268
6.2.4 Der deutsche Beitrag zur Internationalen Schutztruppe für Afghanistan
Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im November und Dezember 2001 beanspruchte Deutschland eine Sonderstellung in den internationalen Bemühungen um
den Wiederaufbau Afghanistans.1034 Berlin konnte dabei an die traditionell engen
deutsch-afghanischen Beziehungen vor dem Beginn des Bürgerkrieges 1989 anknüpfen. Nach dem von außen erzwungenen Machtwechsel in Kabul fungierte die
Bundesregierung als Gastgeberin von insgesamt drei internationalen Konferenzen
über die Zukunft des Landes, an denen neben den wichtigsten afghanischen Gruppen, allerdings unter Ausschluss der Taliban, Vertreter der Vereinten Nationen und
weitere internationale Beobachter teilnahmen. Die erste der drei Konferenzen fand
auf dem Bonner Petersberg zwischen dem 27. November und dem 5. Dezember
2001 statt und endete mit der Verabschiedung eines Übereinkommens zur Schaffung
vorläufiger afghanischer Regierungsinstitutionen (Petersberg-Abkommen).1035 Danach fanden Ende 2002 sowie im Frühjahr 2004 noch zwei weitere Konferenzen in
Deutschland statt, die der Überprüfung sowie der Weiterentwicklung des Petersberg-
Prozesses dienen sollten. In allen drei Fällen hat sich die Bundesregierung ausdrücklich nicht in der Funktion des Konfliktvermittlers gesehen, sondern lediglich als
Gastgeber der jeweiligen Konferenz. Sie spielte dennoch eine nicht unerhebliche
Rolle im Verhandlungsprozess.1036 Neben der politisch-diplomatischen Unterstützung leistete Deutschland erhebliche finanzielle Hilfe auf bilateraler und multilateraler Ebene sowie im Rahmen der Afghanistan Support Group und übernahm bald
auch eine Führungsfunktion beim Aufbau der neuen afghanischen Polizei.1037
Noch während die Kämpfe zwischen den USA sowie der von Washington unterstützten afghanischen Nordallianz einerseits und den Taliban andererseits um die
Hauptstadt Kabul andauerten, trat die Frage nach einer internationalen Schutztruppe
1034 Vgl. Schmunk, Michael (2005), Die deutschen Provincial Reconstruction Teams. Ein neues
Instrument zum Nation-Building, SWP-Studie, 2005/S33, Berlin, Stiftung Wissenschaft
und Politik.
1035 Vereinte Nationen (5.12.2001), Übereinkommen über vorläufige Regelungen in Afghanistan bis zur Wiederherstellung dauerhafter staatlicher Institutionen („Bonn Agreement“),
Bonn.
1036 Vgl. Auswärtiges Amt (ohne Datum), Afghanistan-Konferenz 'UN Talks on Afghanistan',
Bonn, November 2001, http://www.auswaertiges-amt.de, (letzter Zugriff am 10.7.2006).
Die zweite Konferenz fand am 2. Dezember 2002 ebenfalls bei Bonn und die dritte Konferenz zwischen dem 31. März und dem 1. April 2004 in Berlin statt.
1037 Vgl. Schmunk, Die deutschen Provincial Reconstruction Teams, S.12; Roell, Peter (2003),
„Deutschlands Beitrag zur internationalen Terrorismusbekämpfung,“ in: Hirschmann, Kai
und Leggemann, Christian (Hrsg.), Der Kampf gegen den Terrorismus. Strategien und
Handlungserfordernisse in Deutschland, Berlin, Berliner Wissenschaftsverlag, S.125-42,
hier: S.139. Auf der ersten internationalen Geberkonferenz in Tokyo Ende 2002 hatte
Deutschland einen Betrag von 80 Mio. EUR pro Jahr für den Zeitraum 2002 bis 2005 zugesagt und auch geleistet. Damit war Deutschland neben den USA und Japan der größte bilaterale Geber. Vgl. Auswärtiges Amt (ohne Datum), Das Engagement Deutschlands in Afghanistan – Stabilität und Aufbau, http://www.auswaertiges-amt.de, (letzter Zugriff am
10.7.2006).
269
zur Absicherung des Wiederaufbauprozesses in den Vordergrund der internationalen
Beratungen. Als einer der ersten westlichen Politiker setzte der britische Premierminister Tony Blair diese Frage auf die Agenda, da er nach dem Sturz der Taliban die
Entstehung eines Machtvakuums befürchtete.1038 Die britische Regierung bot daraufhin die Entsendung mehrerer tausend Soldaten nach Afghanistan als Stabilisierungstruppe an.1039 Auch Kanada, Frankreich und die Türkei boten eine substantielle Beteiligung an.1040 Die Bundesregierung hielt sich anfangs mit militärischen Zusagen
zurück, geriet aber aufgrund ihrer exponierten Position im politischen Prozess
schnell in den internationalen Blickpunkt. Afghanische Vertreter äußerten ausdrücklich den Wunsch einer Beteiligung der Bundeswehr. Am Rande der ersten Petersberg-Konferenz wurde mehrfach die Forderung nach einer führenden deutschen
Rolle erhoben, unter anderem deshalb, weil Deutschland am Hindukusch nicht vorbelastet sei und hohe Akzeptanz in Afghanistan genieße. Eine solche Führungsrolle
lehnte die Bundesregierung jedoch zunächst ab.1041
Das Bonn Agreement vom 5. Dezember 2001 sah in dessen Anlage I bereits ausdrücklich die Autorisierung einer internationalen Schutztruppe durch den VN-
Sicherheitsrat vor und definierte drei ihrer zentralen Aufgabenbereiche. Diese umfassten erstens die Gewährleistung von Sicherheit, „einschließlich der Sicherheit
aller in Afghanistan tätigen Mitarbeiter der Vereinten Nationen und anderer internationaler staatlicher und nicht-staatlicher Organisationen“, wobei diese Aufgabe zunächst auf Kabul und Umgebung beschränkt bleiben sollte. Zweitens sollte sie den
Aufbau der neuen afghanischen Sicherheits- und Streitkräfte unterstützen und drittens einen Beitrag zum Wiederaufbau der Infrastruktur Afghanistans leisten.1042
In der Folge kam es jedoch zu internationalen Streitigkeiten über die Ausgestaltung des Mandats und über die Kernparameter der geplanten Schutztruppe. Die
meisten truppenstellenden Staaten verlangten ein robustes Mandat nach Kapitel VII
der VN-Charta, das auch den Einsatz militärischer Gewalt über den Zweck der
Selbstverteidigung hinaus ermöglichen würde, sowie eine substantielle Zahl an Soldaten. Ursprüngliche Planungen der britischen Militärs gingen von bis zu 50.000
Soldaten aus. Dagegen wollten führende Mitglieder der neuen afghanischen Übergangsregierung, insbesondere die Nordallianz, lediglich eine Truppe ohne Zwangsbefugnisse und in deutlich geringerem Umfang akzeptieren.1043 Des Weiteren kam es
im Sicherheitsrat zum Streit zwischen den USA und Großbritannien einerseits und
Frankreich – unterstützt von Deutschland – andererseits über die Einbindung der
1038 Vgl. IHT (14.11.2001), Bush ‘Very Pleased’, Though He Told Opposition Not to Enter
Kabul.
1039 Vgl. IHT (15.11.2001), ‘For Afghan People to Determine’: Urgent Diplomatic Efforts
Under Way to Form New Government.
1040 Vgl. FR (16.11.2001), Militärmission. Mehrere Länder bereiten Einsatz von Soldaten vor.
1041 Vgl. FR (3.12.2001), Petersberg-Konferenz. Für Schutztruppe Deutsche erwünscht.
1042 Vereinte Nationen, Übereinkommen über vorläufige Regelungen in Afghanistan
(5.12.2001).
1043 Vgl. die ausführliche Darstellung der Diskussion von Winrich Kühne in: SZ (20.12.2001),
Eine schwache Truppe.
270
Schutztruppe in das Mandat und in die Befehlskette der von den USA geführten
Operation Enduring Freedom. Paris und Berlin lehnten einen entsprechenden amerikanisch-britischen Vorstoß strikt ab. Die Bundesregierung vertrat ihre Position
besonders vehement und machte die eigene Beteiligung an der Schutztruppe sogar
von einer Trennung der Mandate abhängig. Ihr ging es in erster Linie darum, die
eindeutig als Kampfeinsätze einzustufenden Operationen amerikanischer und britischer Truppen gegen die Überreste der Taliban und Al-Qaida Kämpfer von der
Schutztruppe abzugrenzen, die primär den zivilen Wiederaufbau unter der neuen
afghanischen Regierung militärisch absichern sollte.1044 Die schließlich am 20. Dezember 2001 vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verabschiedete Resolution
1386 ließ die Frage des Zusammenhangs der beiden Mandate zunächst offen.1045
Allerdings wurde die International Security Assistance Force (ISAF) unter Kapitel
VII der VN-Charta mandatiert. Die beteiligten Soldaten wurden dazu ermächtigt, „to
take all necessary measures to fulfil its mandate“.1046
Der Streit um die Abgrenzung des ISAF-Mandats von OEF trug auch dazu bei,
dass sich der Nordatlantikrat zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf die Möglichkeit
einer Führung der Schutztruppe durch die Allianz einigen konnte.1047 Ähnlich wie
bei den Planungen zu OEF bestanden wichtige Teile der amerikanischen Regierung
und des amerikanischen Militärs auf der Durchführung außerhalb des institutionellen Bündnisrahmens und befürworteten die Bildung einer ad hoc-Koalition, deren
Zusammensetzung im Wesentlichen auf bilateraler Ebene verhandelt werden sollte.1048 Hinzu kamen noch zwei weitere Faktoren. Besonders die Bundesregierung
befürwortete eine möglichst starke und sichtbare Stellung der Vereinten Nationen im
Prozess des Wiederaufbaus in Afghanistan. Darüber hinaus wurde die ISAF in einigen europäischen Hauptstädten stark unter europapolitischen Gesichtspunkten gesehen. Auf dem EU-Gipfel im belgischen Laeken Mitte Dezember 2001 erklärte sich
die überwiegende Mehrzahl der Mitgliedstaaten zu einer Beteiligung an der ISAF
bereit. Darüber hinaus wollte Belgien, das zu diesem Zeitpunkt die EU-Ratspräsidentschaft innehatte, seine europäischen Partner zu einem gemeinsamen Teilnahmebeschluss an der ISAF bewegen, scheiterte damit jedoch vor allem an britischem
Widerstand.1049 Außenminister Fischer teilte zwar die europapolitischen Ambitionen
1044 Vgl. FT (20.12.2001), Anti-terrorist coalition threatened with split.
1045 Der Zusammenhang zwischen OEF und der internationalen Schutztruppe für Afghanistan
wurde informell in einem Brief des britischen Außenministers an den Generalsekretär der
Vereinten Nationen festgelegt. Demnach blieben die beiden Mandate grundsätzlich voneinander unabhängig, während in den Bereichen Luftraumkontrolle, logistische Unterstützung
und Evakuierungsmaßnahmen eine enge Koordinierung mit dem amerikanischen Befehlshaber (CENTCOM) vorgesehen war. In den genannten Bereichen waren die europäischen
Truppensteller von den amerikanischen Ressourcen abhängig.
1046 United Nations Security Council (20.12.2001), Resolution 1386 (2001), S/RES/1386, New
York. Das Mandat wurde zunächst auf sechs Monate begrenzt.
1047 Vgl. SZ (7.12.2001), Friedenstruppe ohne NATO.
1048 Vgl. SZ (7.12.2001), NATO sagt den USA weitere Hilfe zu.
1049 Vgl. FR (15.12.2001), Afghanische Nordallianz bricht auseinander; IHT (15.12.2001), EU
Reaction Force is ‚Operational’.
271
Belgiens im Sinne der Stärkung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP), wies jedoch darauf hin, dass die EU mit dem Aufbau gemeinsamer
Sicherheitsstrukturen noch nicht weit genug vorangeschritten sei.1050 Aus diesen
pragmatischen Überlegungen heraus hat insbesondere der deutsche Verteidigungsminister zu einem frühen Zeitpunkt eine stärkere Einbindung der NATO in Afghanistan gefordert. In Zukunft, so Rudolf Scharping, solle wieder verstärkt auf integrierte Stäbe und Fähigkeiten der Allianz zurückgegriffen werden: „Der größte Vorteil der NATO ist, dass sie diese Fähigkeiten hat, dass diese eingeübt sind und es ein
enormes Maß an politischem Vertrauen in die Fähigkeiten der NATO gibt. Das ist
etwas, was wir in Europa und im Rahmen der ESVP noch entwickeln müssen.“1051
Beinahe unbemerkt ließ der Verteidigungsminister damit frühere Bedenken der
deutschen Bundesregierungen gegenüber einer Rolle der NATO beim Krisenmanagement außerhalb Europas fallen.1052
Innenpolitisch stellte sich die Frage nach einer deutschen Beteiligung an der internationalen Schutztruppe als wenig kontrovers dar. Am 22. Dezember beschloss
der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit von 538 von 581 abgegebenen Stimmen die Entsendung von bis zu 1.200 deutschen Soldaten im Rahmen der ISAF.
Von den 35 ablehnenden Voten entfielen 30 auf die Abgeordneten der PDS, acht
Abgeordnete enthielten sich. Die Regierungskoalition aus SPD und Bündnis 90/Die
Grünen erreichte eine eigene Mehrheit, diesmal sogar ohne Gegenstimmen aus den
Reihen der Grünen.1053
Trotz des Konsenses unter den deutschen Parteien gab es in der Debatte auch argumentative Nuancen zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien. Bundeskanzler Schröder stellte den deutschen ISAF-Beitrag zwar ausdrücklich in den Zusammenhang der von ihm proklamierten „uneingeschränkten Solidarität“ mit den USA,
rückte jedoch die humanitären Zielsetzungen der Schutztruppe in den Vordergrund
seiner Argumentation. Noch deutlicher wurde dieser Aspekt von Außenminister
Fischer hervorgehoben. Er erklärte: „Dieser Kampf gegen den internationalen Terrorismus […] ist noch nicht beendet. Dennoch geht es bei dem heutigen Mandat um
1050 Vgl. SZ (15.12.2001), EU schickt Soldaten nach Afghanistan.
1051 Scharping, Rudolf (22.12.2001), „Rede des Bundesministers der Verteidigung zur Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan auf der Grundlage der Resolutionen 1386, 1383 und
1378 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vor dem Deutschen Bundestag am 22.
Dezember 2001 in Berlin,“ in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (CD-ROM für Jg. 1996-2005) 2001(92-3). Nach Ansicht Scharpings verfüge auch
die Bundeswehr auf nationaler Ebene noch nicht über entsprechende Fähigkeiten im Bereich der Führungs- und Unterstützungsmittel, „die man braucht, um einen solchen multinationalen Einsatz über eine so große Entfernung und möglicherweise längere Dauer zu führen.“
1052 Scharpings Nachfolger im Amt des Verteidigungsministers, Peter Struck, formulierte es
später so, dass sich die Frage des out-of-area Engagements der NATO mit dem 11. September 2001 erledigt habe. Vgl. Berliner Zeitung (21.11.2002), Nicht jedes Land muss alles
können.
1053 Vgl. FR (24.12.01), Bundeswehr nach Kabul entsandt.
272
eine Friedensmission.“1054 Dagegen rückte Friedrich Merz für die CDU den Einsatz
stärker in den unmittelbaren Zusammenhang mit dem Anti-Terrorkampf. Dieser, so
Merz, sei noch längst nicht beendet und „wird auch uns Deutschen noch mehr abfordern als der Transport von Wolldecken von Ramstein in die Türkei“.1055 Neben
dem humanitären Motiv stimme die CDU/CSU-Fraktion dem Einsatz auch zu, „weil
Sicherheit in Afghanistan auch ein Beitrag zum Schutz unseres Landes vor terroristischen Anschlägen fanatischer Extremisten ist.“1056
Vertreter der Bundesregierung unterstrichen erneut die Bedingungen für eine
deutsche Teilnahme an der ISAF, die mit der VN-Resolution 1386 als erfüllt betrachtet wurden: ein robustes Mandat nach Kapitel VII, eine klare geographische
(Kabul und Umgebung) und zeitliche (zunächst sechsmonatige) Begrenzung sowie
eine Trennung der ISAF- und OEF-Mandate. Weitere Kritikpunkte in der Debatte
betrafen die ungeklärte Frage nach der Lead Nation-Nachfolge für Großbritannien
und damit zusammenhängend die zukünftige Funktion der NATO, die anfängliche
Uneinigkeit über die Ausgestaltung des Mandats zwischen Deutschland, Frankreich
und Großbritannien und allgemein die von der Opposition erneut kritisierte Überforderung der Bundeswehr, verbunden mit Kritik an Verteidigungsminister Scharping.
Am 2. Januar 2002 wurde ein erstes Vorauskommando der ISAF nach Kabul entsandt. Zunächst beteiligten sich 18 Staaten an der multinationalen Truppe, darunter
zwölf NATO-Staaten, drei neutrale Länder, zwei NATO-Beitrittskandidaten sowie
Neuseeland als einziges nicht-europäisches Land.1057 Insgesamt sollte die ISAF eine
Stärke von 5.000 Soldaten erreichen. Größter Truppensteller war zunächst Großbritannien mit zirka 1.800 Soldaten, gefolgt von Deutschland mit zunächst 800 bis
1000 Soldaten, Spanien (700), Frankreich (550) und Italien (350).1058 Die Bundes-
1054 Deutscher Bundestag (22.12.2001), Beratung des Antrags der Bundesregierung. Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan auf der Grundlage der Resolution 1386 (2001), 1383
(2001) und 1378 (2001) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, Plenarprotokoll vom
22. Dezember 2001, Sitzung 14/210, Berlin, S.20821-20858, hier: S.20826.
1055 Ebd., S.20823.
1056 Ebd., S.20826.
1057 Bei den NATO-Staaten handelte es sich um Belgien, Großbritannien, Dänemark, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Italien, die Niederlande, Norwegen, Portugal, Spanien
und die Türkei. Als europäische nicht-NATO Staaten nahmen teil: Österreich, Finnland,
Schweden. Darüber hinaus hatten auch Kanada, Jordanien, Malaysia und Indonesien Truppen angeboten. Kanada entschied sich für eine Beteiligung im Rahmen von OEF während
die Beiträge der anderen drei Länder als zunächst nicht kompatibel mit den Anforderungen
der ISAF angesehen wurden. Vgl. Center for Defense Information (letzte Aktualisierung
am 14.2.2002), Factsheet: International Security Assistance Force (ISAF) in Afghanistan,
http://www.cdi.org/terrorism/isaf-pr.cfm, (letzter Zugriff am 10.7.2006). Dadurch, dass die
Mehrzahl der Truppensteller sich aus NATO-Mitgliedstaaten zusammensetzte, übernahm
auch das Bündnis als Institution von Anfang an im Planungsprozess eine Funktion, wenngleich es erst im August 2003 formal die Führungsfunktion übernahm. Persönliches Interview.
1058 Vgl. ebd..
273
wehr übernahm bereits im März 2002 die taktische Führung der multinationalen
Brigade Kabul (KMNB).
6.2.5 Bedrohungswahrnehmung und der Stellenwert des Militärischen im Kampf
gegen den Terrorismus: Die deutsche Perspektive
Das hohe Maß an Solidarität mit den Vereinigten Staaten von Amerika und die Krisenentscheidungen in Deutschland und anderen NATO bzw. EU-Staaten während
der ersten drei Monate nach den Terroranschlägen spiegelten die Wahrnehmung
eines Angriffs auf die gemeinsame Zivilisation und die gemeinsamen Werte wider.
Gleichzeitig bewirkten die Anschläge auch eine Konvergenz der Bedrohungswahrnehmungen gegenüber dem internationalen Terrorismus, der – möglicherweise in
Verbindung mit der Verbreitung biologischer, chemischer und atomarer Massenvernichtungswaffen – auch in jedem anderen westlichen Land zuschlagen könnte. Die
Erkenntnis, dass wesentliche Vorbereitungen der Attentäter des 11. September in
Deutschland stattgefunden hatten, verstärkte auch hierzulande die Sorge vor weiteren gravierenden Anschlägen.1059 Erstmals erschien der Terrorismus auch in
Deutschland als ein Kernproblem der Außen- und Sicherheitspolitik, da er nach
einer verstärkten internationalen Zusammenarbeit auf unterschiedlichen Ebenen
verlangte.1060 Kurz vor der Abstimmung über die deutsche Beteiligung an der Operation Enduring Freedom brachte Außenminister Fischer die gewandelte Bedrohungswahrnehmung in einer Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York zum Ausdruck: „Die gestern noch abstrakte Bedrohung durch
Massenvernichtungswaffen in der Hand von Terroristen ist heute eine tödliche reale
Gefahr. Die Staatengemeinschaft muss ihr mit aller Kraft entgegentreten – durch
einen neuen Anlauf zu Nichtverbreitung und globaler Abrüstung.“1061
Trotz der gemeinsam wahrgenommenen Bedrohung war die Beurteilung innerhalb des Bündnisses über den angemessenen Stellenwert des Militärischen, um dieser Bedrohung wirkungsvoll zu begegnen, nicht einheitlich. Richard C. Nelson
fasste diese Unterschiede wie folgt zusammen:
„The initial debate on appropriate roles and missions for NATO reflected two contending
approaches to terrorism: the ‚war’ approach and the ‚risk management’ approach. The war
approach, espoused mainly by the United States, implies a massive mobilization of resources
1059 Vgl. Roell, Deutschlands Beitrag zur internationalen Terrorismusbekämpfung, S.125.
1060 Vgl. Knelangen, Wilhelm (2007), „Die deutsche Politik zur Bekämpfung des Terrorismus,“
in: Jäger, Thomas; Höse, Alexander und Oppermann, Kai (Hrsg.), Deutsche Außenpolitik.
Sicherheit, Wohlfahrt, Institutionen und Normen, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, S.173-96, hier: S.173.
1061 Fischer, Joschka (12.11.2001), „Rede des Bundesministers des Auswärtigen vor der 56.
Generalversammlung der Vereinten Nationen am 12. November 2001 in New York,“ in:
Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (CD-ROM für Jg. 1996-
2005) 2001(82-2).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Seit dem Ende des Kalten Krieges haben alle Bundesregierungen den weiterhin zentralen Stellenwert der Nordatlantischen Vertragsorganisation (NATO) sowie ihren Anspruch bekräftigt, den Transformationsprozess der Allianz aktiv mitzugestalten. Gleichzeitig sah sich die deutsche Sicherheitspolitik dem Vorwurf politischer und wissenschaftlicher Beobachter ausgesetzt, häufig passiv und inkonsequent zu handeln. So gilt Deutschland im Bereich des militärischen Krisenmanagements oder bei der Umsetzung militärischer Verpflichtungen seit langer Zeit als Bremser.
Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Monographie den Gestaltungswillen der deutschen NATO-Politik und die dieser Politik zugrunde liegenden Sicherheits- und Einflussinteressen in den Bereichen der Osterweiterungen, des militärischen Krisenmanagements und des Kampfes gegen den Terrorismus nach dem 11. September 2001. Sie bedient sich dabei eines institutionalistischen Analyserahmens, nach dem mehrere Funktionen von Sicherheitsinstitutionen – allgemeine und spezifische, politische und militärische – unterschieden werden können. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass sich die scheinbaren Widersprüche der deutschen Sicherheitspolitik damit erklären lassen, dass sie stets die politisch-integrativen Funktionen der NATO in den Mittelpunkt stellte.