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6.2.2 Die Debatte im Deutschen Bundestag am 19. September 2001
Vor dem Hintergrund der internationalen Solidarisierung mit den USA, die sich
auch auf die deutsche Öffentlichkeit erstreckte, erfuhr die Zustimmung der Bundesregierung zur Ausrufung des Bündnisfalls in der deutschen Innenpolitik breite Unterstützung. In einer internen SPD-Fraktionssitzung gab es nach Medienberichten
keine Wortmeldungen, welche die Entscheidung in Frage stellten, wenngleich einige
Abgeordnete vor einem militärischen Automatismus und einer Spirale der Gewalt
warnten. Bei Bündnis90/Die Grünen sprachen sich drei Abgeordnete gemeinsam mit
der Bundestagsfraktion der PDS gegen die Entscheidung aus.999 Am 19. September
beschäftigte sich der Deutsche Bundestag erstmals ausführlich mit den Terroranschlägen in den USA. Alle Fraktionen waren sich darüber einig, dass dieses Ereignis
die transatlantischen Beziehungen in Zukunft entscheidend prägen würde.
Bundeskanzler Schröder erklärte unter Bezugnahme auf die VN-Resolution 1368
und den NATO-Beschluss, die USA „können und sie dürfen, durch diese Weiterentwicklung des Völkerrechts gedeckt, ebenso entschieden gegen Staaten vorgehen,
die den Verbrechern Hilfe und Unterschlupf gewähren. Um es klar zu sagen: Das
bezieht sich auf alles, was ich uneingeschränkte Solidarität genannt habe.“1000 Diese
Position wurde auch vom SPD-Fraktionsvorsitzenden Peter Struck unter Beifall aus
den Reihen seiner Partei sowie der Grünen vertreten.1001
Die Akzeptanz einer erweiterten Interpretation individueller und kollektiver
Selbstverteidigung wurde jedoch begleitet von zwei wesentlichen Einschränkungen
bzw. Erwartungen an den amerikanischen Bündnispartner. Zum einen sprachen sich
die Redner aller Parteien gegen eine Dominanz des Militärischen im Kampf gegen
den Terrorismus aus. Unterstrichen wurde vielmehr die Notwendigkeit eines umfassenden Vorgehens unter Einsatz politischer und wirtschaftlicher Instrumente. So
forderte Schröder ein umfassendes Konzept gegen den Terrorismus, welches die
999 Vgl. SZ (15.9.2001), Die Abweichler stellen sich hinter Schröder.
1000 Schröder, Gerhard (19.9.2001), „Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder zu den Terroranschlägen in den USA und den Beschlüssen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen sowie der NATO vor dem Deutschen Bundestag am 19. September 2001 in
Berlin,“ in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (CD-ROM für
Jg. 1996-2005) 2001(61-1)(eigene Hervorhebung).
1001 Struck ging darüber hinaus auch bereits auf einige militärische Folgen ein, die sich aus der
Erweiterung des Verteidigungsbegriffs ergeben würden. Er relativierte die Bedeutung klassischer militärischer Abschreckung bei der Bekämpfung des Terrorismus und unterstrich
die Bedeutung von „zielgenaue[r] Aufklärung und hoch mobile[r] militärische[r] Spezialkommandos.“ Für die CDU forderte Friedrich Merz eine neue Ausrichtung des Aufgabenspektrums der Bundeswehr, „das von Prävention bis hin zu massiven militärischen Schlägen zusammen mit den Bündnispartnern auch in entfernten Krisenregionen reicht.“ Vgl. die
Beiträge Strucks und Merz in: Deutscher Bundestag (19.9.2001), Terroranschläge in den
USA und Beschlüsse des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen sowie der NATO. Plenarprotokoll vom 19. September 2001, Sitzung 14/187, Berlin, S.13308. Hier zeichnen sich
bereits grundlegende konzeptionelle Veränderungen in der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ab, auf die weiter unten noch eingegangen wird.
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Lösung regionaler Konflikte, insbesondere des Nahostkonflikts, die konstruktive
Einbindung so genannter Problemstaaten wie Iran und Syrien und den Einsatz finanz-, entwicklungs- und integrationspolitischer Instrumente zur Bekämpfung der
Ursachen des Terrorismus einschloss.1002 Auch Guido Westerwelle (FDP) und Kerstin Müller (Bündnis90/Die Grünen) warnten vor einer Fixierung auf das Militärische, während Roland Claus für die PDS eine Militarisierung des Kampfes gegen
den Terrorismus kategorisch ablehnte.
Zum zweiten teilten die Fraktionen im Parlament die Erwartung, dass die Solidaritätsbekundungen der Verbündeten im Bündnis zu einem multilateral abgestimmten, kooperativen Verhalten der USA im weiteren Kampf gegen den Terrorismus
führen würden. Schröder brachte diese Erwartung in seiner Regierungserklärung wie
folgt auf den Punkt:
„Mit jedem Recht – wir wissen das – korrespondiert eine Pflicht, aber umgekehrt gilt auch:
Mit der Bündnispflicht, die wir übernommen haben, korrespondiert ein Recht und dieses Recht
heißt Information und Konsultation […]. Zu Risiken – auch im Militärischen – ist Deutschland
bereit, aber nicht zu Abenteuern.“1003
Auch Struck äußerte die Erwartung, das zukünftige Verhalten der USA werde
„wesentlich davon beeinflusst werden, wie die Bündnispartner in Zeiten der Krise
und Bedrohung Solidarität und Beistand zu leisten bereit sind.“1004
6.2.3 Deutsche und andere NATO-Beiträge zur Operation Enduring Freedom
6.2.3.1 Anforderungen der USA an die NATO
Am 2. Oktober bestätigte der Nordatlantikrat den Bündnisfall, nachdem amerikanische Vertreter belegen konnten, dass der Terrorangriff vom 11. September tatsächlich von Außen geplant wurde. Einen Tag später richtete Washington eine Anfrage
zur Unterstützung der unmittelbar bevorstehenden Militäraktionen im Rahmen der
Operation Enduring Freedom (OEF) an die Bündnispartner. Die USA betrachteten
den „Krieg gegen den Terrorismus“ von Anfang an als umfassend im funktionalen
und geographischen Sinne, so dass die OEF nicht auf ein einzelnes Zielland begrenzt blieb. Washington nahm zunächst jedoch das Taliban-Regime in Afghanistan
ins Visier, da es sich weigerte, den mutmaßlichen Urheber der Anschläge, Osama
bin-Laden, auszuliefern und die Unterstützung für dessen Terrornetzwerk Al-Qaida
einzustellen. Am 7. Oktober begannen die USA ihre Angriffe auf die terroristischen
1002 Schröder, Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder am 19. September
2001.
1003 Ebd..
1004 Deutscher Bundestag, Terroranschläge in den USA und Beschlüsse des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen sowie der NATO. Plenarprotokoll vom 19. September 2001, S.18308.
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References
Zusammenfassung
Seit dem Ende des Kalten Krieges haben alle Bundesregierungen den weiterhin zentralen Stellenwert der Nordatlantischen Vertragsorganisation (NATO) sowie ihren Anspruch bekräftigt, den Transformationsprozess der Allianz aktiv mitzugestalten. Gleichzeitig sah sich die deutsche Sicherheitspolitik dem Vorwurf politischer und wissenschaftlicher Beobachter ausgesetzt, häufig passiv und inkonsequent zu handeln. So gilt Deutschland im Bereich des militärischen Krisenmanagements oder bei der Umsetzung militärischer Verpflichtungen seit langer Zeit als Bremser.
Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Monographie den Gestaltungswillen der deutschen NATO-Politik und die dieser Politik zugrunde liegenden Sicherheits- und Einflussinteressen in den Bereichen der Osterweiterungen, des militärischen Krisenmanagements und des Kampfes gegen den Terrorismus nach dem 11. September 2001. Sie bedient sich dabei eines institutionalistischen Analyserahmens, nach dem mehrere Funktionen von Sicherheitsinstitutionen – allgemeine und spezifische, politische und militärische – unterschieden werden können. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass sich die scheinbaren Widersprüche der deutschen Sicherheitspolitik damit erklären lassen, dass sie stets die politisch-integrativen Funktionen der NATO in den Mittelpunkt stellte.