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vielmehr auf grundsätzlichen Differenzen mit der Führungsmacht USA über zentrale
Fragen der internationalen Ordnung im Allgemeinen und der Nichtverbreitung von
Massenvernichtungswaffen (MVW) im Besonderen. Nach der Krise war die Bundesregierung sichtlich um eine Begrenzung des transatlantischen Schadens bemüht
und lancierte in der dritten Phase einige Initiativen, um die politische Dimension im
Bündnis im Sinne der Konsultation unter den Bündnispartnern wieder zu stärken
(Abschnitt 6.5).
6.2 Internationale Solidarisierung und Krisenentscheidungen der Bündnispartner
6.2.1 „Uneingeschränkte Solidarität“ und die Ausrufung des Bündnisfalls
Unter dem Eindruck der Zerstörung der beiden Türme des World Trade Centers und
eines Teils des Pentagons durch den koordinierten Einsatz ziviler Verkehrsmaschinen als „fliegende Bomben“ erlebte die Welt eine Welle der Solidarität mit den
Vereinigten Staaten. Noch am Tag der Angriffe und bevor sich die deutsche Innenpolitik mit den Ereignissen beschäftigen konnte, verurteilten alle Vertreter der 19
Mitgliedstaaten der Nordatlantischen Allianz die „barbarischen Akte“ und forderten
eine Intensivierung des Kampfes gegen den Terrorismus.983 Der Sicherheitsrat der
Vereinten Nationen verabschiedete bereits einen Tag später eine Resolution, in der
er die Anschläge als eine Bedrohung des internationalen Friedens und der Sicherheit
bezeichnete und betonte, „that those responsible for aiding, supporting or harbouring
the perpetrators, organizers and sponsors of these acts will be held accountable“. Der
Sicherheitsrat unterstrich auf dieser Grundlage „its readiness to take all necessary
steps to respond to the terrorist attacks of 11 September“. Gleichzeitig wurde auch
ausdrücklich das Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung nach
Artikel 51 der VN-Charta bekräftigt.984
In einer Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag am selben Tag erklärte Bundeskanzler Schröder die „uneingeschränkte Solidarität“ Deutschlands
gegenüber den Vereinigten Staaten und charakterisierte die Anschläge als eine
„Kriegserklärung gegen die gesamte zivilisierte Welt“.985 Während einer oft als
historisch bezeichneten Sitzung des Nordatlantikrates vom 12. September beschlossen die NATO-Botschafter nach einer mehrstündigen Sitzung erstmals in der Geschichte der Organisation die Ausrufung des Bündnisfalls nach Artikel 5 des Washingtoner Vertrages. Dieser Beschluss stand zunächst noch unter dem Vorbehalt,
983 NATO, Statement by the North Atlantic Council (11.9.2001).
984 United Nations Security Council (12.9.2001), Resolution 1368 (2001), S/RES/1368, New
York.
985 Schröder, Gerhard (12.9.2001), „Regierungserklärung von Bundeskanzler Schröder zu den
Anschlägen in den Vereinigten Staaten von Amerika vor dem Deutschen Bundestag am 12.
September 2001 in Berlin,“ in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (CD-ROM für Jg. 1996-2005) 2001(58-1).
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dass die Angriffe tatsächlich von Außen geführt wurden.986 In kürzester Zeit und
ohne große öffentliche Debatte hatten sowohl der VN-Sicherheitsrat als auch der
Nordatlantikrat einen Präzedenzfall für eine erweiterte Definition dessen geschaffen,
was einen bewaffneten Angriff ausmachen kann.987 Auch terroristische Akte konnten
nun grundsätzlich den Verteidigungsfall auslösen und entsprechende militärische
Gegenmaßnahmen legitimieren.988 Noch bei der Formulierung des Strategischen
Konzepts von 1999 hatte die NATO den Terrorismus lediglich im Zusammenhang
mit Artikel 4, also unterhalb der Schwelle der kollektiven Verteidigung, erfasst.989
Diese Trennung wurde nun mit der Entscheidung vom 12. September de facto aufgehoben.990 „For the first time, […] NATO formally accepted that a terrorist attack
could be included within the framework of Article 5“, so die Bewertung des türkischen NATO-Botschafters kurz nach der Entscheidung.991
Die relativ rasche Entscheidung des Nordatlantikrates kam zweifellos unter dem
Eindruck der schockierenden Ereignisse vom Vortag zustande. Sie wurde zudem mit
Nachdruck von NATO-Generalsekretär George Robertson betrieben, da er eine
massive Schwächung der Organisation im Falle ihres Untätigbleibens befürchtete.992
Robertson wurde dabei von den Regierungen Großbritanniens, Frankreichs, Italiens
und Spaniens unterstützt. Es gab allerdings trotz der Solidaritätsbekundungen auch
986 Im Wortlaut der Erklärung heißt es: „The Council agreed that if it is determined that this
attack was directed from abroad against the United States, it shall be regarded as an action
covered by Article 5 of the Washington Treaty, which states that an armed attack against
one or more of the Allies in Europe or North America shall be considered an attack against
them all.“ NATO, Statement by the North Atlantic Council (12.9.2001).
987 Vgl. Gordon, Philip H. (2001/2002), „NATO After 11 September,“ in: Survival 43(4),
S.89-106, hier: S.92; de Nevers, Renée (2007), „NATO's International Security Role in the
Terrorist Era,“ in: International Security 31(4), S.34-66, hier: S.37. Auch Bundeskanzler
Schröder sah – zumindest rückblickend – den Präzedenzcharakter dieser Entscheidungen,
die „auch neues internationales Recht“ gesetzt hätten. Schröder, Entscheidungen, S.174.
988 Die völkerrechtliche Diskussion über die Interpretation der Selbstverteidigung gegen terroristische Angriffe war damit jedoch nicht beendet. Einigkeit herrscht im Gegenteil darüber,
dass nicht jeder terroristische Anschlag das Recht auf Selbstverteidigung in den internationalen Beziehungen nach sich zieht. So wird argumentiert, dass „jedenfalls ein Völkerrechtssubjekt den bewaffneten Angriff durchgeführt haben muss, bzw. die Akte einem Staat
oder anderen Subjekten des Völkerrechts zurechenbar sein müssen. Will man dabei nicht so
weit gehen und Terroristen selbst als Völkerrechtssubjekte ansehen, so müsste nach klassischem Verständnis von Artikel 51 UN-Charta der Angriff jedenfalls in einer rechtlich relevanten Weise einem Staat zuzuordnen sein.“ Hobe, Stephan und Kimminich, Otto (2004),
Einführung in das Völkerrecht (8. Auflage), Tübingen und Basel, A. Francke Verlag,
S.320-21.
989 Vgl. Wiesmann, Die vielleicht letzte Chance der NATO.
990 Vgl. Olshausen, Klaus (2004), „Die neue NATO,“ in: Bundesakademie für Sicherheitspolitik (Hrsg.), Sicherheitspolitik in neuen Dimensionen. Ergänzungsband I, Hamburg u.a.,
Verlag E.S.Mittler & Sohn, S.391-424.
991 Zitiert in: FT (14.9.2001), Assault on American Politics – NATO quick to set historic
precedent.
992 Vgl. Bensahel, Nora (2003), The Counterterror Coalitions. Cooperation with Europe,
NATO, and the European Union, Santa Monica, RAND, S.6.
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Vorbehalte, die insbesondere von Deutschland, Belgien, Luxemburg, Norwegen und
den Niederlanden vorgetragen wurden.993 Der Grund für diese anfänglichen Vorbehalte lag in der Sorge, mit der Aktivierung des Artikel 5 die Kontrolle über die weiteren Ereignisse durch die Ausstellung einer Blankovollmacht gegenüber den USA
zu verlieren und so einen militärischen Automatismus unter Beteiligung des Bündnisses auszulösen. Diese Befürchtungen wurden nicht zuletzt durch entsprechende
Signale aus Washington geschürt. Während der amerikanische Außenminister Colin
Powell gemäßigte Töne anschlug und das Streben seiner Regierung nach Bildung
einer möglichst breiten Staatenkoalition unter Einschluss muslimischer Staaten ankündigte, bezeichnete Präsident George W. Bush die eingetretene Situation als den
„ersten Krieg des 21. Jahrhunderts“ und kündigte massive Vergeltung seitens der
USA an. Der stellvertretende amerikanische Verteidigungsminister, Paul Wolfowitz,
präzisierte dies dahingehend, dass sich dieser Krieg auch gegen Staaten richten würde, die den Terrorismus unterstützen.994
Dagegen erklärte Außenminister Joschka Fischer gemeinsam mit seiner schwedischen Amtskollegin Anna Lindh, dass es noch zu früh sei, um bereits über militärische Maßnahmen zu sprechen, solange die eigentlichen Urheber der Anschläge von
New York und Washington nicht benannt werden könnten.995 Auch Bundeskanzler
Schröder sagte, dass er die Entscheidung im Nordatlantikrat mittrage, betonte jedoch
gleichzeitig, dass es „keinen Automatismus für deutsche Militäreinsätze“ gebe.996
Somit lag die anfängliche Zurückhaltung Deutschlands und einiger anderer NATO-
Staaten nicht in der Aktivierung des kollektiven Verteidigungsfalls als Mittel der
politischen Solidaritätsbekundung gegenüber den USA begründet, sondern in der
Frage, welche konkreten militärischen Konsequenzen dies haben könnte. Wie andere
Bündnispartner auch äußerte Berlin die klare Erwartung, dass weitere Entscheidungen in den politischen Gremien der Allianz konsultiert würden.997 Diesen Bedenken
wurde schließlich während der Sitzung des Nordatlantikrats am 12. September durch
eine ergänzende Notiz Rechnung getragen, die vorsah, dass jeder neue Schritt weitere Beratungen in den politischen Bündnisgremien voraussetzen würde.998
993 Vgl. IHT (14.9.2001), Allies Unsure of What a Counterterrorism Offensive Might Require:
NATO Unity, but What Next?
994 Vgl. IHT (13.9.2001), NATO Commits to Backing U.S. in Any Retaliatory Strike; SZ
(14.9.2001), USA kündigen Feldzug gegen den Terrorismus an.
995 Vgl. NYT (13.9.2001), For First Time, NATO Invokes Joint Defense Pact With U.S..
996 SZ (13.9.2001), NATO eröffnet Weg zu gemeinsamer Militäraktion mit den USA.
997 Vgl. SZ (14.9.2001), Ein historischer Abend in Brüssel; FT (14.9.2001), Assault on American Politics – NATO quick to set historic precedent.
998 Vgl. SZ (19.9.2001), Allianz verweigert den Blankoscheck.
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6.2.2 Die Debatte im Deutschen Bundestag am 19. September 2001
Vor dem Hintergrund der internationalen Solidarisierung mit den USA, die sich
auch auf die deutsche Öffentlichkeit erstreckte, erfuhr die Zustimmung der Bundesregierung zur Ausrufung des Bündnisfalls in der deutschen Innenpolitik breite Unterstützung. In einer internen SPD-Fraktionssitzung gab es nach Medienberichten
keine Wortmeldungen, welche die Entscheidung in Frage stellten, wenngleich einige
Abgeordnete vor einem militärischen Automatismus und einer Spirale der Gewalt
warnten. Bei Bündnis90/Die Grünen sprachen sich drei Abgeordnete gemeinsam mit
der Bundestagsfraktion der PDS gegen die Entscheidung aus.999 Am 19. September
beschäftigte sich der Deutsche Bundestag erstmals ausführlich mit den Terroranschlägen in den USA. Alle Fraktionen waren sich darüber einig, dass dieses Ereignis
die transatlantischen Beziehungen in Zukunft entscheidend prägen würde.
Bundeskanzler Schröder erklärte unter Bezugnahme auf die VN-Resolution 1368
und den NATO-Beschluss, die USA „können und sie dürfen, durch diese Weiterentwicklung des Völkerrechts gedeckt, ebenso entschieden gegen Staaten vorgehen,
die den Verbrechern Hilfe und Unterschlupf gewähren. Um es klar zu sagen: Das
bezieht sich auf alles, was ich uneingeschränkte Solidarität genannt habe.“1000 Diese
Position wurde auch vom SPD-Fraktionsvorsitzenden Peter Struck unter Beifall aus
den Reihen seiner Partei sowie der Grünen vertreten.1001
Die Akzeptanz einer erweiterten Interpretation individueller und kollektiver
Selbstverteidigung wurde jedoch begleitet von zwei wesentlichen Einschränkungen
bzw. Erwartungen an den amerikanischen Bündnispartner. Zum einen sprachen sich
die Redner aller Parteien gegen eine Dominanz des Militärischen im Kampf gegen
den Terrorismus aus. Unterstrichen wurde vielmehr die Notwendigkeit eines umfassenden Vorgehens unter Einsatz politischer und wirtschaftlicher Instrumente. So
forderte Schröder ein umfassendes Konzept gegen den Terrorismus, welches die
999 Vgl. SZ (15.9.2001), Die Abweichler stellen sich hinter Schröder.
1000 Schröder, Gerhard (19.9.2001), „Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder zu den Terroranschlägen in den USA und den Beschlüssen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen sowie der NATO vor dem Deutschen Bundestag am 19. September 2001 in
Berlin,“ in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (CD-ROM für
Jg. 1996-2005) 2001(61-1)(eigene Hervorhebung).
1001 Struck ging darüber hinaus auch bereits auf einige militärische Folgen ein, die sich aus der
Erweiterung des Verteidigungsbegriffs ergeben würden. Er relativierte die Bedeutung klassischer militärischer Abschreckung bei der Bekämpfung des Terrorismus und unterstrich
die Bedeutung von „zielgenaue[r] Aufklärung und hoch mobile[r] militärische[r] Spezialkommandos.“ Für die CDU forderte Friedrich Merz eine neue Ausrichtung des Aufgabenspektrums der Bundeswehr, „das von Prävention bis hin zu massiven militärischen Schlägen zusammen mit den Bündnispartnern auch in entfernten Krisenregionen reicht.“ Vgl. die
Beiträge Strucks und Merz in: Deutscher Bundestag (19.9.2001), Terroranschläge in den
USA und Beschlüsse des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen sowie der NATO. Plenarprotokoll vom 19. September 2001, Sitzung 14/187, Berlin, S.13308. Hier zeichnen sich
bereits grundlegende konzeptionelle Veränderungen in der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ab, auf die weiter unten noch eingegangen wird.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Seit dem Ende des Kalten Krieges haben alle Bundesregierungen den weiterhin zentralen Stellenwert der Nordatlantischen Vertragsorganisation (NATO) sowie ihren Anspruch bekräftigt, den Transformationsprozess der Allianz aktiv mitzugestalten. Gleichzeitig sah sich die deutsche Sicherheitspolitik dem Vorwurf politischer und wissenschaftlicher Beobachter ausgesetzt, häufig passiv und inkonsequent zu handeln. So gilt Deutschland im Bereich des militärischen Krisenmanagements oder bei der Umsetzung militärischer Verpflichtungen seit langer Zeit als Bremser.
Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Monographie den Gestaltungswillen der deutschen NATO-Politik und die dieser Politik zugrunde liegenden Sicherheits- und Einflussinteressen in den Bereichen der Osterweiterungen, des militärischen Krisenmanagements und des Kampfes gegen den Terrorismus nach dem 11. September 2001. Sie bedient sich dabei eines institutionalistischen Analyserahmens, nach dem mehrere Funktionen von Sicherheitsinstitutionen – allgemeine und spezifische, politische und militärische – unterschieden werden können. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass sich die scheinbaren Widersprüche der deutschen Sicherheitspolitik damit erklären lassen, dass sie stets die politisch-integrativen Funktionen der NATO in den Mittelpunkt stellte.