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Balkans auf den Weg gebracht wurde, beanspruchte die Bundesregierung eine Führungsposition.967
Das vierte Handlungsmuster der deutschen Politik im Bereich des NATO-
Krisenmanagements schließlich betrifft das Verhältnis zwischen Krisen- und Planungsentscheidungen. Während sich Deutschland an die Krisenentscheidungen der
Allianz in Bosnien und Kosovo in der Regel – abhängig von der Politik der anderen
Partner mal aktiver und mal passiver – anpasste, war die deutsche Politik im Bereich
der längerfristigen Planungsentscheidungen am Status quo orientiert. Dabei ging es
um die Frage, inwiefern die Konsequenzen der jeweiligen Krisenentscheidungen in
Bosnien und Kosovo durch entsprechende Planungsentscheidungen – insbesondere
im Zusammenhang mit der neuen NATO-Strategie von 1999 – zur Regel erhoben
werden sollten.
Diese Status quo-Orientierung zeigte sich zunächst in der Frage, inwiefern das
Handeln der Allianz im Kosovo ohne Mandat des VN-Sicherheitsrates als Modellfall für zukünftiges Krisenmanagement zu betrachten sei. Wie gezeigt wurde, betrieb
die Bundesregierung aus dieser Perspektive eine verzögernde Politik. Sie setzte sich
stark für den Status quo ein, d.h. in aller Regel sollte es nach ihrer Auffassung kein
Handeln ohne VN-Mandat geben. Dies bedeutete, Kosovo als Präzedenzfall für die
neue Bündnisstrategie vom April 1999 „einzuhegen“ und eine starke Stellung des
Sicherheitsrats festzuschreiben. Das gleiche gilt auch für das bis dahin gültige
Selbstverständnis der Allianz als regionales Sicherheitsbündnis ohne weltpolitische
Ambitionen. In beiden Fragen – nach dem VN-Mandat und der geographischen
Reichweite – konnte sich die Status quo-orientierte Politik in wichtigen Punkten im
Planungsprozess durchsetzen, weil die überwiegende Mehrheit der europäischen
NATO-Verbündeten die deutsche Position teilte.
5.4.2 Funktionsverständnis: Institutionelle Sicherheits- und Einflussinteressen
Aus Sicht der deutschen Regierungsakteure waren im ehemaligen Jugoslawien keine
unmittelbaren Sicherheitsinteressen im Sinne des Schutzes der territorialen Integrität, der politischen Grenzen und der politischen Unabhängigkeit berührt. Solche
Sicherheitsinteressen lassen sich weder plausibel darstellen, noch haben deutsche
Entscheidungsträger sich darauf zur Rechtfertigung ihres Handelns berufen. Etwas
anders verhält es sich bei den mittelbaren Sicherheitsinteressen, d.h. der Abwendung
politischer und/oder wirtschaftlicher Risiken von Deutschland. Hier lassen sich zwei
Motive identifizieren, die in der außen- und sicherheitspolitischen Diskussion eine
prominente Rolle gespielt haben: Erstens die Problematik der Bürgerkriegsflüchtlinge und zweitens die Gefahr eines regionalen Dominoeffekts der Konfliktausweitung.
Die Erfahrungen des Bosnienkrieges in der ersten Hälfte der 1990er Jahre haben
967 Die deutsche Diplomatie habe „diesen Pakt erdacht, entwickelt und schließlich in der
internationalen Gemeinschaft mehrheitsfähig gemacht und durchgesetzt“, so die Einschätzung von Joschka Fischer. Fischer, Die rot-grünen Jahre, S.250.
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diesen Risikofaktoren während der Kosovo-Krise zudem zusätzliches Gewicht gegeben.968
Insbesondere in der ersten Jahreshälfte 1998 war die Flüchtlingsproblematik in
der deutschen Bewertung der Kosovo-Krise von Bedeutung. Außenminister Kinkel
mahnte frühzeitig, dass Deutschland ein besonderes Interesse an der Stabilisierung
der Lage im Kosovo habe, da in der Bundesrepublik zu diesem Zeitpunkt bereits
rund 140.000 albanische Flüchtlinge aus Kosovo sowie weitere 150.000 Albaner mit
einer Aufenthaltserlaubnis lebten.
Der zweite mittelbare sicherheitspolitische Faktor betraf die Möglichkeit eines
destabilisierenden Dominoeffekts, der ausgehend vom Kosovo zunächst auf Albanien und Mazedonien, dann auch auf Kroatien, Slowenien, Ungarn, Rumänien und
Bulgarien, sowie schließlich auch auf die NATO-Partner Türkei und Griechenland
übergreifen könnte.969 Diese Sorge brachte beispielsweise Außenminister Fischer in
einem Interview für die Wochenzeitung Die Zeit zum Ausdruck. Er sagte, der ausufernde Nationalismus auf beiden Seiten
„[…] würde zuerst Mazedonien zerreißen. Zugleich würde durch die Kosovaren dauerhaft eine
Quelle der Gewalt in Europa geschaffen, das Ferment eines großalbanischen Nationalismus.
Das hätte Konsequenzen für Bulgarien, für Griechenland und die gesamte Region. Ich rede
hier keiner Dominotheorie das Wort. Aber die Revision der ethnischen Landkarte wird massive politische Folgen haben.“970
Die relative Passivität der deutschen Politik im Bereich des militärischen Krisenmanagements in Bosnien und Kosovo war auch Ausdruck der besonderen innenpolitischen und verfassungsrechtlichen Beschränkungen in der Bundesrepublik Deutschland. Zugleich verdeutlichte sie jedoch, dass die NATO aus Sicht der Akteure in
Bonn bzw. Berlin hier – im Sinne ihrer spezifisch-militärischen Funktion der Abschreckung und Zwangsausübung – nur einen untergeordneten Stellenwert hatte. Mit
anderen Worten: Als militärisches Instrument taugte sie aus deutscher Sicht nicht
dazu, die Fluchtbewegungen oder die Gefahr einer Konfliktausweitung nachhaltig
zu kontrollieren. Dennoch ist zu verzeichnen, dass sich diese Wahrnehung in
Deutschland während der Kosovo-Krise ein Stück weit zu relativieren begann. Das
deutsche Drängen auf ein robusteres Auftreten des Bündnisses im Sommer 1998
lässt sich nur vor diesem Hintergrund verstehen. Das bedeutet, dass die Bundesregierung im Kosovo erstmals ausdrücklich anerkannte, dass die Androhung militäri-
968 Vgl. Clement, Rolf (2007), „Auslandseinsätze und die Transformation der Bundeswehr,“
in: Jäger, Thomas; Höse, Alexander und Oppermann, Kai (Hrsg.), Deutsche Außenpolitik.
Sicherheit, Wohlfahrt, Institutionen und Normen, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, S.123-40, hier: S.128.
969 Nicht zuletzt gab es auch die Sorge, dass die bereits erreichten Fortschritte in Bosnien
wieder gefährdet werden könnten. Vgl. beispielsweise den Redebeitrag Joschka Fischers in:
Deutscher Bundestag, 50 Jahre Atlantisches Bündnis. Plenarprotokoll vom 22. April 1999,
S.2777 sowie Kamp, Die NATO nach Kosovo, S.721.
970 Interview mit Außenminister Fischer in: Die Zeit (15.4.1999), Serbien gehört zu Europa.
250
schen Zwangs unter bestimmten Bedingungen ein erster notwendiger Schritt auf
dem Weg zu einer politischen Lösung sein kann.
Darüber hinaus zeigte die Analyse in diesem Kapitel, dass die Bundesregierung
den militärischen Beitrag der Bundeswehr immer als ein Mittel der Einflussnahme
betrachtet und auch genutzt hat. Dies gilt für alle drei Ebenen des Einflussbegriffs,
wenngleich mit unterschiedlichen Ausprägungen. Auf der Ebene der allianzinternen
Ressourcen und Dienstposten (control over resources) – also der jeweiligen Führungsstäbe und der permanenten Militärstruktur der NATO – hat die Bundesregierung stets auf angemessene Repräsentanz gedrängt. Dies galt in Bosnien zunächst
für den Kommandeur des logistischen Bereichs der IFOR in Kroatien, später im
Rahmen der SFOR für den einflussreichen Posten des Chefs des Stabes, für die
deutsche Beteiligung an den Führungsstäben der Alliierten Streitkräftekommandos
in der Folge des Brüsseler NATO-Gipfels im Januar 1994 und für eine stärkere
deutsche Vertretung in den Strukturen des Regionalkommandos AFSOUTH. Auch
im Prozess der Neuordnung der Kommandostruktur der Allianz, die nach fünfjährigen Vorbereitungen schließlich im September 1999 in Kraft trat, setzte sich die
Bundesregierung – und hier insbesondere Verteidigungsminister Scharping – stark
für eine hochrangige Repräsentanz Deutschlands ein.971 Dabei argumentierten die
deutschen Vertreter ausdrücklich mit den eigenen militärischen Beiträgen zum Krisenmanagement auf dem Balkan. 972
In diesem Zusammenhang darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass die
Bundesrepublik bereits während der Zeit des Kalten Krieges einflussreiche Posten in
der NATO besetzen konnte. So war der stellvertretende Oberbefehlshaber
(D-SACEUR) bereits zwischen 1978 und 1993 durchgängig ein deutscher General.
Von 1988 bis 1994 stellte Deutschland darüber hinaus mit Manfred Wörner sogar
den Generalsekretär der Allianz zu einer Zeit, als sich die Bundeswehr noch nicht an
Militäreinsätzen out-of-area beteiligte. Daraus lässt sich schließen, dass die Besetzung wichtiger Posten für sich genommen keine treibende Kraft der deutschen Sicherheitspolitik im Bereich des NATO-Krisenmanagements war. Vielmehr machte
umgekehrt die zunehmende Beteiligung der Bundeswehr an den militärischen Operationen eine angemessene Repräsentanz deutscher Offiziere in den entsprechenden
Bündnisstrukturen erforderlich, um den eigenen Interessen im Operationsraum Gehör verschaffen zu können.
971 Vgl. Weisser, Sicherheit für ganz Europa, S.168-69; Wiesmann, Klaus (2003), Die vielleicht letzte Chance der NATO. Die Umsetzung der Prager Gipfelentscheidung, SWP-
Studie, 2003/S21, Berlin, Stiftung Wissenschaft und Politik.
972 Vgl. FAZ (17.12.1998), Streit um neue Nato-Kommandostruktur. Wer wird Befehlshaber
im künftigen Bereich Europa-Nord? Haftendorn, Deutsche Außenpolitik zwischen
Selbstbeschränkung und Selbstbehauptung, S.307. Scharping unterstrich, dass die
Bundeswehr an der neuen Kommandostruktur des Bündnisses „in erheblichem Umfang, darunter mit mehr als zwanzig Spitzenposten, beteiligt [ist] – verstärkt auch in der besonders
krisenanfälligen Südregion.“ Scharping, Rede an der Führungsakademie der Bundeswehr in
Hamburg am 8. September 1999.
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Auf der zweiten Ebene des hier zugrunde liegenden Einflussbegriffs, also der
Kontrolle über Politikergebnisse (control over outcomes), lässt sich der Zusammenhang zwischen der Beteiligung Deutschlands am militärischen Krisenmanagement
einerseits und den Einflussmöglichkeiten Bonns auf die europäische und internationale Balkan-Politik andererseits deutlich nachzeichnen. Dies gilt für den Dayton-
Prozess am Ende des bosnischen Bürgerkriegs ebenso wie für die politischen Initiativen Außenminister Fischers zur Lösung der Kosovo-Krise einige Jahre später. Der
eigene militärische Beitrag war nicht der einzige Faktor, der die deutschen Einflussmöglichkeiten auf die europäische und internationale Ordnungspolitik gegen-
über den Entwicklungen im ehemaligen Jugoslawien bestimmte. Dennoch wurde der
Zusammenhang von den politischen Akteuren als relevant wahrgenommen. So stellte der damalige Bundeskanzler Schröder mit Blick auf die Kosovo-Krise fest: „Nur
weil wir im Bündnis solidarisch waren, hatten wir die Möglichkeit, unseren Beitrag
zu einer politischen Lösung zu leisten.“973 In ähnlicher Weise sah es Verteidigungsminister Scharping: „Wer sich nicht an der Krisenbewältigung beteiligen kann, weil
er nicht über angemessene und geeignete Streitkräfte verfügt, hat auch keine Chance, zur Beilegung des Konflikts und zur politischen Gestaltung beizutragen.“974 Der
Umstand, dass Bonn sich zunehmend gleichwertig am NATO-Krisenmanagement
beteiligte, war folglich Ausdruck der politisch gewollten Entwicklung vom „stillen
Teilhaber“ in Bosnien zur regionalen Ordnungsmacht im Kosovo.
Aus Sicht des theoretischen Analyserahmens dieser Arbeit muss jedoch einschränkend festgestellt werden, dass die NATO als Institution bei der politischen
Bewältigung der Jugoslawienkrisen zumeinst eine eher untergeordnete Rolle spielte.
Das bedeutet, dass die Handelnden auf die allgemeine Allianzfunktion der gegenseitigen Konsultation, Information und der kollektiven Entscheidungsfindung nicht
oder nur sporadisch zurückgriffen. So fanden wesentliche politische Konsultationen
während der Bosnienkrise in der Kontaktgruppe statt. Während der Kosovo-Krise
fanden die wichtigen Vorabstimmungen in dem informellen Forum der Quint statt,
in dem neben Deutschland noch die USA, Frankreich, Großbritannien und Italien
vertreten waren. Gegen Ende der Krise geriet dann die G-8 in den Mittelpunkt des
Prozesses. In allen Fällen hatte Deutschland sich stark für die Nutzung dieser alternativen, wenig oder gar nicht institutionalisierten Foren eingesetzt. Die NATO blieb
jedoch die einzige Organisation, die zur Planung und Durchführung des gemeinsamen militärischen Krisenmanagements in der Lage war. Zudem darf nicht unterschlagen werden, dass das Bündnis mit seinen eingespielten Regeln und institutionellen Mechanismen unverzichtbar blieb, um für den im informellen Rahmen gefundenen Konsens auch die notwendige Unterstützung aller anderen Partner zu
sichern.
973 Schröder, Gerhard (2.9.1999), „Rede zur offiziellen Eröffnung des Sitzes der Deutschen
Gesellschaft für Auswärtige Politik am 2. September 1999 in Berlin,“ in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (CD-ROM für Jg. 1996-2002) 1999(55).
974 Scharping, Rede an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg am 8. September
1999.
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Auf der dritten Ebene schließlich bezieht sich der Einflussbegriff weniger auf die
gezielte Steuerung politischer Prozesse im Zusammenhang mit den Jugoslawienkrisen, sondern allgemein auf die Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Bündnispartner im Rahmen der allgemeinen Institutionenfunktion (control over actors).
Auch auf dieser Ebene setzte die Bundesregierung ihre militärischen Beiträge gezielt
als Einflussmittel ein. Deutlich wurde dieses Motiv insbesondere im Verhältnis zu
den Vereinigten Staaten, deren Handlungsoptionen trotz ihrer dominanten politischen und militärischen Stellung durch bündnispolitische Zwänge zumindest eingeschränkt waren, wie auch Andrew Denison bemerkt: „[…] [W]hile the USA undoubtedly is the alliance’s dominant player, even it has to compromise and modify
its decisions if alliance unity is to be maintained.“975 Gleichzeitig ließ die Kosovo-
Krise auch Zweifel an der langfristigen Tragfähigkeit des amerikanischen Engagements in Europa aufkommen und führte unter anderem zu verstärkten Anstrengungen im Bereich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union.976
Neben der Einbindung eines bestimmten Partners zielte diese Form der Einflussnahme allgemein auf Ein- und Anbindung aller Mitgliedstaaten im Sinne der Verhinderung von Re-Nationalisierungstendenzen in den Außen- und Sicherheitspolitiken dieser Länder. Aus dieser Perspektive war der Erhalt der allgemeinen Allianzfunktion im Sinne des gemeinsamen Konsultierens und Handelns ein wesentlicher
Grund für die Bereitstellung deutscher militärischer Beiträge. Denn die allgemeine
Funktion der NATO wurde durch die Ereignisse in Bosnien und später im Kosovo
gefährdet: „The war in Kosovo, like the previous wars in the former Yugoslavia,
perceived by Berlin as [a] threat[] to those institutions, conjuring the dangers of a renationalization of European politics.”977
975 Anderson, Air Strike, S.200.
976 Vgl. Kupchan, Charles A. (2000), „Kosovo and the Future of U.S. Engagement in Europe:
Continued Hegemony or Impending Retrenchment?“ in: Martin, Pierre und Brawley, Mark
R. (Hrsg.), Alliance Politics, Kosovo, and NATO's War: Allied Force or Forced Allies?
New York, Palgrave, S.75-89, hier: S.76.
977 Maull, Germany and the Use of Force, S.72. Vgl. auch Anderson, Air Strike, S.190. Aus
Sicht der institutionalistischen Forschung bleibt es allerdings ein Rätsel, warum die NATO
überhaupt erst in diese Glaubwürdigkeitsfalle geraten konnte, obwohl aus rationalistischer
Sicht überhaupt keine unmittelbaren Sicherheitsinteressen der Bündnispartner betroffen waren. Vgl. hierzu Meyer und Schlotter, Die Kosovo-Kriege 1998/1999, S.3 und S.25. Die
Analyse legt nahe, dass die NATO, und mit ihr auch die deutsche Sicherheitspolitik, in
Bosnien zunächst unwillig, langsam und inkrementell zu einem immer stärkeren militärischen Engagement übergegangen ist, ein Prozess, der gerade für Deutschland auch nicht
beabsichtigte Konsequenzen hatte. Ein wichtiger treibende Faktor in dieser schrittweisen
Ausweitung des militärischen Engagements waren allerdings nicht unmittelbare Sicherheitsinteressen, sondern humanitäre und moralische Motive. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass im Kosovo die Erfahrungen des bosnischen Bürgerkriegs wenige Jahre zuvor
einen wesentlichen Faktor darstellten. Auch den Akteuren in Deutschland war klar geworden, dass sich die Politik des serbischen Präsidenten nicht ohne die glaubwürdige Androhung von Gewalt würde beeinflussen lassen.
253
In diesem Punkt wird die historische Dimension der Wahrnehmung nationaler Interessen besonders deutlich, die dazu führte, dass Bündnisfähigkeit und Bündnissolidarität von der deutschen Politik in den Rang der Staatsräson erhoben wurden.
Naumann beschreibt die nach innen gerichtete Funktion der kollektiven Verteidigung und des militärischen Krisenmanagements. Ihm zufolge trägt kollektive Risikovorsorge wesentlich dazu bei,
„Rückfalle in nationale Verteidigung [zu] verhindern und Solidarität zu fördern. Vor dem Hintergrund der Tragik europäischer Geschichte dieses Jahrhunderts, in der überzogener Nationalismus sicherlich eine der entscheidenden Gründe war, die zu Kriegen führten, ist kollektive
Verteidigung als institutionalisierte Überwindung von Nationalismus im sensitiven Bereich der
Verteidigung zu betrachten und allein deshalb ein substantieller und erhaltenswerter Beitrag
zur Stabilität Europas.“978
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es auf allen Ebenen der Einflussnahme einen Zusammenhang mit dem deutschen Beitrag zum militärischen NATO-
Krisenmanagement gab, der auch von den Regierungsakteuren entsprechend wahrgenommen wurde. Damit bestätigt sich ein Befund, den Michael Berndt bereits für
die deutsche Militärpolitik in der ersten Hälfte der 1990er Jahre hervorgehoben
hatte:
„Während Militärpolitik für die alte Bundesrepublik [vor 1990] als Mittel der Sicherheitspolitik dem Ziel folgte, militärisch-territoriale Sicherheit für die Bundesrepublik zu erreichen,
folgte sie als Mittel der Außenpolitik [nach 1990] dem Ziel, über die Strategie der zwischenstaatlichen Kooperation die Souveränitätsrechte der Bundesrepublik auszubauen und Handlungsspielraum gegenüber und Einflussmöglichkeiten auf die Kooperationspartner zu gewinnen.“979
Berndt leitete seine Schlussfolgerungen in erster Linie aus der Analyse außenpolitischer Grundsatzdokumente und -reden ab. Die vorliegende Untersuchung bestätigt
diesen Befund auf der Grundlage des tatsächlichen Verhaltensmusters der deutschen
Politik gegenüber dem Krisenmanagement der NATO in den 1990er Jahren. Der
Gestaltungswille der deutschen Sicherheitspolitik richtete sich demnach vorrangig
auf die Bewahrung und auf den Ausbau der politischen Einflussmöglichkeiten, wobei die allgemeine Allianzfunktion zentral blieb. Dazu war der militärische Beitrag
der Bundeswehr ein wesentliches Mittel. 980 Die spezifisch-militärische Bündnisfunk-
978 Naumann, Rolle und Aufgabe der NATO nach dem Gipfel 1999 und erste Erfahrungen aus
dem Kosovo-Konflikt, S.176.
979 Berndt, Michael (1997), Deutsche Militärpolitik in der 'neuen Weltunordnung'. Zwischen
nationalen Interessen und globalen Entwicklungen, Münster, LIT, S.226.
980 Michael Meimeth kommt im Zusammenhang mit der Einbindung der Bundeswehr in multinationale Verbände zu einem ähnlichen Urteil, wenn er schreibt, dass diese Einbindung
für die Bundesregierung eher symbolischen Wert besaß und sich weniger an militärischen
Notwendigkeiten orientierte. Die Bundeswehr werde in erster Linie als ein Instrument der
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tion der Abschreckung und der Ausübung von Zwang stand für sich genommen
dagegen nicht im Fokus. Kooperative Sicherheit und nicht militärische Interventionsfähigkeit war zumindest in Bosnien noch das Leitmotiv der deutschen Politik.
Die Untersuchung hat allerdings gezeigt, dass die Kosovo-Krise möglicherweise
erste Signale eines veränderten Funktionsverständnisses auf deutscher Seite erkennen lässt.
5.4.3 Analyse der bürokratischen Politik
Im Rahmen der Untersuchung ließen sich einige systematische Positionsunterschiede zwischen den relevanten Akteuren bzw. Ministerien in Deutschland identifizieren, die auch auf unterschiedliche bürokratische Interessenwahrnehmungen zurückzuführen sind. So kamen die wesentlichen Impulse für die Neuausrichtung der
NATO und damit auch der Bundeswehr in Richtung militärisches Krisenmanagement zunächst aus dem Bundesverteidigungsministerium. Hier trat insbesondere
Minister Rühe in Erscheinung, während das Auswärtige Amt und der Bundeskanzler
aus anderen innen- und außenpolitischen Gründen noch Zurückhaltung übten.
Ein weiterer Unterschied offenbarte sich in der Frage nach dem Verhältnis zwischen der NATO und den Vereinten Nationen. Unterschiedliche Positionen diesbezüglich bildeten den Hintergrund des Streits um das so genannte Zwei-Schlüsselsystem in Bosnien, in dem es folglich nicht ausschließlich um taktische Fragen
des militärischen Krisenmanagements ging. Hier war es erneut der Verteidigungsminister, der sich früh und am deutlichsten für eine möglichst unabhängige Stellung
der NATO gegenüber den Vereinten Nationen aussprach. Wenige Jahre später wiederholte sich der Streit um das Verhältnis der beiden Organisationen in Gestalt der
Diskussion um die Notwendigkeit eines Mandats des Sicherheitsrats für ein militärisches Eingreifen der Allianz im Kosovo. In Deutschland zeigte sich ein ähnliches
Muster wie zuvor: Der Verteidigungsminister trat – gemeinsam mit seinen NATO-
Kollegen – als erster für die Möglichkeit eines möglichst ungebundenen Handelns
der Allianz ein, eine Position, die auch der sozialdemokratische Verteidigungsminister Rudolf Scharping im Zusammenhang mit der Neuformulierung der NATO-
Strategie im April 1999 beibehielt.981 Bemerkenswert dabei ist die Ähnlichkeit der
internationalen Einbindung Deutschlands gesehen. Meimeth, Michael (2002), „Sicherheitspolitik zwischen Nation und Europa - Deutsche und französische Perspektiven,“ in:
Meimeth, Michael und Schild, Joachim (Hrsg.), Die Zukunft von Nationalstaaten in der europäischen Integration – Deutsche und französische Perspektiven, Opladen, Leske und
Budrich, S.231-47, hier: S.243-44.
981 Im konkreten Krisenfall sahen sich Außenminister und Bundeskanzler im Sommer 1998
unter dem Druck der USA und der Ereignisse gezwungen, ihre ursprüngliche Forderung
nach einem VN-Mandat aufzugeben. Dagegen setzte sich die Bundesregierung unter Federführung von Außenminister Fischer gemeinsam mit anderen europäischen Regierungen
damit durch, die Stellung des VN-Sicherheitsrates beim NATO-Krisenmanagement in dem
neuen Strategiedokument zu stärken.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Seit dem Ende des Kalten Krieges haben alle Bundesregierungen den weiterhin zentralen Stellenwert der Nordatlantischen Vertragsorganisation (NATO) sowie ihren Anspruch bekräftigt, den Transformationsprozess der Allianz aktiv mitzugestalten. Gleichzeitig sah sich die deutsche Sicherheitspolitik dem Vorwurf politischer und wissenschaftlicher Beobachter ausgesetzt, häufig passiv und inkonsequent zu handeln. So gilt Deutschland im Bereich des militärischen Krisenmanagements oder bei der Umsetzung militärischer Verpflichtungen seit langer Zeit als Bremser.
Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Monographie den Gestaltungswillen der deutschen NATO-Politik und die dieser Politik zugrunde liegenden Sicherheits- und Einflussinteressen in den Bereichen der Osterweiterungen, des militärischen Krisenmanagements und des Kampfes gegen den Terrorismus nach dem 11. September 2001. Sie bedient sich dabei eines institutionalistischen Analyserahmens, nach dem mehrere Funktionen von Sicherheitsinstitutionen – allgemeine und spezifische, politische und militärische – unterschieden werden können. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass sich die scheinbaren Widersprüche der deutschen Sicherheitspolitik damit erklären lassen, dass sie stets die politisch-integrativen Funktionen der NATO in den Mittelpunkt stellte.