196
später den Friedensvertrag von Dayton. Das rationale Kosten-Nutzen-Kalkül der
Konfliktparteien hatte sich unter dem militärischen Druck zugunsten einer Verhandlungslösung verschoben.721 Die Bundeswehr beteiligte sich somit indirekt an einem
friedenserzwingenden Einsatz der NATO, ohne dass die deutsche Politik formal
einen entsprechenden Beschluss gefasst hätte.
5.2.6 Deutschland und die Implementation Force
5.2.6.1 Die Diskussion um den deutschen Beitrag
Noch während in Bosnien die Bombenangriffe der NATO andauerten, begannen die
Bündnispartner mit der Planung einer multinationalen Streitmacht (Peace Implementation Force), die einen späteren Friedensvertrag militärisch absichern sollte. Der
amerikanische Verteidigungsminister William Perry kündigte Mitte September 1995
an, dass die USA ihren früheren Zusagen zur Entsendung amerikanischer Bodentruppen zur Implementierung eines Abkommens entsprechen würden. Er schlug
konkret die Entsendung von zwei bis drei Divisionen (30.000 bis 55.000 Soldaten)
bei substantieller Beteiligung der anderen NATO-Staaten vor.722 Auch auf Deutschland stieg der Druck, sich an der geplanten Truppe zu beteiligen. Militärische Quellen in Brüssel ließen verlauten, dass das in Deutschland stationierte Allied Rapid
Reaction Corps (ARRC) „eine bedeutende Rolle“ für die multinationale Truppe
spielen sollte.723 Der französische Außenminister Hervé de Charette regte die Entsendung des gerade erst für einsatzbereit erklärten Eurocorps unter deutschfranzösischer Führung nach Bosnien an.724
Die Bundesregierung reagierte nach bekanntem Muster. Während die CDU/CSU
in der Frage einer Beteiligung deutscher Bodentruppen auf bosnischem Gebiet zunächst gespalten war, lehnte Verteidigungsminister Rühe dies wie bei früheren Gelegenheiten ab. Er begründete seine Zurückhaltung damit, dass deutsche Soldaten
aufgrund der Rolle der Wehrmacht während des Zweiten Weltkriegs eher zur Eskalation als zur Stabilisierung beitragen würden und dass darüber hinaus „die Gefährdung für die Bundeswehr ungleich höher lieg[t] als für Soldaten anderer Länder.“725
721 Vgl. hierzu ausführlich das 9. Kapitel: „Auf dem Weg zum Frieden“ bei Calic, Krieg und
Frieden in Bosnien-Hercegovina.
722 Vgl. FAZ (16.9.1995), Perry: Zwei bis drei Nato-Divisionen als Friedenstruppen nach
Bosnien.
723 Vgl. SZ (23.9.1995), NATO bereitet Friedenstruppe für Bosnien vor.
724 Vgl. FAZ (22.9.1995), Frankreich bringt Eurokorps ins Spiel. Paris und Nato fordern deutsche Heereseinheiten für Bosnien.
725 SZ (21.9.1995), Bodentruppen für Bosnien? Kohl und Kinkel wollen Einsatz nicht mehr
ausschließen. Nach Auskunft des damaligen Befehlshabers des Heeresführungskommandos
in Koblenz, Klaus Reinhardt, dem später auch die Führung der deutschen Truppen im
Rahmen der IFOR und SFOR oblag, vertrat die militärische Führung der Bundeswehr hier
eine vom Verteidigungsminister abweichende Position. Sie setzte sich aus vorwiegend
197
Außenminister Kinkel, der in dieser Frage von Bundeskanzler Kohl unterstützt wurde, wollte den Einsatz deutscher Bodentruppen direkt im Krisengebiet hingegen
nicht ausschließen. Einigkeit bestand darin, dass es keine deutschen Kampftruppen
in Bosnien geben sollte.726
Im Laufe des Oktobers wurden die unterschiedlichen Positionen auf einen gemeinsamen Nenner gebracht, der am 24. Oktober mit einer Kabinettsentscheidung in
einem Kompromiss mündete. Der Beschluss sah die Entsendung von Pionier- und
Transporteinheiten sowie einer Schutzkomponente aus Fallschirm- und Gebirgsjägern vor, die in Kroatien stationiert werden sollten, deren Mandat jedoch auch einen
zeitlich begrenzten Einsatz auf bosnischem Gebiet erlauben würde. Etwa 70 deutsche Offiziere sollten ihren Dienst in den integrierten Stäben des ARRC in Sarajevo
leisten. Darüber hinaus sah der Kabinettsbeschluss die Vergrößerung des bereits
bestehenden Feldhospitals in Kroatien und den Einsatz von bis zu zwölf Transportmaschinen des Typs Transall vor. Der zuvor besonders umstrittene Einsatz von
Tornado-Flugzeugen sollte nach dem Willen Rühes von seinen Beschränkungen
befreit werden, so dass die Bundesluftwaffe alle Missionen über Bosnien mitfliegen
konnte.727 Diese Eckpunkte flossen schließlich in den Antrag ein, den die Bundesregierung am 28. November dem Bundestag zur Abstimmung vorlegte.728
Die Regierungserklärung zur ersten Lesung im Bundestag wurde von Außenminister Kinkel vorgetragen.729 In der Erklärung standen erneut bündnispolitische Motive für eine deutsche Beteiligung im Vordergrund. Neben den Appellen an die deutsche Mitverantwortung als verlässlicher und vollwertiger Bündnispartner hob Kinkel
die Bedeutung der Peace Implementation Force für die Einbindung sowohl der USA
als auch Russlands hervor. Die substantielle Beteiligung amerikanischer Soldaten an
der multinationalen Truppe habe eine hohe Bedeutung für das US-Engagement in
Europa, so der Außenminister.730 Verteidigungsminister Rühe nutzte die Gelegenheit, um das von ihm im Verlauf des Jahres 1995 immer wieder thematisierte Verpragmatischen Gründen dafür ein, das Stationierungsgebiet der Bundeswehr auf Bosnien
auszuweiten. Interview des Autors mit General a.D. Klaus Reinhardt am 11.10.2005 in
Bonn.
726 Kinkel sprach in diesem Zusammenhang von Pionieren und Nachschubtruppen. Vgl. Der
Spiegel (40/1995: 37), Länger verheddern.
727 Vgl. SZ (25.10.1995), Bonn will bis zu 4000 Soldaten entsenden.
728 Deutscher Bundestag (28.11.1995), Antrag der Bundesregierung. Deutsche Beteiligung an
den militärischen Maßnahmen zur Absicherung des Friedensvertrages für Bosnien-
Herzegowina, Drucksache 13/3122, Bonn.
729 Bundeskanzler Kohl gab zur zweiten Lesung am 6. Dezember eine Erklärung zur deutschen
Beteiligung an der militärischen Umsetzung eines Friedensabkommens ab, die jedoch keine
wesentlichen neuen inhaltlichen Aspekte enthielt. Redebeitrag von Helmut Kohl in:
Deutscher Bundestag (6.12.1995), Deutsche Beteiligung an den militärischen Maßnahmen
zur Absicherung des Friedensvertrages für Bosnien-Herzegowina. Plenarprotokoll vom 6.
Dezember 1995, Sitzung 13/76, Bonn.
730 Redebeitrag Klaus Kinkel in: Deutscher Bundestag (30.11.1995), Deutsche Beteiligung an
den militärischen Maßnahmen zur Absicherung des Friedensvertrages für Bosnien-
Herzegowina. Plenarprotokoll vom 30. November 1995, Sitzung 13/74, Bonn, S.6427.
198
hältnis zwischen der NATO und den Vereinten Nationen auf die Tagesordnung zu
setzen. Die Wende im bosnischen Bürgerkrieg sei nicht zuletzt deshalb möglich
geworden, weil sich die NATO „aus den Fesseln widersprüchlicher UN-Mandate“
befreit und die USA „ihr ganzes Gewicht in die Waagschale“ geworfen hätten.731
Ebenso wie Außenminister Kinkel hob Rühe den friedenserhaltenden Charakter des
Mandats der Peace Implementation Force sowie dessen zeitliche Befristung auf ein
Jahr hervor.
Im Parlament wiederholten sich bekannte Argumentationsmuster früherer Bundestagsdebatten. Für die CDU/CSU argumentierte Wolfgang Schäuble, dass die
konzeptionelle Trennung von Kampfeinsätzen und friedenserhaltenden Maßnahmen
wenig sinnvoll sei und zog aus Bosnien die Lehre, dass militärische Abschreckung
auch in Zukunft ein geeignetes Mittel sei, um Aggressoren entgegenzutreten.732 Die
FDP unterstützte den Regierungsantrag und unterstrich die Stärkung des Völkerrechts durch die Flankierung des Friedensprozesses mit militärischen Mitteln. Für
die SPD wiederholten sowohl Günther Verheugen als auch Rudolf Scharping die
Skepsis gegenüber dem fortdauernden Einsatz der ECR-Tornados, ohne dass jedoch
die Zustimmung der Fraktion davon abhängig gemacht werden sollte.733 Ebenso wie
die Grünen war die SPD in der Frage der Zustimmung oder Ablehnung des Regierungsantrags gespalten und konnte kein einheitliches Stimmverhalten ihrer Abgeordneten erreichen. Am Ende fand der Antrag der Bundesregierung nach der zweiten
Lesung am 6. Dezember – anders als im Juni bei der Abstimmung über einen deutschen Beitrag zum Schutz der Schnellen Eingreiftruppe – im Parlament eine breite
Mehrheit. Mit Zustimmung von 543 Abgeordneten, bei 107 Nein-Stimmen und
sechs Enthaltungen billigte das Parlament die Entsendung von 4000 bis 5000 Soldaten im Rahmen der multinationalen Implementierungstruppe, die nun offiziell
Implementation Force (IFOR) hieß.734 Damit leistete Deutschland nach den USA
(mehr als 20.000 Soldaten), Großbritannien (14.000 Soldaten) und Frankreich
(7.500 bis 10.000 Soldaten) den viertgrößten Beitrag zu der multinationalen Truppe,
an der sich neben den Bündnispartnern auch zwölf nicht-NATO-Staaten sowie vier
nicht-europäische Länder (Bangladesch, Malaysia, Pakistan, Neuseeland) beteiligten.735
731 Redebeitrag Volker Rühe in: Ebd., S.6444.
732 Redebeitrag Wolfgang Schäuble in: Deutscher Bundestag, Deutsche Beteiligung an den
militärischen Maßnahmen zur Absicherung des Friedensvertrages für Bosnien-
Herzegowina. Plenarprotokoll vom 6. Dezember 1995.
733 Von Bedeutung für die innenpolitische Diskussion über deutsche Auslandseinsätze war,
dass Scharping am 6. Dezember im Bundestag eine Neubewertung der bis dahin gültigen
Position der SPD vornahm. Er erklärte, Deutschland solle in Zukunft „im Prinzip an allen
von den Vereinten Nationen beschlossenen Maßnahmen“ teilnehmen können. Damit hob er
die Beschränkung der Zustimmung seiner Partei auf friedenserhaltende Einsätze unter VN-
Mandat auf. Redebeitrag Rudolf Scharping in: Ebd., S.6635.
734 Vgl. Kirste, Rollentheorie und Außenpolitikanalyse, S.441.
735 Vgl. FAZ (4.12.1995), Die Internationale Friedenstruppe.
199
5.2.6.2 Die Einbindung Russlands und das Verhältnis zwischen Moskau
und der NATO
Eine der sichtbarsten Übereinstimmungen sowohl zwischen Rühe und Kinkel als
auch zwischen den politischen Parteien im Bundestag bezog sich auf die Bedeutung
der multinationalen Truppe für das künftige Verhältnis zwischen Russland und der
NATO. Bereits Anfang November hatten sich der amerikanische Verteidigungsminister Perry und sein russischer Kollege Gratschow auf die militärische Dimension
der Einbindung Russlands in die IFOR geeinigt.736 Kurz darauf konnte auch die
Frage der politischen Verantwortlichkeiten geklärt werden.737 Am 30. November
erklärte Kinkel vor dem Bundestag, dass die Teilnahme russischer Kontingente
„über Bosnien hinaus positive Auswirkungen auf die angestrebte Sicherheitspartnerschaft haben [wird], auch im Kontext der geplanten NATO-Erweiterung.“738 Rühe
sagte mit Blick auf die Zusammenarbeit in Bosnien, dies sei „ein entscheidender
Schritt für eine neue Partnerschaft zwischen der neuen NATO und Russland“.739
Bundeskanzler Kohl nannte die „neue Qualität der Beziehungen zwischen Russland
und der NATO“ eine „gewaltige historische Veränderung“, die „Implikationen für
die künftige Ausgestaltung der europäischen Sicherheit“ habe.740
Noch wenige Wochen zuvor hatte die russische Regierung der Allianz wegen der
Bombardierung bosnisch-serbischer Ziele „Völkermord“ vorgeworfen. Trotz der
Spannungen kam es jedoch nie wirklich zu einem Bruch wegen der Bosnien-Politik.
Am Ende hatten weder Russland noch das Bündnis ein Interesse an einer solchen
Entwicklung. Beide Seiten bemühten sich darum, ein Übergreifen der bosnischen
Krise auf die bilateralen bzw. multilateralen Beziehungen einzudämmen. Dies entsprach in besonderem Maße den deutschen Interessen und wurde von der deutschen
außenpolitischen Elite entsprechend artikuliert und gefördert, nicht zuletzt durch die
Unterstützung zur Gründung der Kontaktgruppe im Februar 1994. Anders als im
Bereich des militärischen Krisenmanagements zeichnete sich die deutsche Politik
hier nicht durch passive Anpassung, sondern durch aktives Handeln aus.
736 Vgl. IHT (9.11.1995), Russians Agree to Serve With U.S. Unit in Bosnia.
737 Die FAZ zitiert „Brüsseler Kreise“ mit der Bemerkung, die Übereinkunft mit Moskau sei
wichtiger „als zwanzig Rahmenabkommen.“ FAZ (30.11.1995), Einvernehmen der Nato
mit Rußland über Bosnien-Einsatz.
738 Redebeitrag Klaus Kinkel in: Deutscher Bundestag, Deutsche Beteiligung an den militärischen Maßnahmen zur Absicherung des Friedensvertrages für Bosnien-Herzegowina. Plenarprotokoll vom 30. November 1995, S.6427.
739 SZ (30.11.95), Kein Vetorecht Moskaus in der NATO-Friedenstruppe.
740 Redebeitrag Helmut Kohl in: Deutscher Bundestag, Deutsche Beteiligung an den militärischen Maßnahmen zur Absicherung des Friedensvertrages für Bosnien-Herzegowina. Plenarprotokoll vom 6. Dezember 1995, S.6633.
200
5.2.6.3 Einflusspolitik durch den deutschen IFOR-Beitrag?
Während der Vorbereitungsphase eines Friedensschlusses in Bosnien sowie beim
späteren Wiederaufbau demonstrierte die Bundesregierung einen hohen Gestaltungswillen. Als größte Volkswirtschaft in der EU fiel Deutschland automatisch eine
wichtige Rolle im wirtschaftlichen Wiederaufbauprozess in Bosnien-Herzegowina
zu. Zwei spezifische Bereiche, in denen sich Bonn frühzeitig und mit Nachdruck
engagierte, waren die Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie die Ausarbeitung
einer Verfassung für den neuen multiethnischen Staat.741 „Deutschland“, so berichtete die Süddeutsche Zeitung vom 19. Dezember 1995 unter Berufung auf Quellen im
Auswärtigen Amt, „versteht sich in der internationalen Kontaktgruppe als der Pate
von Dayton, der sich speziell um die Abrüstung kümmert. Das Drehbuch ist im
Auswärtigen Amt geschrieben worden.“742 Auf deutsche Initiative hin fand am 18.
Dezember auf dem Petersberg bei Bonn eine Konferenz über Vertrauensbildung und
Rüstungskontrolle für das ehemalige Jugoslawien statt. Vorbild war das Modell des
KSE-Vertrages. Auf der Konferenz sollten Obergrenzen für schwere Waffen und
Soldaten der kroatischen, bosnischen und bosnisch-serbischen bzw. serbischen Armeen festgelegt werden.743
Im Zusammenhang mit diesem politischen Beitrag zur Rüstungskontrolle wurde
die Beteiligung an der Implementation Force von der Bundesregierung als ein Mittel
betrachtet, um Deutschland „Stimme und Gewicht“ im Dayton-Prozess zu geben.744
Außenminister Kinkel äußerte, dass die politische Bedeutung des deutschen militärischen Beitrages sich aus den hohen Erwartungen der Bündnispartner ergebe und
dass die Bundesregierung sich auch davon leiten lasse, „dass auf diese Weise
Deutschlands Gewicht als Mitglied der Kontaktgruppe erhalten bleibe.“745
Für den Bundesverteidigungsminister standen dagegen weniger die wirtschaftlichen und politischen Aspekte einer deutschen Beteiligung am Wiederaufbau in Bosnien im Vordergrund, als die Frage einer angemessenen Beteiligung deutscher Soldaten an den militärischen Führungsstrukturen der Implementierungstruppe. Auf-
741 Vgl. SZ (23.11.1995), Bonner Initiative zum Frieden auf dem Balkan; Kaiser, Karl und
Krause, Joachim (1996), „Deutsche Politik gegenüber dem Balkan,“ in: Kaiser, Karl und
Krause, Joachim (Hrsg.), Deutschlands neue Außenpolitik. Band 3: Interessen und Strategien, München, Oldenbourg, S.175-88, hier: S.185.
742 Im Allgemeinen wurde der deutschen Diplomatie im Dayton-Prozess nur eine Nebenrolle
zuerkannt. Neben den beiden genannten Schwerpunkten des deutschen Engagements kann
der Bundesregierung jedoch zu Gute gehalten werden, dass die territoriale Aufteilung Bosniens im Friedensvertrag von Dayton auf Vorstellungen beruhte, die Bonn gemeinsam mit
Paris bereits im Sommer 1993 als „Kinkel-Juppé-Plan“ vorgestellt hatte. Vgl. Maull und
Stahl, Durch den Balkan nach Europa? S.92.
743 Vgl. Kirste, Rollentheorie und Außenpolitikanalyse, S.434.
744 So erklärte Außenminister Kinkel Ende Oktober:„Deutschlands Einsatz für den Frieden
gibt uns in Politik und Diplomatie Stimme und Gewicht; wir wollen unserer internationalen
Verantwortung bei der Formulierung, Gestaltung und Absicherung des Friedens gerecht
werden.“ FAZ (26.10.1995), Kinkel: Der Waffenstillstand bleibt zerbrechlich.
745 Ebd..
201
grund des eng begrenzten Mandats für die deutsche Beteiligung an der IFOR konnte
Deutschland in den militärischen Strukturen in Bosnien nur eingeschränkt einen
Anspruch auf Führungsposten erheben. Nachdem sich während der ersten Monate
des deutschen IFOR-Engagements Befürchtungen hinsichtlich möglicher Anfeindungen deutscher Soldaten durch die Bevölkerung nicht bestätigt hatten, begann
sich Rühe um ein Ende der deutschen Sonderrolle zu bemühen. Im Rahmen der sich
abzeichnenden Nachfolgeoperation der IFOR – der späteren Stabilization Force
(SFOR) – formulierte Rühe das politische Ziel, den deutschen Beitrag an die Mandate der übrigen Bündnispartner anzugleichen.746 Damit war insbesondere die dauerhafte Stationierung von Kampftruppen in Bosnien gemeint, wie es schließlich im
Rahmen der SFOR mit der Beteiligung von 2000 bis 3000 deutschen Soldaten im
französischen Sektor in Bosnien auch in die Tat umgesetzt wurde.747
Das deutsche Verteidigungsministerium verband mit einem gleichberechtigten
Beitrag zur Friedenstruppe spezifische Forderungen in Bezug auf eine Mitwirkung
auf militärischer Führungsebene. Zunächst zeigte sich die Hardthöhe irritiert dar-
über, dass in den Planungen zur SFOR eine deutsche Beteiligung auf der Führungsebene nicht vorgesehen war. Die Bundeswehr sollte zunächst nur die Funktion eines
stellvertretenden Kommandeurs der Versorgungstruppen übernehmen, was Rühe
ablehnte.748 Stattdessen forderte das BMVg die einflussreiche Position des Stabschefs im Hauptquartier der SFOR in Bosnien, eine Position, die Deutschland später
von den Bündnispartnern auch zugestanden wurde.749 Darüber hinaus strebte die
deutsche Politik mit ihrem zunehmenden militärischen Bosnien-Engagement nach
einer besseren Vertretung in den Strukturen des NATO-Regionalkommandos
AFSOUTH, das für das Krisenmanagement der Allianz auf dem Balkan zuständig
war.750 Es bestand also ein Zusammenhang zwischen den militärischen Beiträgen der
Bundeswehr und dem Streben nach entsprechenden Positionen in den Führungsstrukturen der NATO.
Das Motiv der Einflussnahme spielte für die gleichberechtigte Teilnahme
Deutschlands an der IFOR bzw. SFOR eine wichtige Rolle, auch wenn die Fragen
nach dem Einfluss Worauf und Einfluss Wie im Außen- und Verteidigungsministerium unterschiedlich beantwortet wurden. Dem Außenminister und seinen Mitarbeitern kam es darauf an, mit Blick auf die Abrüstungsinitiative und andere politische
746 Vgl. FAZ (29.8.1996), Längerer Aufenthalt und neuer Auftrag für die Bundeswehr in
Bosnien. Vgl. auch die Ausführungen bei Kirste, Rollentheorie und Außenpolitikanalyse,
S.444-45.
747 Verteidigungsminister Rühe lehnte es dennoch ab, von einem deutschen Kampfeinsatz zu
sprechen, da sich ein solch „martialischer Ausdruck“ für die Beschreibung der tatsächlichen
Überwachungsmission überhaupt nicht eignen würde. NZZ (24.9.1996), Verstärktes Engagement Bonns für Bosnien.
748 Vgl. FAZ (29.8.1996), Längerer Aufenthalt und neuer Auftrag für die Bundeswehr in
Bosnien.
749 Vgl. FAZ (10.10.1996), Die Bundeswehr soll künftig auch Überwachungsaufgaben übernehmen. Interview des Autors mit General a.D. Klaus Reinhardt am 11.10.2005 in Bonn.
750 Persönliches Interview.
202
Aspekte des Dayton-Prozesses „mehr Macht und Entscheidungseinfluss ausüben zu
können.“751 Diese Form der Einflussnahme wurde nicht vorrangig mit der Besetzung
wichtiger politischer und militärischer Posten im Wiederaufbauprozess verknüpft,
sondern wirkte eher „hinter den Kulissen“. Hinzu kam, dass eine fortdauernde deutsche Sonderrolle in Bosnien die Gefahr einer Entfremdung von den USA und einer
Monopolisierung des französisch-britischen Führungsduos in der europäischen Sicherheitspolitik barg.752 Der militärischen Führung war in erster Linie an einer angemessenen personellen Repräsentanz in der NATO und in den Führungsstrukturen
in Bosnien gelegen. Verteidigungsminister Rühe brachte dieses Ziel mit der Bemerkung auf den Punkt, dass „Entscheidungen […] von politischen Spielern, nicht von
politischen Beobachtern getroffen [werden].“753
5.2.7 Zwischenfazit
5.2.7.1 Gestaltungswille der deutschen Politik
Die deutsche Politik gegenüber dem NATO-Krisenmanagement bis zur Beendigung
des bosnischen Bürgerkrieges 1995 zeichnete sich durch ein abgestuftes Muster des
Gestaltungswillens auf insgesamt niedrigem Niveau aus. Bonn passte sich über
weite Strecken den Entwicklungen und Entscheidungen an, die andernorts getroffen
wurden.754 Unterschiede lassen sich diesbezüglich danach klassifizieren, ob es in der
jeweiligen Entscheidungssituation einen Konsens zwischen den drei großen Bündnispartnern USA, Frankreich und Großbritannien über die Bosnienpolitik gab oder
nicht.
Immer dann nämlich, wenn dies – wie bei den Adria- und AWACS-Einsätzen zu
Beginn des bosnischen Bürgerkriegs, der Operation Deliberate Force sowie der
Implementation Force – der Fall war, passte sich auch die Bundesregierung diesem
Konsens relativ schnell an. In diesen Fällen entschied sich die Bundesregierung
gegen innenpolitische Widerstände für eine Teilnahme der Bundeswehr, dies allerdings auf möglichst niedrigem Niveau. Das galt zunächst auch für friedenserhaltende Maßnahmen, wie die Mandatsbeschränkungen des deutschen IFOR-Beitrags
verdeutlichen. Gleichzeitig unternahm der Verteidigungsminister den Versuch, die
innenpolitischen Beschränkungen des Bundeswehreinsatzes schrittweise zu lockern.
Insofern hatte die passive Anpassung der deutschen Politik auch ein aktives Mo-
751 Kirste, Rollentheorie und Außenpolitikanalyse, S.444-45.
752 Vgl. Franz-Josef Meiers in: FAZ (27.9.1996), Keine deutsche Sonderrolle mehr.
753 Zitiert nach ebd..
754 Der damalige deutsche Botschafter in der NATO sagte während einer öffentlichen Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung am 26.10.2005 in Berlin, er habe bei seinem Amtsantritt im Mai 1993 die allgemeine Weisung aus Bonn erhalten, „mich an allen Diskussionen in Bezug auf das ehemalige Jugoslawien nicht zu beteiligen und mich wenn nötig am
Ende dem Konsens anzuschließen.“
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Seit dem Ende des Kalten Krieges haben alle Bundesregierungen den weiterhin zentralen Stellenwert der Nordatlantischen Vertragsorganisation (NATO) sowie ihren Anspruch bekräftigt, den Transformationsprozess der Allianz aktiv mitzugestalten. Gleichzeitig sah sich die deutsche Sicherheitspolitik dem Vorwurf politischer und wissenschaftlicher Beobachter ausgesetzt, häufig passiv und inkonsequent zu handeln. So gilt Deutschland im Bereich des militärischen Krisenmanagements oder bei der Umsetzung militärischer Verpflichtungen seit langer Zeit als Bremser.
Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Monographie den Gestaltungswillen der deutschen NATO-Politik und die dieser Politik zugrunde liegenden Sicherheits- und Einflussinteressen in den Bereichen der Osterweiterungen, des militärischen Krisenmanagements und des Kampfes gegen den Terrorismus nach dem 11. September 2001. Sie bedient sich dabei eines institutionalistischen Analyserahmens, nach dem mehrere Funktionen von Sicherheitsinstitutionen – allgemeine und spezifische, politische und militärische – unterschieden werden können. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass sich die scheinbaren Widersprüche der deutschen Sicherheitspolitik damit erklären lassen, dass sie stets die politisch-integrativen Funktionen der NATO in den Mittelpunkt stellte.