291
Response Force in Frage zu stellen.1129 Im Spätsommer 2007 sah sich der Nordatlantikrat dazu gezwungen, den vorgesehenen Umfang der NRF von 25.000 Soldaten
auf maximal 10.000 permanent verfügbare Truppen um mehr als die Hälfte zu reduzieren, wobei allerdings weiterhin die Fähigkeit zum Aufwuchs auf die ursprüngliche Zielmarke erhalten werden sollte.1130 Ob die NRF damit heute bereits zu einem
Auslaufmodell geworden ist, lässt sich derzeit noch nicht mit Bestimmtheit sagen.
Möglicherweise verändert sich jedoch das mit ihr verbundene Transformationskonzept, das auf der Idee gleicher Rechte und Pflichten aller Bündnispartner durch das
Rotationsprinzip und objektiver militärischer Qualitätsmaßstäbe beruht.1131
6.3.4 Planungsentscheidungen in Deutschland:
Die Entwicklung einer neuen Verteidigungskonzeption
Die Beteiligung der Bundeswehr an der internationalen Bekämpfung des Terrorismus im Rahmen der Operation Enduring Freedom und an der Stabilisierungstruppe
ISAF in Afghanistan sowie die geschilderten Planungsentscheidungen der NATO
setzten auch die Bundeswehr einem starken Veränderungsdruck aus. Bereits seit
Beginn der 1990er Jahre war die Diskrepanz zwischen Konzeption und tatsächlichen
Anforderungen an die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik durch das
zunehmende Engagement im Rahmen des internationalen Krisenmanagements grö-
ßer geworden. Die Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) sowie das Weißbuch
zur deutschen Sicherheitspolitik waren zuletzt 1992 bzw. 1994 aktualisiert worden.
Nach dem 11. September 2001 drohte der offene Bruch zwischen Konzeption und
Anforderungen. Vor diesem Hintergrund begann man im Planungsstab des Bundesverteidigungsministeriums Anfang 2002 mit der Arbeit an einer Neuformulierung
der VPR.1132 Das zentrale Motiv dabei war die notwendige Neuausrichtung der Bundeswehr, die sich aus den Krisenentscheidungen nach dem 11. September 2001
ergab, konzeptionell voranzutreiben und durch ein entsprechendes Dokument auch
innenpolitisch zu begründen und zu legitimieren.1133 Die Formulierung der neuen
Verteidigungspolitischen Richtlinien erfolgte parallel zu den Planungsentscheidungen der NATO und wurde durch die weiterhin feste Einbindung der Bundeswehr in
das Bündnis stark von diesen beeinflusst.1134 Nach Auffassung von Karl Kaiser stand
1129 Associated Press (Internet-Ausgabe) (13.6.2007), Gates wants more Trainers in Afghanistan; Agence France Press – German (26.8.2007), „Handelsblatt“: USA drohen mit Aus für
NATO-Elitetruppe.
1130 General-Anzeiger (26.10.2007), Was aus der Eingreiftruppe wird.
1131 SZ (20.9.2007), NATO-Eingreiftruppe steht vor dem Aus.
1132 Vgl. Giegerich, European Security and Strategic Culture, S.146.
1133 „Die VPR 2003 haben nachträglich ratifiziert, was durch die Fakten schon geschaffen
worden war“, so ein Gesprächspartner aus dem Verteidigungsministerium. Persönliche Interviews.
1134 Verteidigungsminister Peter Struck brachte diese enge Verbindung zwischen bündnisinternen und nationalen Planungsentscheidungen wie folgt zum Ausdruck: „Die Transformation
292
am Ende des Prozesses die nach der Westbindung und der Neuen Ostpolitik dritte
große Neuorientierung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg: „Germany is assuming responsibility of global strategies“.1135 Anders
als bei den beiden vorangegangenen außen- und sicherheitspolitischen Neuorientierungen in den 1950er bzw. 60er Jahren vollzog sich dieser grundlegende Wandel
jedoch zumeist ohne große öffentliche Diskussionen oder parteipolitischen Streit.1136
Im Mittelpunkt stand eine doppelte Erweiterung der Verteidigungskonzeption. In
funktionaler Hinsicht ging es um das Aufgabenspektrum der Bundeswehr im Innern
wie im Äußeren. Der Einsatz der Bundeswehr im Innern war der einzige inhaltliche
Punkt, der eine kontroverse parteipolitische Diskussion auslöste. Das Grundgesetz
sieht in seiner aktuellen Fassung den Einsatz der Streitkräfte im Innern nur zur
Amts- oder Katastrophenhilfe vor.1137 Aufgrund der historischen Erfahrungen des
machtpolitischen Missbrauchs der Armee während der Zeit des Nationalsozialismus
herrschte in der deutschen Innenpolitik Zurückhaltung gegenüber weiter gehenden
Kompetenzen der Bundeswehr im Innern. Der 11. September 2001 fachte diese
Diskussion erneut an, ohne bisher einen neuen Konsens geschaffen zu haben.1138
Das Aufgabenspektrum der Bundeswehr im Äußeren blieb trotz der Beteiligung
an dem Krieg der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien 1999 durch die
deutsche Zurückhaltung gegenüber Kampfeinsätzen begrenzt. Nach dem 11. September begann die rot-grüne Bundesregierung auch diese Beschränkung zumindest
auf konzeptioneller Ebene abzubauen. Anfang 2002 erklärte Bundeskanzler Schröder vor einem internationalen Publikum: „[U]nsere Partner in Europa, aber auch
der NATO verlangt eine Transformation der Bundeswehr. Beide müssen in Planung und
Vorhaben miteinander übereinstimmen.“ Struck, Peter (11.3.2004), „Regierungserklärung
des Bundesministers der Verteidigung zum neuen Kurs der Bundeswehr vor dem Deutschen Bundestag am 11. März 2004 in Berlin,“ in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (CD-ROM für Jg. 1996-2005) 2004(23-1).
1135 Kaiser, Karl (2002), German Perspectives on the New Strategic Landscape After September 11, Washington D.C., American Institute for Contemporary German Studies, S.4.
1136 Man sei im Planungsstab des BMVg über die positiven und unkontroversen Reaktionen in
den Parteien und im Bundestag auf die Veröffentlichung der Verteidigungspolitischen
Richtlinien im Mai 2003 überrascht gewesen, so ein Gesprächspartner. Persönliches Interview. Der ehemalige Leiter der Bundesakademie für Sicherheitspolitik und Vizeadmiral
a.D. Hans Frank spricht in diesem Zusammenhang von einer „Geräuschlosigkeit der Diskussion“. Frank, Hans (2004), „Verteidigungspolitische Richtlinien und Europäische Sicherheitsstrategie,“ in: Bundesakademie für Sicherheitspolitik (Hrsg.), Sicherheitspolitik in
neuen Dimensionen. Ergänzungsband I, Hamburg u.a., Verlag E.S.Mittler & Sohn, S.75-88,
hier: S.76.
1137 Vgl. Artikel 35 des Grundgesetzes.
1138 SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben eine Erweiterung der Aufgaben der Bundeswehr
im Innern auch nach dem 11. September 2001 bisher abgelehnt. Vertreter von CDU/CSU
plädierten mehrheitlich für eine Änderung von Artikel 35 Grundgesetz mit dem Ziel einer
Erweiterung der Kompetenzen der Bundeswehr. Die FDP schlug die Schaffung einer Nationalgarde nach amerikanischem Vorbild vor, lehnte jedoch eine Übernahme polizeilicher
Aufgaben durch diese oder durch die Bundeswehr ab. Für eine ausführliche Darstellung der
innenpolitischen Diskussion in Deutschland vgl. Leggemann, Der Einsatz von Streitkräften
zur Terrorismusbekämpfung, S.274-77.
293
überall in der Welt, erwarten Solidarität in einem nicht eingeschränkten Sinne und
erwarten – als Ultima Ratio gewiss, aber ohne Einschränkungen – auch Teilnahme
an gemeinsamer militärischer Intervention.“1139 In der Praxis zeigte sich diese funktionale Erweiterung in dem Einsatz des Kommandos Spezialkräfte (KSK) in Afghanistan, dem ersten Auslandseinsatz deutscher Bodentruppen mit Kampfauftrag seit
dem Ende des Zweiten Weltkriegs.1140
Die funktionale Erweiterung ging einher mit einer funktionalen Gewichtsverlagerung zugunsten des Krisenmanagements außerhalb Europas und zu Lasten des klassischen Verteidigungsauftrags. Spätestens seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Juli 1994 hatte die Bundeswehr zwei Aufträge, die bis 2001 rechtlich und
politisch getrennt zu betrachten waren: den Auftrag der Landes- und Bündnisverteidigung nach Artikel 87a („Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf“) sowie
die Beteiligung am multinationalen Krisenmanagement im Rahmen der Systeme
kollektiver Sicherheit nach Artikel 24, Absatz 2 des Grundgesetzes.1141 Auf der internationalen Ebene der Bündnispolitik fanden beide Aufträge ihre Entsprechung in
der Unterscheidung von Artikel-5 (kollektive Verteidigung) und nicht-Artikel-5
Operationen (Krisenmanagement). Nachdem diese Unterscheidung im internationalen Kampf gegen den Terrorismus aufgehoben wurde, kam es auch im Kontext der
deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu einer klaren Entwicklung in
diese Richtung.1142 Am 4. Dezember 2002 erklärte Verteidigungsminister Struck
während der Haushaltsdebatte vor dem Deutschen Bundestag:
„Nach Artikel 87a des Grundgesetzes stellt der Bund Streitkräfte zur Verteidigung auf. Eine
Gefährdung deutschen Staatsgebiets durch konventionelle Streitkräfte gibt es derzeit nicht und
wird es auf absehbare Zeit nicht geben. Die Verteidigung an den Grenzen unseres Landes ist
1139 Schröder, Gerhard (1.2.2002), „Rede von Bundeskanzler Schröder beim World Economic
Forum am 1. Februar 2002 in New York,“ in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes
der Bundesregierung (CD-ROM für Jg. 1996-2005) 2002(06-1) (eigene Hervorhebung).
1140 Vgl. Bundesregierung (15.2.2006), Bericht der Bundesregierung (offene Fassung) gemäß
Anforderung des Parlamentarischen Kontrollgremiums vom 25. Januar 2006 zu Vorgängen
im Zusammenhang mit dem Irakkrieg und der Bekämpfung des internationalen Terrorismus, Berlin, S.48.
1141 Vgl. hierzu die Ausführungen in Abschnitt 5.2.3. in dieser Arbeit.
1142 Dies galt unter der rot-grünen Bundesregierung zunächst nur im politischen Sinne, während
an der rechtlichen Trennung der Aufträge für die Bundeswehr nach Artikel 87 und 24 festgehalten wurde. Der neue Verteidigungsminister der Großen Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel, Franz-Josef Jung, unternahm im Frühjahr 2006 entsprechende Vorstöße für
eine Grundgesetzänderung. Vor dem Hintergrund des abweisenden Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Flugsicherungsgesetz, welches in letzter Konsequenz den Abschuss
ziviler Verkehrsmaschinen durch die Bundesluftwaffe erlaubt hätte, schlug er kurz- bis mittelfristig die Ausweitung des Verteidigungsauftrags auf die Abwehr terroristischer Anschläge aus der Luft oder von der See her vor. Langfristig regte er eine Ausweitung des
Verteidigungsbegriffs im Grundgesetz an, die auch Auslandseinsätze der Bundeswehr einschloss. Vgl. Tageszeitung (5.4.2006), Jung will Verteidigungsfall neu definieren; FAZ
(Internet-Ausgabe) (2.5.2006), Jung: Wir müssen Verteidigung neu definieren, http://www.
faz.net, (letzter Zugriff am 1.9.2006).
294
daher zu einer unwahrscheinlichen Option geworden. Wir müssen unsere Streitkräfte nicht
länger an der Annahme ausrichten, der Feind könne morgen mit seinen Panzerarmeen an den
Grenzen unseres Landes stehen. Der 11. September 2001 hat schlaglichtartig die veränderte
Sicherheitslage deutlich gemacht.“1143
Daraus zog Struck die Schlussfolgerung: „Das wahrscheinlichste Einsatzspektrum
muss angesichts begrenzter Ressourcen konsequenter als bisher Rolle und Ausstattung der Bundeswehr bestimmen.“
Begleitet und verstärkt wurde die funktionale Erweiterung von einer geographischen Entgrenzung der deutschen Verteidigungskonzeption, die in der Formulierung
des Verteidigungsministers zum Ausdruck kam, deutsche Sicherheit werde fortan
„auch am Hindukusch verteidigt.“ Folgte die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik bis zum Washingtoner Gipfel vom April 1999 noch einem regionalen
Selbstverständnis, so wurde nun die global-strategische Wende der Allianz mit- und
nachvollzogen. Es gehe darum, so Struck, Bedrohungen und Krisen „auf Distanz“ zu
halten. „Verteidigung heute ist Wahrung unserer Sicherheit, wo immer diese gefährdet ist.“1144
Die Verteidigungspolitischen Richtlinien vom Mai 2003 dokumentieren diese
doppelte konzeptionelle Erweiterung der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.1145 Anders als in den Richtlinien von 1992 wird nicht mehr die Landesverteidigung, sondern das Krisenmanagement als der die Struktur der Bundeswehr bestimmende Auftrag definiert.1146 Die Bundeswehr soll künftig unabhängig von Zeit
und Ort das gesamte Aufgabenspektrum abdecken können:
1143 Struck, Peter (4.12.2002), „Rede des Bundesministers der Verteidigung in der Haushaltsdebatte vor dem Deutschen Bundestag am 4. Dezember 2002 in Berlin,“ in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (CD-ROM für Jg. 1996-2005) 2002(99-3).
1144 Struck, Peter (20.12.2002), „Rede des Bundesministers der Verteidigung zur Fortsetzung
der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer internationalen Sicherungsunterstützungstruppe in Afghanistan vor dem Deutschen Bundestag am 20. Dezember 2002 in Berlin,“ in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (CD-ROM für Jg. 1996-2005) 2002(104-2) (eigene Hervorhebung). Für eine kritische
Einschätzung der Formulierung von Struck vgl. Greven, Michael Th. (2004), „Militärische
Verteidigung der Sicherheit und Freiheit gegen Terrorismus? Überlegungen zur neuen
deutschen militärpolitischen Doktrin,“ in: Jäger, Thomas (Hrsg.), Sicherheit und Freiheit:
außenpolitische, innenpolitische und ideengeschichtliche Perspektiven, Baden-Baden, Nomos, S.10-21, hier: S.18-19.
1145 Die VPR „legen Grundsätze für die Gestaltung unserer Verteidigungspolitik fest, definieren
Auftrag und Aufgaben der Bundeswehr und machen wichtige Vorgaben für die Fähigkeiten
der Streitkräfte der Zukunft.“ Bundesministerium der Verteidigung, Verteidigungspolitische Richtlinien 2003, Erläuterungen.
1146 Vgl. ebd., Absatz 78. „In den Verteidigungspolitischen Richtlinien von 1992 stand die
Landes- und Bündnisverteidigung noch als eine Säule neben der Krisenreaktion. Dies wird
jetzt geändert und die Landesverteidigung nicht mehr als strukturbestimmendes Element für
die Bundeswehr angesehen.“ Frank, Verteidigungspolitische Richtlinien und Europäische
Sicherheitsstrategie, S.82. Detlef Bald sieht darin kritisch einen „radikale[n] Einschnitt“
und einen Bruch in den Traditionen der Bundeswehr. Bald, Detlef (2005), Die Bundeswehr.
Eine kritische Geschichte 1955-2005, München, Verlag C.H. Beck, S.176.
295
„Künftige Einsätze lassen sich wegen des umfassenden Ansatzes zeitgemäßer Sicherheitspolitik und ihrer Erfordernisse weder hinsichtlich ihrer Intensität noch geografisch eingrenzen. Der
politische Zweck bestimmt Ziel, Ort, Dauer und Art eines Einsatzes. Die Notwendigkeit für
eine Teilnahme der Bundeswehr an multinationalen Operationen kann sich weltweit und mit
geringem zeitlichen Vorlauf ergeben und das gesamte Einsatzspektrum bis hin zu Operationen
mit hoher Intensität umfassen.“1147
Die Ausführungen der VPR 2003 zum Einsatz der Streitkräfte im Innern blieben
aufgrund des fehlenden politischen Konsenses in Deutschland für eine entsprechende Grundgesetzänderung beschränkt. Sie sehen aber eine nicht näher spezifizierte
Ausweitung der Aufgaben im Rahmen der bestehenden rechtlichen und grundgesetzlichen Bestimmungen vor. Die Konkretisierung und Umsetzung der Vorgaben
der VPR 2003 in den Planungen der Bundeswehrstruktur erfolgte im August 2004
durch die „Grundzüge der Konzeption der Bundeswehr“. Wesentliche Neuerungen
waren der Teilstreitkräfte übergreifende Ansatz sowie die Unterteilung der Bundeswehr in Eingreif-, Stabilisierungs- und Unterstützungskräfte.1148
Die Verteidigungspolitischen Richtlinien gelten für den Geschäftsbereich des
Bundesministers der Verteidigung und sind somit kein politisch verbindliches Dokument der gesamten Bundesregierung. Dennoch ging der Veröffentlichung des
Dokuments ein informeller Abstimmungsprozess zwischen den Berliner Ministerien
voraus, der nach Darstellung eines Interviewpartners insgesamt problemlos verlief.1149 Der einzige offene Streitpunkt zwischen Außen- und Verteidigungsministerium betraf die Festschreibung der Wehrpflicht. Dieser Streit resultierte jedoch in
erster Linie aus den parteipolitischen Differenzen zwischen der Grünen Partei, die
den Außenminister stellte und sich gegen die Wehrpflicht aussprach, und der SPD,
die mit Verteidigungsminister Struck mehrheitlich an der Wehrpflicht festhielt.1150
Die VPR 2003 markierten eine grundlegende und keine bloß graduelle Veränderung der konzeptionellen Grundlagen der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Sie vollzogen eine Anpassung an die veränderten Anforderungen der neuen
sicherheitspolitischen Lage nach den Terroranschlägen. Dennoch unterlagen die
Veränderungen auch klaren Begrenzungen. Die deutsche Sicherheitspolitik hat sich
auch nach dem 11. September 2001 nicht aus ihren multilateralen Bindungen gelöst.
„Bewaffnete Einsätze der Bundeswehr mit Ausnahme von Evakuierungs- und Rettungsoperationen werden nur gemeinsam mit Verbündeten und Partnern von VN,
1147 Bundesministerium der Verteidigung, Verteidigungspolitische Richtlinien 2003, Absatz 57.
1148 Bundesministerium der Verteidigung (10.8.2004), Grundzüge der Konzeption der Bundeswehr, Berlin.
1149 Widerstände habe es allerdings aus den Teilstreitkräften der Bundeswehr gegeben, deren
Stellung in den VPR zugunsten der Gesamtstreitkräfte relativiert wurde. Persönliches Interview.
1150 Auch die CDU wollte an der Wehrpflicht festhalten, wohingegen die FDP diese weiterhin
ablehnt. In den VPR 2003 heißt es dazu in Absatz 3: „Die Allgemeine Wehrpflicht bleibt in
angepasster Form für Einsatzbereitschaft, Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit der
Bundeswehr unabdingbar“.
296
NATO und EU stattfinden“, so die Feststellung in den VPR.1151 Trotz der konzeptionellen Festschreibung des erweiterten Aufgabenspektrums formulierte die deutsche
Innenpolitik parteiübergreifend weiterhin eher restriktive Bedingungen für den tatsächlichen Einsatz deutscher Soldaten.1152 Darüber hinaus zeichnete sich die deutsche Politik auch weiterhin durch eine oft als zu gering eingestufte Bereitschaft aus,
die Umsetzung der konzeptionellen Vorgaben mit den dazu nötigen finanziellen und
personellen Ressourcen auszustatten.1153 Schließlich deutete das Festhalten an der
allgemeinen Wehrpflicht mehr in Richtung kultureller und historischer Beharrungskräfte, als auf eine Neuausrichtung der Bundeswehr im Sinne einer schlagkräftigen
Interventionsarmee.1154
6.4 Die Irak-Krise als Testfall für die Nichtverbreitungspolitik der NATO
6.4.1 Divergierende Ordnungskonzepte zur Nichtverbreitung von
Massenvernichtungswaffen
Der Streit zwischen den USA und einigen europäischen NATO-Staaten unter
deutsch-französischer Führung über einen Waffengang gegen den Irak führte Anfang 2003 zu der vielleicht schärfsten internen Krise in der Geschichte des Bündnis-
1151 Bundesministerium der Verteidigung, Verteidigungspolitische Richtlinien 2003, Absatz 11.
1152 Dies gilt etwa für intensive Kampfeinsätze mit Bodentruppen, so dass der KSK-Einsatz in
Afghanistan auf absehbare Zeit eine Ausnahme bleiben könnte. Vgl. Meiers, Germany's
Defence Choices, S.160; Meiers, The Security and Defense Policy of the Grand Coalition.
Anlässlich der Eröffnung der Bundesakademie für Sicherheitspolitik im März 2004 in Berlin wiederholte Bundeskanzler Schröder vier bekannte Kriterien für die Beteiligung der
Bundeswehr an militärischen Operationen. Dies waren erstens der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, zweitens die Unmittelbarkeit der Gefährdung, „die keinen Aufschub duldet“,
drittens die Plausibilität der Bedrohung und viertens die völkerrechtliche Legitimität des
militärischen Handelns. Das zweite und dritte Prinzip bedeutete eine klare Absage an präventive Militärschläge gegen den Terrorismus. Schröder, Gerhard (19.3.2004), „Rede zur
Eröffnung der Bundesakademie für Sicherheitspolitik am 19. März 2004 in Berlin,“ in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (CD-ROM für Jg. 1996-
2005) 2004(25-3).
1153 Meiers spricht in diesem Zusammenhang von einem spending gap, einem capabilities gap
und einem usability gap. Letzteres bezieht sich auf den Anteil der für Auslandseinsätze tatsächlich zur Verfügung stehenden Truppen. Die Bundeswehr hat bei einer Sollstärke von
285.000 Soldaten seit dem Amtsantritt der rot-grünen Regierung maximal zirka 10.000
Soldaten zur gleichen Zeit in Auslandseinsätze verbracht. Meiers, Germany's Defence
Choices, S.158-59. Die Bundesregierung hatte angesichts eines stagnierenden Verteidigungsbudgets auch Schwierigkeiten, der von Deutschland eingegangenen Verpflichtungen
im Bereich der europäischen und transatlantischen Verteidigungs- und Rüstungsplanung
nachzukommen. Vgl. hierzu Agüera, Deutsche Verteidigungs- und Rüstungsplanung im
Kontext von NATO und EU.
1154 Vgl. Longhurst, Kerry (2004), Germany and the use of force, Manchester, Manchester
University Press, S.118-33.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Seit dem Ende des Kalten Krieges haben alle Bundesregierungen den weiterhin zentralen Stellenwert der Nordatlantischen Vertragsorganisation (NATO) sowie ihren Anspruch bekräftigt, den Transformationsprozess der Allianz aktiv mitzugestalten. Gleichzeitig sah sich die deutsche Sicherheitspolitik dem Vorwurf politischer und wissenschaftlicher Beobachter ausgesetzt, häufig passiv und inkonsequent zu handeln. So gilt Deutschland im Bereich des militärischen Krisenmanagements oder bei der Umsetzung militärischer Verpflichtungen seit langer Zeit als Bremser.
Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Monographie den Gestaltungswillen der deutschen NATO-Politik und die dieser Politik zugrunde liegenden Sicherheits- und Einflussinteressen in den Bereichen der Osterweiterungen, des militärischen Krisenmanagements und des Kampfes gegen den Terrorismus nach dem 11. September 2001. Sie bedient sich dabei eines institutionalistischen Analyserahmens, nach dem mehrere Funktionen von Sicherheitsinstitutionen – allgemeine und spezifische, politische und militärische – unterschieden werden können. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass sich die scheinbaren Widersprüche der deutschen Sicherheitspolitik damit erklären lassen, dass sie stets die politisch-integrativen Funktionen der NATO in den Mittelpunkt stellte.