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Mechanismus wie bereits 1995 die Zusammenarbeit im Rahmen der SFOR in Bosnien.965
Auch wenn die NATO als Institution während der Kosovo-Krise zur Pflege der
westlich-russischen Beziehungen eher eine symbolische Rolle spielte, verdeutlichte
Kosovo, dass diese Symbolik durchaus realen Wert für beide Seiten haben kann. In
Zeiten normaler Beziehungen stellen die gemeinsamen Institutionen anders als ad
hoc-Foren wie die Kontaktgruppe einen dauerhaften Rahmen für konstruktive Zusammenarbeit und Austausch bereit. Auch ist die Bedeutung des Austauschs hoher
militärischer Offiziere über das Bündnis als Korrektiv gegenseitiger Fehlwahrnehmungen nicht zu unterschätzen. In Spannungs- bzw. Krisenzeiten wiederum bieten
diese Institutionen ein willkommenes Ventil, um außenpolitische Signalwirkung zu
entfalten und innenpolitischen Forderungen zu entsprechen, ohne die Subtanz der
Beziehungen in Frage zu stellen. So fällt auf, dass Moskau aus Protest gegen die
Militärintervention der Allianz die gemeinsamen Institutionen boykottierte, jedoch
sehr darauf achtete, die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu seinen
wichtigsten westlichen Partnern nicht zu beschädigen.
5.4 Fazit: Deutschland und das NATO-Krisenmanagement in den 1990er Jahren
5.4.1 Gestaltungswille der deutschen Politik
Die vorangegangene Analyse der deutschen Sicherheitspolitik gegenüber dem
NATO-Krisenmanagement in den 1990er Jahren hat insgesamt vier Handlungsmuster identifizieren können. Erstens war die deutsche Politik im Bereich des militärischen Krisenmanagements sowohl in Bosnien als auch im Kosovo durch die Anpassung an die Politik der USA, Großbritanniens und Frankreichs geprägt. Immer dann,
wenn unter diesen drei wichtigen Partnern in der Allianz Konsens bestand, passte
sich die Bundesregierung auch gegen innenpolitische Widerstände an die äußeren
Umstände an. Sie verknüpfte dies mit einer Strategie, die darauf abzielte, den innenpolitischen Handlungsspielraum schrittweise zu vergrößern. In anderen Situationen,
in denen es zwischen Washington, London und Paris Dissens gab, zeigte sich die
deutsche Politik zurückhaltend, abwartend oder nahm eine vermittelnde Position ein.
965 Das russische Kontingent wurde auf die von den USA, Frankreich und Deutschland geführten multinationalen Sektoren verteilt. Ansonsten wies die Einbindung große Ähnlichkeiten
mit der Lösung auf, die bereits zuvor in Bosnien praktiziert wurde. Vgl. Haar, The Kosovo
Crisis and its Consequences for a European Security Architecture, S.117 sowie Clement,
Die Teilnahme der Bundeswehr am internationalen Militäreinsatz im Kosovo und in Jugoslawien, S.164. Trotz der anfänglichen Gefahr eines Konflikts durch die einseitige Entsendung russischer Soldaten zum Flughafen in Pristina funktionierte die Zusammenarbeit mit
Russland in der KFOR später gut. Vgl. Reinhardt, Klaus (2001), „Lehren aus Kosovo. Militärische und politische Herausforderungen,“ in: Internationale Politik 56(3), S.32-36, hier:
S.32.
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Zweitens lässt sich ein klarer Unterschied des deutschen Gestaltungswillens zwischen den abgestuften Formen des militärischen Krisenmanagements feststellen.
Hinsichtlich der Mitgestaltung an friedenserhaltenden Maßnahmen (peacekeeping)
bzw. der Friedensimplementierung verhielt sich die Bonner Politik deutlich ambitionierter als im Bereich der Friedenserzwingung (peace enforcement). Dieser Trend
zeichnete sich bereits mit der deutschen Beteiligung an der IFOR bzw. SFOR ab,
wurde jedoch noch deutlicher im Zusammenhang mit der KFOR im Kosovo, wo
Deutschland eine unterstützende und am Ende als Lead Nation in einem von fünf
multinationalen Sektoren sogar eine führende Funktion übernahm. Im Bereich friedenserzwingender Maßnahmen betrieb Bonn dagegen während des bosnischen Bürgerkriegs bis 1995 eine verzögernde Politik, um einen Kampfeinsatz des Bündnisses
zu verhindern. Vier Jahre später, während der Kosovo-Krise, drohte der deutsche
Bundeskanzler erstmals überhaupt seit dem Ende des Kalten Krieges innerhalb der
Allianz mit einem deutschen Veto, als es um die Möglichkeit eines offensiven Einsatzes von NATO-Bodentruppen ging.
Eine bedeutende Abweichung von den ersten beiden identifizierten Handlungsmustern stellte allerdings das deutsche Drängen im Frühsommer 1998 dar, als es um
den Beginn der militärischen Planungen für eine Intervention des Bündnisses im
Kosovo ging. Anders als noch in Bosnien drängten Außenminister Kinkel und Verteidigungsminister Rühe teilweise stärker als ihre Bündnispartner, einschließlich der
amerikanischen Regierung, auf frühzeitige Planungen und ein robustes Auftreten der
Allianz mit militärischen Mitteln. Dies spiegelte die Lehren aus den Erfahrungen in
Bosnien wider, die gezeigt hatten, dass erst die glaubwürdige Drohung mit militärischen Zwangsmitteln ein Einlenken Belgrads bewirken konnte. Dabei sind jedoch
auch Zweifel geäußert worden, wie substantiell die deutschen Forderungen tatsächlich waren. Joachim Krause kritisiert in diesem Zusammenhang: „Mit ihrem vorzeitigen und undifferenzierten Drängen auf militärische Aktionen hatten somit die […]
westlichen (und vor allem deutschen Politiker) die Malaise der westlichen Politik
noch verschärft.“966
Drittens demonstrierte die Bundesregierung im Bereich der politischen Dimensionen des Krisenmanagements und der Krisennachbereitung einen hohen positiven
Gestaltungswillen im Sinne eigener Initiativen, der über die Zeit sogar noch bedeutend zunahm. In Bosnien engagierte sich Bonn aktiv für die Einbindung Russlands
und für die sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen des Dayton-Prozesses. Im
Kosovo schließlich entwickelte sich die Bundesrepublik Deutschland immer mehr
zu einer europäischen Ordnungsmacht. Dies verdeutlichte das deutsche Drängen auf
die Einberufung der Rambouillet-Konferenz (anstelle eines von den USA geforderten NATO-Ultimatums), die Ausformulierung der fünf Forderungen der Allianz,
später die Veröffentlichung des Fischer-Plans sowie die Einbindung Russlands in
den internationalen Verhandlungsprozess. Auch bei der Initiierung und Durchführung des Stabilitätspakts für Südosteuropa, der während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im Juni 1999 in Köln zur langfristigen Stabilisierung des Westlichen
966 Krause, Deutschland und die Kosovo-Krise, S.405.
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Balkans auf den Weg gebracht wurde, beanspruchte die Bundesregierung eine Führungsposition.967
Das vierte Handlungsmuster der deutschen Politik im Bereich des NATO-
Krisenmanagements schließlich betrifft das Verhältnis zwischen Krisen- und Planungsentscheidungen. Während sich Deutschland an die Krisenentscheidungen der
Allianz in Bosnien und Kosovo in der Regel – abhängig von der Politik der anderen
Partner mal aktiver und mal passiver – anpasste, war die deutsche Politik im Bereich
der längerfristigen Planungsentscheidungen am Status quo orientiert. Dabei ging es
um die Frage, inwiefern die Konsequenzen der jeweiligen Krisenentscheidungen in
Bosnien und Kosovo durch entsprechende Planungsentscheidungen – insbesondere
im Zusammenhang mit der neuen NATO-Strategie von 1999 – zur Regel erhoben
werden sollten.
Diese Status quo-Orientierung zeigte sich zunächst in der Frage, inwiefern das
Handeln der Allianz im Kosovo ohne Mandat des VN-Sicherheitsrates als Modellfall für zukünftiges Krisenmanagement zu betrachten sei. Wie gezeigt wurde, betrieb
die Bundesregierung aus dieser Perspektive eine verzögernde Politik. Sie setzte sich
stark für den Status quo ein, d.h. in aller Regel sollte es nach ihrer Auffassung kein
Handeln ohne VN-Mandat geben. Dies bedeutete, Kosovo als Präzedenzfall für die
neue Bündnisstrategie vom April 1999 „einzuhegen“ und eine starke Stellung des
Sicherheitsrats festzuschreiben. Das gleiche gilt auch für das bis dahin gültige
Selbstverständnis der Allianz als regionales Sicherheitsbündnis ohne weltpolitische
Ambitionen. In beiden Fragen – nach dem VN-Mandat und der geographischen
Reichweite – konnte sich die Status quo-orientierte Politik in wichtigen Punkten im
Planungsprozess durchsetzen, weil die überwiegende Mehrheit der europäischen
NATO-Verbündeten die deutsche Position teilte.
5.4.2 Funktionsverständnis: Institutionelle Sicherheits- und Einflussinteressen
Aus Sicht der deutschen Regierungsakteure waren im ehemaligen Jugoslawien keine
unmittelbaren Sicherheitsinteressen im Sinne des Schutzes der territorialen Integrität, der politischen Grenzen und der politischen Unabhängigkeit berührt. Solche
Sicherheitsinteressen lassen sich weder plausibel darstellen, noch haben deutsche
Entscheidungsträger sich darauf zur Rechtfertigung ihres Handelns berufen. Etwas
anders verhält es sich bei den mittelbaren Sicherheitsinteressen, d.h. der Abwendung
politischer und/oder wirtschaftlicher Risiken von Deutschland. Hier lassen sich zwei
Motive identifizieren, die in der außen- und sicherheitspolitischen Diskussion eine
prominente Rolle gespielt haben: Erstens die Problematik der Bürgerkriegsflüchtlinge und zweitens die Gefahr eines regionalen Dominoeffekts der Konfliktausweitung.
Die Erfahrungen des Bosnienkrieges in der ersten Hälfte der 1990er Jahre haben
967 Die deutsche Diplomatie habe „diesen Pakt erdacht, entwickelt und schließlich in der
internationalen Gemeinschaft mehrheitsfähig gemacht und durchgesetzt“, so die Einschätzung von Joschka Fischer. Fischer, Die rot-grünen Jahre, S.250.
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References
Zusammenfassung
Seit dem Ende des Kalten Krieges haben alle Bundesregierungen den weiterhin zentralen Stellenwert der Nordatlantischen Vertragsorganisation (NATO) sowie ihren Anspruch bekräftigt, den Transformationsprozess der Allianz aktiv mitzugestalten. Gleichzeitig sah sich die deutsche Sicherheitspolitik dem Vorwurf politischer und wissenschaftlicher Beobachter ausgesetzt, häufig passiv und inkonsequent zu handeln. So gilt Deutschland im Bereich des militärischen Krisenmanagements oder bei der Umsetzung militärischer Verpflichtungen seit langer Zeit als Bremser.
Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Monographie den Gestaltungswillen der deutschen NATO-Politik und die dieser Politik zugrunde liegenden Sicherheits- und Einflussinteressen in den Bereichen der Osterweiterungen, des militärischen Krisenmanagements und des Kampfes gegen den Terrorismus nach dem 11. September 2001. Sie bedient sich dabei eines institutionalistischen Analyserahmens, nach dem mehrere Funktionen von Sicherheitsinstitutionen – allgemeine und spezifische, politische und militärische – unterschieden werden können. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass sich die scheinbaren Widersprüche der deutschen Sicherheitspolitik damit erklären lassen, dass sie stets die politisch-integrativen Funktionen der NATO in den Mittelpunkt stellte.