl. hierzu Staack, Nein zur Hegemonialmacht, S.225. Der damalige Kanzlerkandidat Edmund Stoiber sowie der Außenpolitiker Wolfgang Schäuble hatten vor den
Wahlen ein VN-Mandat als notwenig erachtet. Vgl. Erb, German Foreign Policy, S.206;
Harnisch, Deutsche Sicherheitspolitik auf dem Prüfstand: Die Non-Proliferationspolitik gegenüber dem Irak, S.183-84. Die FDP lehnte ein militärisches Eingreifen ohne ausdrückliche Autorisierung durch den Sicherheitsrat ebenfalls ab.
1228 Bereits im Mai 2002 erklärte Friedrich Merz für die CDU: „Die USA werden nichts ohne
Beratung mit den Bündnispartnern unternehmen. Wenn das Teil eines Konzeptes ist, werden sie unsere Unterstützung haben.“ SZ (23.5.2002), Bushs Irak-Politik belastet Koalition.
1229 Der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle kritisierte Schröders Behauptung, der Irak verfüge über keine entsprechenden Trägersysteme, um Europa oder die USA sowie sein regionales Umfeld ernsthaft zu bedrohen: „Es ist eine konkrete Bedrohung, wenn ein irakischer
Diktator in unserer unmittelbaren Nähe an Trägersystemen arbeitet, mit denen die Waffen
auch uns in Mitteleuropa erreichen können.“ Westerwelle in: Deutscher Bundestag, Abgabe
einer Regierungserklärung zur aktuellen internationalen Lage (13.2.2003), S.1888.
1230 Bezüglich einer möglichen Beteiligung der Bundeswehr legte die CDU/CSU-Fraktion
einen gemeinsamen Entschließungsantrag vor, der einen militärischen Beitrag Deutschlands mit AWACS, MEDEVAC, ABC-Spürpanzern und Patriot-Abwehrraketen vorsah.
Vgl. Beitrag Schäuble in: Ebd., S.1902.
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stöße in Betracht zu ziehen. CDU/CSU und FDP wiederum wären mit ihren Forderungen letztendlich ebenfalls gescheitert, da die USA sich frühzeitig zu einem gewaltsamen Regimewechsel im Irak auch ohne VN-Mandat und ohne Abstimmung
mit den Bündnispartnern entschieden hatten. Trotz aller Differenzen herrschte Einvernehmen in der deutschen Innenpolitik, den Einsatz militärischer Gewalt nur in
Ausnahmesituationen als ein angemessenes Instrument der Nichtverbreitungspolitik
zu betrachten. Das Ziel blieb parteiübergreifend die Stärkung multilateraler Rüstungskontrollregime.
6.4.4 Perspektiven für die Nichtverbreitungspolitik nach dem Irak-Krieg
Zum transatlantischen Streit über die Kriegsvorbereitungen der USA gegen den Irak
wäre es vermutlich auch unter einer von CDU/CSU und FDP geführten Bundesregierung gekommen. In diesem Fall hätte sich die deutsche Außenpolitik jedoch nicht
so eindeutig und frühzeitig auf eine ablehnende Position festgelegt. Der Politikstil
des Bundeskanzlers, der die Irak-Politik unter weitgehender Umgehung des Auswärtigen Amtes zur Chefsache gemacht hatte,1231 die Instrumentalisierung des Streits vor
den Bundestagswahlen 2002 und die Sperrminorität einiger weniger Abgeordneter
von SPD und Bündnis90/Die Grünen im Deutschen Bundestag haben zur Verschärfung des Konflikts und zum Versagen des außenpolitischen Krisenmanagements
beigetragen.1232
Letztlich bedeutete die deutsche Irak-Politik 2002 und 2003 jedoch eine Fortsetzung jener Prinzipien und Grundmerkmale, welche die deutsche Nichtverbreitungspolitik bereits in den 1990er Jahren gekennzeichnet hatte.1233 Deutschland zeigte sich
in der Entwicklung der Nichtverbreitungspolitik der NATO im Allgemeinen und in
der Irak-Politik im Besonderen als ein Status quo-orientierter Akteur.1234 Im Bereich
der defensiven Aspekte von Counterproliferation im Bündnis war die deutsche Politik durch passive Anpassung gekennzeichnet. Sie trug diese Entwicklungen mit,
ohne sichtbar eigene Impulse zu setzen. Darüber hinaus blieb auch die Bereitstellung
entsprechender finanzieller Ressourcen innenpolitisch umstritten (Beispiel
MEADS). Der Aufnahme der offensiven Aspekte von Counterproliferation, bis hin
1231 Vgl. Gunter Hofmann in: Die Zeit (5/2003), Der lange Weg zum lauten Nein. „Auf der
Ebene der Akteure rückte der Kanzler in den Vordergrund; es war seine Festlegung, die die
Außen- und Europapolitik trieb, nur Schröder konnte auf Augenhöhe mit Chirac und Putin
agieren“, so auch die Bewertung von Josef Janning. Janning, Josef (2003), „Bundesrepublik
Deutschland,“ in: Weidenfeld, Werner und Wessels, Wolfgang (Hrsg.), Jahrbuch der Europäischen Integration 2002/2003, Bonn, Europa Union Verlag, S.327-34, hier: S.327.
1232 Vgl. Harnisch, Deutsche Sicherheitspolitik auf dem Prüfstand: Die Non-Proliferationspolitik gegenüber dem Irak, S.192.
1233 Vgl. Dalgaard-Nielsen, Gulf War, S.110; Müller, German National Identity and WMD
Proliferation. Vgl. auch Staack, Nein zur Hegemonialmacht, S.203.
1234 Vgl. Harnisch, Deutsche Sicherheitspolitik auf dem Prüfstand: Die Non-Proliferationspolitik gegenüber dem Irak, S.191.
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References
Zusammenfassung
Seit dem Ende des Kalten Krieges haben alle Bundesregierungen den weiterhin zentralen Stellenwert der Nordatlantischen Vertragsorganisation (NATO) sowie ihren Anspruch bekräftigt, den Transformationsprozess der Allianz aktiv mitzugestalten. Gleichzeitig sah sich die deutsche Sicherheitspolitik dem Vorwurf politischer und wissenschaftlicher Beobachter ausgesetzt, häufig passiv und inkonsequent zu handeln. So gilt Deutschland im Bereich des militärischen Krisenmanagements oder bei der Umsetzung militärischer Verpflichtungen seit langer Zeit als Bremser.
Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Monographie den Gestaltungswillen der deutschen NATO-Politik und die dieser Politik zugrunde liegenden Sicherheits- und Einflussinteressen in den Bereichen der Osterweiterungen, des militärischen Krisenmanagements und des Kampfes gegen den Terrorismus nach dem 11. September 2001. Sie bedient sich dabei eines institutionalistischen Analyserahmens, nach dem mehrere Funktionen von Sicherheitsinstitutionen – allgemeine und spezifische, politische und militärische – unterschieden werden können. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass sich die scheinbaren Widersprüche der deutschen Sicherheitspolitik damit erklären lassen, dass sie stets die politisch-integrativen Funktionen der NATO in den Mittelpunkt stellte.