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5.3 Die militärische Intervention der NATO im Kosovo (1998-1999)
5.3.1 Internationale Reaktionen auf die Eskalation der Gewalt
Im Februar 1998 schlug der latente Konflikt im Kosovo zwischen der albanischen
Bevölkerungsmehrheit und den serbischen Sicherheitskräften in offene Gewalt um.
Internationale Medien berichteten über umfangreiche Gewaltmaßnahmen der jugoslawischen Armee und Polizei gegen albanische Zivilisten im Kosovo, insbesondere
in der Region Drenica.771 Erst jetzt begannen internationale Gremien, sich ernsthaft
mit der Krise zu befassen.772 Die Konfliktlage im Kosovo konnte die internationale
Staatenwelt schon deshalb nicht unberührt lassen, weil die Ereignisse dort eng mit
der Situation im gesamten Westlichen Balkan verknüpft waren. Im Kosovo hatte der
gewaltsame Zerfallsprozess Jugoslawiens seinen Anfang genommen. Durch den
albanischen Faktor und durch die Flüchtlingsfrage drohte der Kosovo-Konflikt
schwerwiegende und negative Auswirkungen auf die fragilen Zustände in Bosnien,
Mazedonien und Albanien zu haben. Zudem riefen die Parallelen zum bosnischen
Bürgerkrieg – der ethnische Konflikt zwischen einer serbischen Minderheit und
einer nicht-serbischen Mehrheit und die fatale Rolle der serbischen Zentralregierung
– die dort gemachten Erfahrungen wieder in das internationale Bewusstsein.
Diese Situation führte dazu, dass die internationale Gemeinschaft im Kosovo
deutlich schneller auf die Eskalation der Gewalt reagierte als in den Jahren zuvor in
Bosnien. Die erste wesentliche Reaktion der europäischen Staaten sowie der USA
bestand darin, die Kontaktgruppe zu reaktivieren, die bereits als informelles Verhandlungsgremium der westlichen Mächte und Russlands während des bosnischen
Bürgerkrieges gedient hatte. Die deutsche Bundesregierung setzte sich zu einem
sehr frühen Zeitpunkt dafür ein, die Kontaktgruppe auch mit der Kosovo-Krise zu
befassen.773 Gemeinsam mit den USA trat Bonn für eine Kombination politischer
und ökonomischer Anreize und Drohungen ein, um Belgrad zu einer gewaltlosen
Politik im Kosovo zu bewegen.774
Nach ihrem ersten Treffen am 9. März 1998 in London verurteilte die Kontaktgruppe die „repressiven“ Maßnahmen der jugoslawischen Sicherheitskräfte gegen
771 Vgl. Giersch, Carsten (2000), „NATO und militärische Diplomatie im Kosovo-Konflikt,“
in: Reuter, Jens und Clewing, Konrad (Hrsg.), Der Kosovo-Konflikt. Ursachen, Verlauf,
Perspektiven, Klagenfurt, Wieser Verlag, S.443-66, hier: S.447.
772 Vgl. Meyer, Berthold und Schlotter, Peter (2000), Die Kosovo-Kriege 1998/1999. Die
internationalen Interventionen und ihre Folgen, HSFK-Report 1/2000, Frankfurt am Main,
Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, S.13.
773 Vgl. Joetze, Günter (2001), Der letzte Krieg in Europa? Das Kosovo und die deutsche
Politik, Stuttgart und München, Deutsche Verlags-Anstalt, S.31 sowie Maull und Stahl,
Durch den Balkan nach Europa? S.96. Wie zuvor in Bosnien umfasste die Kontaktgruppe
die USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Russland. Zwischenzeitlich war
darüber hinaus auch Italien in die Gruppe aufgenommen worden.
774 Vgl. NZZ (8.3.1998), Deutsch-amerikanische Warnungen an Belgrad; FAZ (9.3.1998),
Albright: Dialog der beste Weg.
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die Zivilbevölkerung775 und drohte der Bundesrepublik Jugoslawien (BRJ) mit der
Verhängung eines Waffenembargos durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Darüber hinaus verweigerte die Kontaktgruppe jenen Vertretern der BRJ Einreisevisa, denen eine Beteiligung an den Unterdrückungsmaßnahmen im Kosovo
vorgeworfen wurde. Als Gegenleistung für eine Aussetzung der Sanktionen forderten die fünf westlichen Staaten und Russland den Rückzug der serbischen Sicherheitskräfte, sofern sie gegen zivile Einrichtungen und Gruppen eingesetzt wurden,
den freien Zugang humanitärer Organisationen zum Kosovo sowie den Beginn eines
Dialogs zwischen Albanern und Serben über den künftigen Status der Provinz im
Rahmen einer Autonomieregelung innerhalb der BRJ.776 Drei Wochen später stellte
die Kontaktgruppe fest, dass ihre Forderungen von serbischer Seite nicht erfüllt
wurden, und drohte mit nicht näher definierten „weiteren Maßnahmen“ gegen Belgrad.777 Mit der Resolution 1160 vom 31. März 1998 beschloß der Sicherheitsrat
schließlich unter Kapitel VII der VN-Charta die Verhängung eines Waffenembargos
gegen die BRJ und machte sich dabei die genannten Forderungen und Beschlüsse
der Kontaktgruppe zu Eigen.778
Die Außenminister der Nordatlantischen Allianz befassten sich am 28. Mai 1998
während ihrer regulären Frühjahrstagung mit der Situation im Kosovo. Das besondere Augenmerk galt dabei der Gefahr einer Ausweitung des Konflikts auf die Nachbarstaaten Albanien und Mazedonien, die nicht nur durch die geographische Nähe,
sondern durch ihre eigenen albanischstämmigen Bevölkerungen potentiell von der
Kosovo-Krise betroffen waren. Darüber hinaus fürchteten die NATO-Außenminister
negative Rückwirkungen auf den Friedensprozess in Bosnien-Herzegowina779 sowie
möglicherweise sogar eine Verschlechterung der Beziehungen zwischen den NATO-
Staaten Griechenland und Türkei.780
Anders als 1992 zu Beginn des bosnischen Bürgerkriegs teilten die NATO-
Mitgliedstaaten Anfang 1998 wesentliche Grundprämissen hinsichtlich des Kosovo-
Konflikts. So bestand Einigkeit, dass ein frühzeitiges und gemeinsames Handeln
sowie eine amerikanische Führungsrolle zwingend notwendig sind, um ein „zweites
775 Sie verurteilte auch jegliche terroristischen Aktivitäten der albanischen Befreiungsarmee
(UCK).
776 Contact Group/Office of the High Representative (9.3.1998), Statement on Kosovo, London, http://www.ohr.int (letzter Zugriff am 11.2.2005).
777 Ebd..
778 United Nations Security Council (31.3.1998), Resolution 1160(1998), S/RES/1160, New
York.
779 Im Abschluss-Kommuniqué heißt es: „The violence and the associated instability risk
jeopardising the Peace Agreement in Bosnia and Herzegovina and endangering security and
stability in Albania and the former Yugoslav Republic of Macedonia.“ NATO (28.5.1998),
Statement of Ministerial Meeting, North Atlantic Council, Luxembourg, 28 May 1998, dokumentiert in: Weller, Marc (1999), The Crisis in Kosovo 1989-1999. International Documents and Analysis, Volume 1, Cambridge, Documents & Analysis Publishing Ltd., S.275.
780 Vgl. IHT (29.5.1998), NATO Seeks a Way Out of Quagmire in Kosovo.
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Bosnien“ zu verhindern.781 Besonders deutlich wurde dies von der amerikanischen
Außenministerin Madeleine Albright hervorgehoben. Sie erklärte im Vorfeld des
ersten Kontaktgruppentreffens im Mai 1998:
„It took us seven years to bring Bosnia to this moment of hope. It must not take us that long to
resolve the crisis that is growing in Kosovo; and it does not have to if we apply the lessons of
1991. This time we must act with unity and resolve.”782
Trotz dieses gemeinsamen Verständnisses gab es unter den westlichen Mitgliedern der Kontaktgruppe keinen Konsens über die konkreten Konsequenzen, die
daraus zu ziehen waren. Während sich Bonn und Washington gemeinsam für politische und wirtschaftliche Sanktionen einsetzten, ging die amerikanische Außenministerin bereits einen Schritt weiter. Sie erklärte öffentlich, dass „alle Optionen auf dem
Tisch“ lägen, einschließlich der militärischen. Albright konnte sich jedoch zu diesem Zeitpunkt mit ihrer Linie noch nicht innerhalb der Clinton-Administration
durchsetzen. Insbesondere das Pentagon unter Verteidigungsminister William Cohen
und der Sicherheitsstab im Weißen Haus sträubten sich gegen die Erörterung militärischer Optionen zu diesem frühen Zeitpunkt.783 Die Ablehnung eines Teils der amerikanischen Regierung gegenüber militärischen Optionen begann jedoch bereits
wenige Wochen später zu erodieren. Darüber hinaus begannen die USA, ihre
NATO-Verbündeten zu einem verstärkten militärischen Engagement in Mazedonien
zu drängen, wo bereits 800 amerikanische Soldaten im Rahmen der Mission
UNPREDEP stationiert waren.784 Die deutsche Bundesregierung verhielt sich gegen-
über möglichen militärischen Maßnahmen der NATO im Kosovo zunächst zurückhaltend.
5.3.2 Erste militärische Planungen
Um einer Ausweitung des Kosovo-Konflikts entgegenzuwirken, wurde die Intensivierung der Zusammenarbeit mit Albanien und Mazedonien im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden beschlossen. Darüber hinaus wiesen die Außenminister den
Militärausschuss der Allianz an, Optionen für eine präventive Entsendung von
NATO-Soldaten nach Albanien und Mazedonien auszuarbeiten. Über darüber hinausgehende militärische Maßnahmen konnte hingegen kein Konsens erzielt werden.785 Auch wenn NATO-Generalsekretär Javier Solana nach dem Treffen unter-
781 Vgl. Daalder, Ivo H. und O'Hanlon, Michael E. (2000), Winning Ugly. NATO's War to
Save Kosovo, Washington D.C., Brookings Institution Press, S.23.
782 Zitiert nach Ebd., S.28.
783 Für eine Rekonstruktion der amerikanischen Position zu Beginn der Kosovo-Krise vgl. IHT
(19.4.1999), The Path to Crisis: How the United States and Its Allies Went to War.
784 Vgl. IHT (28.4.1998), U.S. Regards Intervention Over Kosovo as Possible.
785 Vgl. NATO, Statement of Ministerial Meeting, North Atlantic Council (28.5.1998).
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References
Zusammenfassung
Seit dem Ende des Kalten Krieges haben alle Bundesregierungen den weiterhin zentralen Stellenwert der Nordatlantischen Vertragsorganisation (NATO) sowie ihren Anspruch bekräftigt, den Transformationsprozess der Allianz aktiv mitzugestalten. Gleichzeitig sah sich die deutsche Sicherheitspolitik dem Vorwurf politischer und wissenschaftlicher Beobachter ausgesetzt, häufig passiv und inkonsequent zu handeln. So gilt Deutschland im Bereich des militärischen Krisenmanagements oder bei der Umsetzung militärischer Verpflichtungen seit langer Zeit als Bremser.
Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Monographie den Gestaltungswillen der deutschen NATO-Politik und die dieser Politik zugrunde liegenden Sicherheits- und Einflussinteressen in den Bereichen der Osterweiterungen, des militärischen Krisenmanagements und des Kampfes gegen den Terrorismus nach dem 11. September 2001. Sie bedient sich dabei eines institutionalistischen Analyserahmens, nach dem mehrere Funktionen von Sicherheitsinstitutionen – allgemeine und spezifische, politische und militärische – unterschieden werden können. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass sich die scheinbaren Widersprüche der deutschen Sicherheitspolitik damit erklären lassen, dass sie stets die politisch-integrativen Funktionen der NATO in den Mittelpunkt stellte.